D’ORSAY VARIATIONEN – Aufruhr im Atelier

fior-orsay-cvrVom Bahnhof zum Kunsttempel: durch das Musée d’Orsay, 1980 aus dem zur Weltausstellung 1900 erbauten Verkehrsknotenpunkt Gare d’Orsay entstanden, flanieren die Besuchermassen und bewundern, bewaffnet mit ihren Audioguides, die Exponate aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Nicht zuletzt sind das Gemälde der Impressionisten und frühen Surrealisten wie etwa „Die Schlangenbeschwörerin“ von Henri Rousseau, vor dem eine Museumswärterin leicht gelangweilt ihren Dienst tut. Als die Dame kurz eindöst, nimmt sie ihre offenkundig doch von den Bildern angeregte Phantasie mit auf eine Reise zurück zu den Schöpfern dieser Kunst und deren durchaus bewegter Geschichte: der gerade einmal 21jährige Edgar Degas besucht sein großes Idol Jean-Auguste-Dominique Ingres, um sich von ihm Rat für sein neues Projekt, ein Gemälde der legendären Königin Semiramis, zu holen.

Ingres empfiehlt dem jungen Kollegen, möglichst viele Striche zu verwenden und definiert so den charakteristischen Stil des später gefeierten Degas maßgeblich, bevor er sich an die Fertigstellung seines eigenen neuesten Werks „Die Quelle“ macht. Gleichzeitig fühlt sich Degas ermutigt, mit einer bunt gewürfelten und ihm teilweise verhassten Truppe von modernen Malern – darunter Renoir, Cézanne und Monet – im Atelier des Fotografen Nadar eine Ausstellung unter dem Motto „Die Unbeugsamen“ zu arrangieren. Dort treffen die impressionistischen Kunstwerke fast ausnahmslos auf verständnislose Ablehnung der sich mokierenden Zeitgenossen, und es kommt sogar zu Handgreiflichkeiten…

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Manuel Fior beweist mit seinen Variationen auf die impressionistische Kunst erneut sein feines Gespür für die Geistesgeschichte der Jahrhundertwende, die er schon in seiner meisterhaften Adaption von Arthur Schnitzlers stilprägender Novelle „Fräulein Else“ (deutsch bei Avant; Neuausgabe im Frühjahr) mit berückender Wirkung einsetzte. In dem eher assoziativen Handlungsgerüst zerfließen hier die Zeitebenen, die Museumsangestellte sieht sich zunehmend als Teil der epochemachenden Gemälde und firmiert selbst als Schlangenbeschwörerin, während sich in schlaglichthaften Szenen der Kampf der frühen Impressionisten um Anerkennung ebenso spiegelt wie der revolutionäre Geist der Bewegung, eben nicht mehr realistisch-romantisch die Welt zu zeigen, sondern die Gefühle, die das Gesehene im Betrachter auslöst, was über den Impressionismus und Symbolismus letztlich zum Expressionismus führte.

Das spätere Schicksal der Künstler (Paul Gauguins schmerzgeplagte Existenz und Tod in Französisch-Polynesien, Edgar Degas‘ Vereinsamung und weitgehende Erblindung) klingt dabei ebenso an wie ihre spätere Berühmtheit als Wegbereiter der Moderne. In einem fast schon anarchistischen Akt holen sich die Kunstobjekte am Ende des Traums ihre Existenz zurück, bevor sich am Ende des Besuchertages wieder stille Bewunderung einstellt. Diesen Reigen inszeniert Fior mit der von ihm gewohnten Meisterschaft, in feinem Strich orientiert er sich an der dargestellten Epoche und integriert zahlreiche Kunstwerke (darunter eben „Die Schlangenbeschwörerin“ und „Die Quelle“, aber auch Paul Gauguins „Selbstbildnis mit gelbem Christus“ und Paul Cézannes „Eine moderne Olympia“, die während der Ausstellung im Atelier zum Stein des Anstoßes wird), wobei die Gemälde stets in den Erzählfluss integriert sind anstelle nur bloße Zitate abgeben zu müssen. Eine Liebeserklärung an die Kunst und eine ihrer formativsten Epochen, die im titelgebenden Museum eine kongeniale Heimat gefunden hat.

Manuele Fior: d`Orsay-Variationen. Avant-Verlag, Berlin 2016. 72 Seiten, € 19,95