Ein spirituelles Epos

Zurückgezogen in der kalten Einöde des Himalaya befindet sich der mächtige weiße Lama Gabriel Marpa seit vielen Jahrzehnten in einer tiefen Trance. Nach den schrecklichen Ereignissen, die ihn am Ende zwangen, sich über das Gebot der bedingungslosen Gewaltlosigkeit hinwegzusetzen, will er die Welt nun vergessen, bis sie seine Dienste erneut benötigt. Dieser Zeitpunkt scheint gekommen zu sein, als die Horden des kommunistischen Führers Mao Tse-Tung gierig und erbarmungslos über die überwiegend friedlichen und wehrlosen Tibeter herfallen. Wer wird siegen? Die Kraft des reinen Geistes oder die nackte Gewalt der Invasoren?

Autor und Szenarist Alejandro Jodorowsky ist berühmt und geachtet für die Kompromisslosigkeit seiner Werke. Was den ersten Band des nunmehr zweiten „Weißer Lama“-Zyklus so intensiv macht, sind die auf diese Weise entstehenden, extremen Kontraste. Die Spannung zwischen der bedingungslosen Güte der Buddhisten und den bestialischen Gräueltaten des chinesischen Heeres überspitzt diese extremen Eindrücke ins Unermessliche und positioniert den Leser mitten im Zentrum des spirituellen Epos.

Ob man sich dort allerdings wohlfühlt, hängt maßgeblich davon ab, ob man sich auf diesen psychedelischen, von selbst im gemütlichen Lesesessel schmerzhaft nachvollziehbaren Exzessen unterbrochenen Trip einlassen kann und will. Jodorowsky lässt die Grenzen zwischen brillanter Kunst und denkwürdiger Grenzübertretung regelmäßig verschwimmen und verlangt seinen Lesern dabei viel ab. Wer sich auf das beginnende, neue Abenteuer von Gabriel Marpa und seinen geistigen Gefährten einlässt, wird allerdings mit einem ausdrucksstarken, ganz besonderen Comic-Band belohnt, der es auf jeder Ebene versteht zu verzaubern und zu schockieren.

Ein großer Glücksfall ist es, dass der Autor sein Werk erneut von Künstler Georges Bess in Szene setzen lässt, dessen Bilder tatsächlich die anspruchsvolle Aufgabe meistern, das große Spektrum aus mystischer Fantasy, dramatischen Momenten und erstaunlicherweise nie deplatziert wirkendem, drolligem Humor wiederzugeben. „Das Rad der Zeit“ ist Kunst, die ihren Betrachter in jedem Fall berühren wird. Auf welche Weise und wie tief, bleibt dabei jedem selbst überlassen.

Alejandro Jodorowsky, Georges Bess: Der weiße Lama – 2. Zyklus, Bd.1 – Das Rad der Zeit. Splitter, Bielefeld 2016. 56 Seiten, € 14,80