„Er ist wie ein Fleisch gewordener Eiffelturm“

Als Comicjournalist würde sich Mathieu Sapin nicht bezeichnen. Trotzdem hat er in Frankreich schon mehrere Comicreportagen veröffentlicht, u. a. über die Tageszeitung Libération und den ehemaligen Präsidenten François Hollande. Und er hat fünf Jahre als Comicbiograf in der Gesellschaft von Gérard Depardieu verbracht. Unter dem Titel „Gérard: Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“ ist das Buch jüngst in deutscher Übersetzung bei Reprodukt erschienen. Am 15. März wird Sapin sein Werk im Kesselhaus in Berlin vorstellen, am 16. und 17. März außerdem auf der Leipziger Buchmesse. Wir präsentieren exklusiv das Presseinterview mit Mathieu Sapin.

Foto © Rita Scaglia

Comic.de: „Gérard“ ist dein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint. Wie kamst du dazu Comiczeichner zu werden? Wann und wie hast Du deine Leidenschaft für dieses Medium entdeckt?
Mathieu Sapin: Ich habe schon immer Comics gemacht – schon als Kind. Zum Beispiel habe ich leidenschaftlich gern „Die Schlümpfe“ nachgezeichnet oder auch andere Comics. Später habe ich an der École supérieure des Arts décoratifs ein Kunststudium absolviert. Dort erlernt man den Beruf des Illustrators und zeichnet auch Comics. Anschließend habe ich in Angoulême zwei Jahre im Musée de la bande dessinée gearbeitet. Ich hielt Zeichenworkshops für Schulklassen. Zu dieser Zeit begann ich, an meinen ersten eigenen Comics zu arbeiten – zunächst als Szenarist, dann als Zeichner. Ich habe viele Zeitungsstrips gemacht und nach und nach auch ganze Alben. Ich hatte das Glück, mit Joann Sfar, Riad Sattouf und Christophe Blain zusammenzuarbeiten. Dank ihnen habe ich begonnen, mich wirklich ernsthaft und ausschließlich dem Comic zu widmen.

An einigen Projekten arbeitest du solo, andere entstehen in Zusammenarbeit mit Szenaristen wie Lewis Trondheim. Was sind die Vor- und Nachteile dieser Arbeitsweisen? Welche bevorzugst du?
Ich langweile mich nicht gerne und mache deshalb ungern Dinge, die ich schon mal getan habe. Doch ich liebe neue Abenteuer und Begegnungen. Wenn mir also talentierte Autoren eine Zusammenarbeit vorschlagen, sage ich ja. Ich habe immer Lust, neue Dinge auszuprobieren, arbeite aber auch sehr gern mal allein. Ich verändere mich einfach gern, ich mag die Abwechslung und ich bin sehr von Joann Sfar beeinflusst worden, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe. Er hat so eine Arbeitsweise… er macht alles, bedient alle Genres. Alles interessiert ihn, er ist sehr neugierig und arbeitshungrig. Ich denke, das hat meine Arbeit stark beeinflusst. Ich widme mich selten ausschließlich einem einzigen Projekt. Ich mache immer mehrere Dinge gleichzeitig: einen Jugendcomic wie zum Beispiel „Akissi“, einen Reportagecomic wie „Gérard“, gleichzeitig schreibe ich an einem Drehbuch und mache Cartoons.

Mathieu Sapin (Text und Zeichnungen): „Gérard: Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“.
Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Reprodukt, Berlin 2018. 160 Seiten. 24 Euro

