Schweben und schweben lassen (und ein Fläschchen Zeit) – „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“

Bild © 20th Century Fox

Dieser Film bietet viel (manches davon durchaus wert, es anzunehmen). Zumal tut er das per Fusion zweier Zeitebenen der X-Men-Saga. Unter dem Titel „X-Men: Days of Future Past“ bzw. „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“ scheint die Zeit zunächst als großes Füllhorn zu fungieren, aus dem es Goodies regnet. Zwei Zeiten heißen dieser Logik zufolge eben zunächst: doppelt so viele Figuren!

Es treten also auf: ein zwergwüchsiger Mutantenhasser und Kampfroboterentwickler, des Weiteren das junge Ich jenes experimentierfreudigen Offiziers, der Wolverine sein Stahlskelett-Trauma verpasst hat bzw. haben wird, sowie der historische US-Präsident mit dem Franchise-adäquatem Schurkenstatus, Pfrnak im Gesicht und X im Namen – Nixon heißt er – im military-industrial-complex-Plot, der anno 1973 spielt (und zwar zunächst in Paris, bei den Verhandlungen, die das US-Engagement in Vietnam beenden).

Dann sind superheroische AkteurInnen im Spiel, die seit dem Abschluss der linear ablaufenden X-Men-Trilogie anno 2006 nicht mehr mit dabei waren, so etwa Halle Berry als Storm oder Anna Paquin als Rogue; ihr Ort ist ein düsteres, irgendwie billig dekoriert wirkendes Tempelgelände in China, wo der Zeitreise-Plot seinen Ausgang nimmt und der eine, weitaus schwächere Strang der ineinander montierten Showdowns stattfindet.

Relevanter allerdings ist das Auftreten von Regulars in Doppelbesetzung: Ian McKellen und Michael Fassbender als alter und junger Magneto, Patrick Stewart und James McAvoy als Professor Xavier im Zwiegespräch mit sich (und mit Stoppel- bzw. Vollbart). Überhaupt zählt in diesem Film die Kampfkunst der Überredung viel; und da zeigt sich vielleicht am deutlichsten, was es wert ist, dass hier mit Bryan Singer derjenige Regisseur tätig ist, der anno 2000 das X-Men-Kinofilm-Franchise begonnen hat (und der 2003 mit „X-2“ den vermutlich besten Film der Reihe vorgelegt hat; den besten neben „X-Men First Class“, mit dem 2011, in der Regie von Matt Vaughn, die zur Zeit der Kubakrise 1962 jungen Xavier, Mystique und Magneto eingeführt und die schmerzlichen Themen einer Herkunft aus dem Holocaust fortgeführt worden waren).

Singer brilliert in seiner dritten X-Men-Inszenierung weniger als Actionregisseur – das hat er eher bei den schwindelerregenden Fallhöhenspielen im Vorjahrs-Fantasyfilm „Jack the Giant Slayer“ getan – denn als einer, der auch an ausufernden Rededuellen noch deren handlungs- und selbstverhältnisethischen Gehalt herauszustellen vermag. (An diesem Punkt werden auch Kontinua mit älteren Singer-Filmen deutlich: Was sind „The Usual Suspects“ und vor allem der ins Mutantisch-Versehrte gequeerte Stauffenberg-Film „Valkyrie – Operation Walküre“ anderes als Dramen, in denen versucht wird, jemanden, zum Teil auch mittels eindrucksvoller Fingierungen, zu überreden?)

Alles läuft auf prekäre und riskante Konstruktionen und auf die Notwendigkeit zu, diese auszuhalten, einzuhalten, aufrecht zu erhalten – eben gerade in ihrer Unsicherheit, die Voraussetzung dafür ist, dass die Konstruktion nicht kollabiert: Ein Kollaps würde entweder durch Selbstzerstörung erfolgen (Xaviers zeitweise Verlotterung und Haartrachtverzottelung als Alkoholiker und Schmerzmittel-Junkie) oder, wahrscheinlicher, durch die Errichtung lückenlos fester Sozialgebäude, was die Verfolgung und Zerstörung der jeweils Störenden voraussetzt.

Kollaps durch Selbstzerstörung?
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Im X-Men-Jargon heißt das: Vertraue der Bereitschaft der anderen, dir zu vertrauen (auch wenn beides unsicher ist)! Akzeptiere Schmerz- und Schwebezustände anstelle totaler Sicherheit und Integrität. Neben dem mittlerweile zum Hollywood-Standard gewordenen Imperativ, sich dem eigenen Trauma zu stellen, gewinnt solches Ethos hier doch einige spannende Facetten, etwa anhand der X-Men-typischen Variationen auf Coming out-Themen, anhand Xaviers Entscheidung, seine menschlich gesunden Beine für sein mutantisches Netzwerkgehirn zu opfern, generell anhand der komplizierten Franktionierungen und kurzzeitig gegen gemeinsamen Außenfeinde konstellierten Bündnisse und sonstigen Zweck-Setzungen; da reißt es vor allem Mystique, vormals Raven, ziemlich herum. Jennifer Lawrence spielt diese Figur – 2000 bis 2006 von Rebecca Romijn als süffisanter blaubusiger Vamp angelegt – als veritable Leidensikone. (Na ja, und Logan vulgo Wolverine, die überschätzteste und per Spinoffs im Kino am häufigsten präsente Figur der ganzen Saga, kommt auch viel vor, muss ja.)

