Von der Identität zur Relativitätstheorie – „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester“

Satte Farben, eine schier endlose Landschaft und riesengroße Dinosaurier – so erinnert sich Julia Hoße an einen Familienausflug mit ihrer Schwester und den Eltern in einen Saurierpark. Die Erinnerung kam Julia Hoße, als sie zahllose Familienvideos aus den Jahren 1990 bis heute gesichtet hat – mehr als ein Terabyte gespeicherte Informationen hatte sie da vor sich. Das seltsame war nur, dass die Informationen von den Videos nicht unbedingt zu ihren Erinnerungen passten.

„Erst habe ich mich gefreut – daran kann ich mich noch erinnern. Und dann fand ich das einfach so merkwürdig, dass diese Dinosaurier, die da rumstanden, dass das einfach nur so dämliche Plastikfiguren waren, die Landschaft komplett verdorrt und da niemand sonst war – also plötzlich eine Einordnung stattfindet, was das für ein Ort ist, dass der wahrscheinlich nicht mehr existieren würde.“

Julia Hoße (Text und Zeichnungen): „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester“.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2018. 176 Seiten. 26 Euro

Julia Hoße zeichnet die Bilder aus dem Video mit gestochen scharfen Bleistiftzeichnungen nach und versieht die nur spärlich mit Farbe. In ihren Erinnerungsbildern ufert dagegen alles aus: die satten Farben, die Größe der Saurier, die Landschaft. Das ist das erste Kapitel der Graphic Novel „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester".

„Interessanterweise hat das überhaupt nicht rational angefangen, das Projekt, ich habe halt mit dieser Videozeichnung angefangen und habe noch andere Sachen gemacht und wusste auch gar nicht, was ich damit wollte.“

Da sind die Kindheitserinnerungen der Mutter, die beim Baden einen Frosch in eine Sandburg eingegraben hatte, der dann schließlich von der Großmutter gerettet wurde. Die Comiczeichnerin hatte sie falsch abgespeichert und erinnert sich nur an die grausamen Teile der Geschichte. Oder die ehemalige Tagebaulandschaft – auch ein Ziel für Familienausflüge, die heute völlig überwuchert ist, und deren Geschichte in Form von alten Fundamenten und Ventilen deutlich sichtbar bleibt.

„Und irgendwann habe ich festgestellt: Ah, das hat alles eine Verbindung und plötzlich wusste ich, worum es mir geht, und dann konnte ich auch die Lücken füllen.“

Tatsächlich hat Julia Hoße aus den einzelnen Erinnerungen eine streng durchkomponierte Graphic Novel gebaut, in der die sechs einzelnen Kapitel einen Aspekt des Erinnerns durchspielen. Wie sehr die Fluchtgeschichte der Großmutter zum Beispiel die eigene Identität bestimmt – obwohl die doch in immer den gleichen Bruchstücken erzählt wurde – fast schon, als wäre sie ein Stereotyp für Flüchtlingsschicksale, meint Julia Hoße. „Die Geschichte von der Flucht, die auch wieder so ganz weit weg war und etwas legendenartiges für mich hatte, da wollte ich auch, dass die Figuren so ganz steif und Statuen fast sind und das das so ein bisschen etwas hat von Kunst aus den 20er- und 40er-Jahren.“

Für jede Erinnerungssequenz erfindet Julia Hoße eine eigene Bildsprache. Die Fluchtgeschichte aus Königsberg nach Thüringen verdichtet sich zu dunklen Symbolen von brennenden Häusern, Panzern und endlosen Fabrikgebäuden, in denen die Urgroßmutter schließlich Arbeit findet. „Sie hatte außer Tischsitten nichts gelernt“, steht darunter. Dichter kann man Bild und Text nicht komponieren. „Für mich ist Tanz und auch Bewegung und Sprünge: das Hier und Jetzt und nur den ganz kurzen Moment – in gewisser Weise ist das auch wie ein gefrorener Moment, wenn ich das in ein Bild banne, für mich entsteht da so eine Reiberei von Zeitlichkeit – und gerade wo es im letzten Kapitel um Zeit und Vergänglichkeit und die physikalische Sicht auf Zeit geht.“

Im letzten Kapitel verbindet die Comickünstlerin ihre Erinnerungen mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein. Der hat nachgewiesen, dass Vergangenheit und Gegenwart in physikalischer Hinsicht genauso präsent sind wie die Zukunft. Nichts geht verloren, schreibt Hoße und lässt in ihren Zeichnungen noch einmal alle Erzählstränge einander überlagern. So poetisch hat wohl noch niemand über Erinnerungen und deren Bedeutung für das aktuelle Leben reflektiert.

Dieser Text erschien zuerst auf: Deutschlandfunk.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.