Sowohl „Gérard“ als auch dein vorheriges Comicprojekt „Le Chateau“, in dem es um die Wahlkampagne von François Hollande geht, sind dokumentarische Projekte. Wie stehst du zu diesem Genre? Würdest du dich eher als Journalist oder als Biograf bezeichnen?
Ich weiß nicht genau, als was ich mich bezeichnen sollte, aber ich habe eher zufällig angefangen Reportagecomics zu machen. Lewis Trondheim hatte mir damals – das war 2009 – vorgeschlagen einen Comic über die Dreharbeiten zu einem Film von Joann Sfar zu machen. Der Film heißt „Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte“. Es war spannend, bei der Umsetzung zuzuschauen: die Spezialeffekte und Marionetten, die vielen Schauspieler, Kostüme und Objekte der dargestellten Zeit. Ich habe den gesamten Dreh mitverfolgt und auch die darauffolgende Arbeit am Film. Danach habe ich diesen Comic über die Entstehung des Films gemacht. Das hat sehr viel Spaß gemacht. Die Arbeitsweise war neu für mich und ich hatte nach dieser Erfahrung Lust, nochmals so zu arbeiten. Ich habe mich neuen Themen zugewandt, aber die Herangehensweise des Beobachters beibehalten. So entstand ein Buch über die französische Tageszeitung Libération. Ich habe sechs Monate lang den Arbeitsalltag der Zeitungsredaktion beobachtet. Anschließend hat mich die Libération dazu gebracht, mich der französischen Politik zuzuwenden, und so begann ich den Wahlkampf 2012 zu verfolgen – insbesondere das Wahlkampfteam von François Hollande. Als er die Wahl dann gewonnen hatte, habe ich ihn weiter begleitet und von dem Leben im Elysée-Palast erzählt. Das Ganze war also nicht geplant. Es waren zufällige Begegnungen, die mich hierhin gebracht haben. Die Frage, ob ich Journalist oder Biograf bin, kann ich nicht beantworten. Es gibt einen journalistischen Ansatz, aber auch Subjektivität, viel Humor. Es ist eine Mischung.

Du bist Gérard Depardieu zum ersten Mal 2012 im Rahmen der Dreharbeiten für die ARTE-Doku „Retour Au Caucase“ begegnet. Kannst du deine erste Begegnung mit Gérard Depardieu beschreiben?
Die Arbeit an diesem Dokumentarfilm wurde mir sehr kurzfristig angeboten. Er sollte in Aserbaidschan gedreht werden und ich wurde erst drei Wochen vorher kontaktiert. Bevor ich jedoch nach Aserbaidschan aufbrechen konnte, musste ich Gérard Depardieu treffen, um sicher zu sein, dass ich den ‚Test’ bestehe. Er ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, jemand der sehr nett sein kann, aber auch sehr Respekt einflößend. Ich habe mir gesagt, dass ich nichts zu verlieren habe und dass es nicht schlimm wäre, wenn es nicht gut laufen sollte. Also ging ich ohne vorgefasste Meinung zu ihm und es lief gut. Gérard ist jemand, der die Kunst und die Kultur liebt, und er war sehr neugierig zu sehen, wie ich beim Zeichnen vorging. Ich hatte immer ein Skizzenbuch dabei. Ich zeichne in Skizzenbücher. Und er hat sich sehr dafür interessiert. Als wir dann mit der Dokumentation einige Tage später angefangen haben – wir begannen in Baku in Aserbaidschan – kamen wir sofort miteinander ins Gespräch und das war sehr natürlich, als würden wir uns schon seit langer Zeit kennen.

Wann wurde dir klar, dass Gérard Depardieu ein geeigneter Protagonist für dein nächstes Comicprojekt wäre?
Unser erstes Treffen fand bei ihm Zuhause statt. Er wohnt in Paris in einem sagenhaften Palast, wirklich sagenhaft. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Es ist Xanadu. Das Xanadu aus „Citizen Kane“, eine Art Miniatur-Xanadu. Aber es ist ein Palast, eine Ali-Baba-Schatzkammer mit ganz vielen Kunstwerken, Zeugnissen seines Lebens. Sie sind nicht exponiert, sondern stehen einfach da und er mittendrin. Dieses Bild hat sich mir sofort eingeprägt. In Aserbaidschan haben wir zehn Tage lang das ganze Land bereist. Wir haben alle möglichen Transportmittel benutzt, sind mit dem Hubschrauber geflogen, mit einem Jeep gefahren, mit einem Motorradgespann etc. Sehr schnell habe ich mir gedacht, dass ich das unbedingt erzählen muss. Ich hatte noch nie eine so beeindruckende Persönlichkeit kennengelernt. Das Thema hat sich mir aufgezwungen. Doch als ich ihm das erste Mal von meinem Comicprojekt erzählte, war er überhaupt nicht interessiert, weil er sich nicht vorstellen konnte wie ein Comic über ihn aussehen könnte. Er dachte, dass es viel mehr in Richtung Karikatur gehen würde.

