Märchen mit vielen Cameos – „Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson“

Wir schreiben das Jahr 1887. Modernste Dampfschiffe fahren über den Hudson River und transportieren Passagiere und Güter zu ihren Bestimmungsorten. Einer dieser Raddampfer ist die sich in französischem Besitz befindende „Lorelei“, die von Kapitän Elijah Twain gesteuert wird. Eines Tages verschwindet Jacques-Henri de Lafayette, der Eigner dieses Schiffs und des kleinen Ausflugsschiffs „Melusine“, spurlos, und sein aus Frankreich geflüchteter Bruder Dieudonné übernimmt das Ruder. Der Franzose erfüllt das damals und auch heute noch gültige Klischee des Schürzenjägers, der ein lebenslustige Mann ist und jedem Rock hinterher läuft. Nach dem Verschwinden seines Bruders verändert sich Dieudonné jedoch. Auch wenn er dem weiblichen Geschlecht nicht abtrünnig wird, versucht er dennoch fieberhaft seinen Bruder zu finden und kümmert sich gewissenhaft um die familieneigene Dampflinie. Allerdings ist es Kapitän Twain, der dem Geheimnis um den verschwundenen Jaques-Henri unfreiwillig auf die Schliche kommt, als er eine verletzte Meerjungfrau aus dem Hudson fischt und sie gesundpflegt. Sein Leben verändert sich schlagartig und er gerät zunehmend in den Bann des weiblichen Fabelwesens. Dabei vernachlässigt er nicht nur seine kranke Ehefrau, sondern auch seine Pflichten als Kapitän. Kann die betörende Nixe wirklich böse sein und Männer ins Verderben stürzen, oder ist sie in Wahrheit ein Engel des Meeres?

Mark Siegels Comicroman „Sailor Twain“ wurde zuerst zwischen 2010 und 2012 als Webcomic veröffentlicht, bevor die Geschichte in gedruckter Form erschien. Auf Deutsch fand die Erzählung schließlich ein Zuhause bei Egmont Graphic Novel. Die Ereignisse aus dem Jahr 1887 werden von Kapitän Twain in Rückblenden erzählt. Hierbei zeigt der 1967 geborene Amerikaner Siegel ein Gespür für das Spiel mit der Historie, indem er reale Fakten mit erfundenen Begebenheiten und echten Zeitungsberichten mischt. Es passt ins Bild, dass das Schiff den Namen des bekannten deutschen Felsen trägt, dessen Nixe genauso vielen Seefahrern den Kopf verdreht hat wie die Meerjungfrau aus dem Hudson River. Auch die Cameo-Auftritte von Schriftstellern wie Joseph Conrad, Virginia Woolf, Stephen King und John Irving, also von Berühmtheiten, von denen sich einige Ende des 19. Jahrhunderts sicherlich nicht an Bord des Schiffes befunden haben, passen wunderbar in die von Siegel erschaffene Szenerie. Die verträumt wirkenden Kohlezeichnungen verstärken zusätzlich den Eindruck, dass „Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson“ ein Paradebeispiel dafür ist, wie aus einem neuen Märchen ein zeitloser Klassiker werden kann.

Mark Siegel (Text und Zeichnungen): Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson. Aus dem Englischen von Volker Zimmermann. Egmont Graphic Novel, Köln 2013. 400 Seiten. 24,99 Euro