Zeit ist hier also auch Spaltung, immer neue Zerteilung der Figuren in ihren Beziehungen zu sich und zueinander. Zeit ist aber auch, was rasch vergeht und dadurch Begehren in uns weckt – sei es als den Wunsch, Momente mögen länger dauern (was ja bedeutet, dass sie grade kurz genug sind), oder als Pop- und Stil-Nostalgie. Anders gesagt: Die regelrechte Botschaft, dass es gut ist, sich im Vorläufigen und Unreinen (im Mit-Sein mit nie restlos kalkulierbaren Anderen) aufzuhalten, und falsch, aufs Totale und Erfüllte zu zielen, die gilt auch für den Film selbst: „X-Men: Days of Future Past“ macht recht gute Figur in episodisch kurzen Einzelszenen (etwa wenn Magneto mit Schlapphut ins Pentagon geht, um sich seinen hinter Panzerglas gelagerten geliebten Helm und Körperpanzer zu holen) und in witzigen Detailmomenten – so etwa in der Auffächerung des Geschehens durch Wahrnehmungsapparate, die mit dead media-Retro-Gusto ausgestellt werden: Super8-Amateurkamera-Bilder; skulpturale TV-Monitor-Wände; ein Videorecorder, der alle drei (!) bundesweiten Fernsehprogramme gleichzeitig aufzeichnen kann; ein mit Schmalfilm-Screen ausgestatteter Proto-Laptop; eine Telefonzelle, Vorläuferin des cell phone.

Unförmig, banal und schlicht hässlich ist der Film hingegen im Ganzen und dort, wo er voll aufdreht: in den Holocaust-Analogien der vom Krieg gegen Kampfroboter verdüsterten Zukunfts-Rahmenhandlung (wie aus einem „Terminator“-Ripoff), in den Action-Kloppereien (-Dögeleien, sagt die Ösi), in den animierten Fahrten ins Innere genetischer und robotischer Körper, überhaupt bei den straighten Rein-Raus-Quasi-Kamerabewegungen, sowie im triumphalen Gestus, die Zeit als große Offenheit (Vergangenheit als unbekannte neue Welt) und zugleich als das, was alle Wunden heilt, erscheinen zu lassen: Eh kriegt er sein Mädel am Ende halb wieder, der Wolverine, und rote Haare hat sie diesmal, und ihr eifersüchtiger Gemahl ist auch gleich mit Argusaugen dabei…

Wie gesagt: Nicht im Straighten und im Heilen findet dieser Film sein Glück, sondern in Schwebezuständen. Und die werden auch im physischen Sinn anschaulich: etwa wenn Magneto aufsteigt, um sogleich ein ganzes, gänzlich leeres Stahlbeton-Sportstadion vom Boden loszureißen und mit hoch zu nehmen (das dann, als Paraphrase auf den Ring des Pentagon und die im Film ausgiebig bildwirksame Frühsiebziger-Brutalismus-Architektur, als ringförmige Abschottung des Weißen Hauses dienen wird); oder wenn – und auch hierin hallt die irre White House-Szene vom Beginn von „X-2“ ebenso nach wie die in suspense hochgehobenen Kalter-Kriegs-Flotten oder die Hakenkreuzmünze im Zeitlupenflug in „X-Men: First Class“ – ein junger mutierter Pink Floyd-Fan mit etwas anachronistischer Varsity-Jacke und der Fähigkeit, Sekundenbruchteile zu seiner endlosen Zeit-Spielwiese auszudehnen, einen eingefrorenen Moment lang durch einen Raum im Pentagon saust und schwebt und die fast reglosen Menschlein und endlos dahinfliegenden Revolverkugeln neu arrangiert, während dazu Jim Croces zarte Ballade „If I Had Time in a Bottle“ erklingt.

Dieser Text erschien zuerst auf: filmgazette.de

X-Men: Zukunft ist Vergangenheit
(X-Men: Days of Future Past)
USA 2014 – 132 min.

Regie: Bryan Singer – Drehbuch: Simon Kinberg, Bryan Singer, Matthew Vaughn – Produktion: Richard Donner, Simon Kinberg, Lauren Shuler Donner, Bryan Singer, Matthew Vaughn – Kamera: Newton Thomas Sigel – Schnitt: John Ottman – Musik: John Ottman – Verleih: 20th Century Fox – FSK: ab 12 Jahren – Besetzung: Jennifer Lawrence, Nicholas Hoult, Hugh Jackman, Anna Paquin, Ellen Page, Peter Dinklage, Michael Fassbender, Halle Berry, James McAvoy, James Marsden, Evan Peters, Ian McKellen, Patrick Stewart, Booboo Stewart, Shawn Ashmore
Kinostart (D): 22.05.2014

Drehli Robnik, geb. 1967, Theoretiker in Sachen Film und Politik, Edutainer, Kritiker, Disk-Jockey. Doktorat Universität Amsterdam (2007). Universitäre Lehrtätigkeit in A, D, CZ, FL 1992-2015. Monografien zu Stauffenberg im Film, zu Jacques Rancière und zur Regierungs-Inszenierung im Kontrollhorrorkino. Herausgeber der Film-Schriften von Siegfried Mattl. In Arbeit: DemoKRACy: Siegfried Kracauers Politik[Film]Theorie.