Das Material für „Gérard“ ist in einem Zeitraum von fünf Jahren entstanden. Wie viel Zeit hast du in diesen fünf Jahren gemeinsam mit Depardieu verbracht und war es schwierig, diese Begegnungen mit ihm zu organisieren?
Ja, das war schwierig, denn Gérard ist ein sehr instinktgesteuerter Mensch, der von einem Tag auf den anderen beschließen kann zu verreisen, in die Wüste, die Sahara oder nach Japan zu gehen. Er hat zwar auch ein festes Programm, Dinge, die er plant, aber er folgt häufig seinen Launen. Für mich war es dadurch manchmal schwierig, mich zu organisieren. Bei der Arbeit an meinem Comic über den Élysée-Palast war das anders. Es war schwierig Zutritt zu bekommen, aber sobald ich die Genehmigung hatte, gab es für jede Woche und jede Stunde einen festen Terminplan. Man wusste immer, wann was stattfand. Das ist einfach, es genügt in den Terminkalender zu schauen. Mit Gérard ist alles Freestyle. Es ist schwierig am Ball zu bleiben. Wie oft ich ihn sah, war unterschiedlich. Manchmal einmal im Monat, dann verreiste ich mit ihm mehrere Tage und manchmal sah ich ihn drei Monate lang gar nicht, aber ich sah ihn kontinuierlich über fünf Jahre hinweg.

Du beschreibst Depardieu als unheimlich guten Beobachter. Ihm scheint nichts zu entgehen – selbst wenn eine Situation und er selbst chaotisch und unübersichtlich sind. Hat dich diese Seite an ihm besonders fasziniert? Du selbst hast ja auch ein Auge fürs Detail, wie man an deinen Zeichnungen erkennen kann…
Ja, er sieht einfach alles. Ich denke, das rührt von seiner Schauspielausbildung her. Denn wenn man Schauspieler ist, wird man angeschaut, aber man schaut auch viel die anderen an. Man kann sich überall etwas abgucken. Ihm entgeht nichts. Das habe ich schnell begriffen und ich wusste, dass man bei ihm nicht schummeln kann. Man muss aufrichtig und natürlich sein, ansonsten interessiert er sich nicht für dich. Er ist niemand, der Konversation führt, um sich die Zeit zu vertreiben. Er mag echte, aufrichtige Beziehungen. Er hat ein erstaunliches Gedächtnis und eine Beobachtungsgabe und erinnert sich immer an Leute, denen er bereits begegnet ist. Er hat einen beeindruckenden Speicher für Erlebtes und ist dennoch nicht nur auf Vergangenes gerichtet – eher der Zukunft zugewandt.

Gérard Depardieu, wie du ihn in deinem Buch beschreibst, ist eine sehr ambivalente und auch widersprüchliche Persönlichkeit. War es schwierig ihn in all seinen Facetten zu portraitieren?
Ja, das kann sehr verunsichernd sein. Aber ich hatte begriffen, dass die beste Taktik mit ihm klarzukommen ist, aufrichtig und natürlich zu sein. Es ist auch möglich, mal nicht einer Meinung mit ihm zu sein. Er liebt den Widerspruch. Ich würde ihn nicht als ‚gewalttätig’ bezeichnen. Für mich ist er eher ‚aufbrausend’. Da gibt es einen Unterschied. Er ist ein leidenschaftlicher Mensch, der in der Tat aus heiterem Himmel herumschreien oder sich aufregen kann. Gérard und ich sind wirklich sehr verschiedene Menschen. Ich bleibe lieber im Hintergrund, bin eher unauffällig. Dennoch hatten wir ein gutes Verhältnis zueinander.

Im Buch gibt es eine Szene, in der ein geplantes Animationsprojekt über Depardieu platzt, weil sein negatives Image es zu schwierig machen würde, einen französischen Vertrieb für den Film zu finden. Hast du je befürchtet, dass Depardieus öffentliche Skandale und sein kontroverser Ruf dem Erfolg des Buches im Weg stehen könnten?
Ich finde es eher interessant von jemandem zu erzählen, der nicht glatt ist, der nicht allein eine schillernde Persönlichkeit ist, nicht nur positiv ist. Und für mich ist es wirklich ein Pluspunkt, dass er sich selbst nicht schont. Ihm ist es selbst egal, ob er nach außen ein positives Bild abgibt. Es gibt Menschen, die versuchen, etwas zu verbergen und versuchen sich immer als perfekt darzustellen. Bei ihm hingegen ist es fast schon das Gegenteil. Er neigt zur Übertreibung, wirklich hart zu sich zu sein, sich manchmal sogar besonders negativ darzustellen. Die Schwierigkeit war eher, dem in meinem Porträt gerecht zu werden, weshalb ich mir viel Zeit genommen habe, um alle Aspekte seiner Persönlichkeit zu zeigen. Vielleicht nicht ganz alle. Ich möchte nicht behaupten ein ausnahmslos vollständiges Porträt von ihm gemacht zu haben, aber auf jeden Fall zeige ich verschiedenste Facetten von ihm auf – auch die widersprüchlichen.

Foto © Arnaud Frilley

In deinem Buch sagst du, dass Depardieu die berühmteste lebendige französische Persönlichkeit der Welt ist. Welche Bedeutung hat Gérard Depardieu für Frankreich und die französische Kultur?
Interessant ist auch, dass es einen Konflikt mit Frankreich und dem Bild, das er von Frankreich repräsentiert, gibt. Während des Zeitraums, in dem ich ihn begleitet habe, gab es eine öffentliche Debatte um ihn. Er verließ Frankreich. Es gab einen Moment lang ein sehr negatives Bild von ihm. Gleichzeitig repräsentiert er im Ausland den Franzosen par excellence. Außerdem hat er so einen französischen Namen und verkörpert Werte oder zumindest Aspekte, die man den Franzosen zuschreibt: den Sinn für gutes Essen zum Beispiel. Der Gallier schlechthin. Das fand ich sehr interessant. Einerseits transportiert er dieses sehr französische Bild, andererseits bricht er mit Frankreich. Die These meines Buches ist, dass dieser Bruch auf einem Missverständnis basiert. Ich denke, dass die Franzosen ihn mögen, und ich denke auch, dass er Frankreich mag. Aber gibt ein gewisses Missverständnis, das vor allem wegen eines Interviews mit dem damaligen französischen Premierminister Jean-Marc Ayrault zustande kam, der gesagt hat, dass Depardieu erbärmlich sei. Danach ist das Ganze ausgeartet. In Frankreich hat das zu einer leidenschaftlichen Debatte geführt. Paris Match hat die Affäre mehrmals zum Titelthema gemacht. Es war wirklich ein nationales Drama, als wäre es eine Staatsangelegenheit. Auf jeden Fall hatte es eine politische Dimension, obwohl er eine Persönlichkeit des kulturellen Lebens ist. Normalerweise sollte so was nicht so viel Raum einnehmen. Für mich hieß das, dass Gérard Depardieu einen symbolischen Wert hat. Er ist wie ein Fleisch gewordener Eiffelturm. Ich fand es interessant, von diesem paradoxen Verhältnis zu erzählen. Komischerweise sind, seitdem mein Buch erschienen ist, viele Leute zu mir gekommen und haben mir gesagt, dass es ihre Sichtweise auf Gérard Depardieu verändert hat. „Vorher mochte ich ihn nicht, dann habe ich Ihren Comic gelesen und nun verstehe ich die Dinge besser. Nun mag ich ihn.“ „Wow!“, habe ich mir darauf gedacht. „Das macht mir fast schon Angst. Es gibt mir eine Verantwortung, die ich mir nie vorgestellt hatte zu haben.“

Du bist nicht nur Comiczeichner, sondern arbeitest auch als Regisseur. 2018 kommt die Komödie „Le Poulain“ heraus. Kannst du uns etwas über diesen Bereich deiner Arbeit erzählen?
Das war ein langer Prozess. Zunächst habe ich die Dreharbeiten von Joann Sfar beobachtet und gesehen wie ein Film gedreht wird. 2013 habe ich dann mit einem Produzenten zusammengearbeitet, um einen 20-minütigen Kurzfilm zu drehen, der „Vengeance et terre battue“ heißt. Es ist eine Komödie. Mir hat diese erste Regieerfahrung sehr viel Spaß gemacht. Nach meinem Comic über den Wahlkampf hat mir eine andere Produktionsfirma angeboten, ein Drehbuch für einen Film zu schreiben. Es ist eine französische Politiksatire, die letzten September gedreht wurde. Momentan sind wir noch in der Postproduktion. Der Film wird nächsten September in die Kinos kommen. Es ist eine sehr aufregende Arbeit. Filme zu machen ist gleichzeitig sehr anders als meine Arbeit an Comics, es gibt aber auch Schnittstellen. Der kreative und visuelle Aspekt zum Beispiel. Der Comic bleibt für mich ein sehr angenehmes Medium. Filme zu machen ist zwar toll, aber es ist eine Menge Arbeit und vor allem arbeitet man in einem großen Team. Bei Comics dagegen ist man frei. Das hat eine gewisse Leichtigkeit. Es gefällt mir, dass ich beides machen kann.

Vielen Dank für das Gespräch.