Hommage an einen Science-Fiction-Pionier – Die H. G. Wells-Bibliothek

Invasionsängste, blinder Fortschrittsglaube, Dystopien, entfesselter Kapitalismus: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der englische Schriftsteller Herbert George Wells die zentralen Themen der kritischen Science Fiction, von denen das Genre noch heute zehrt. Vier der bekanntesten Werke hat der französische Comic-Szenarist Dobbs in einer sechsbändigen Reihe mit mehreren Zeichnern als Comic neu interpretiert. Die deutsche Übersetzung erscheint bei Splitter und wurde kürzlich komplettiert. Hommage oder Aufguss? Comic.de-Autor Holger Bachmann hat die Alben gelesen.

1. Die Zeitmaschine

London, 1895: Ein nicht namentlich benannter Wissenschaftler hat seine Freunde zu einer kleinen Demonstration eingeladen. Kurz vorher hatte er dem staunenden Kreise erklärt, neben den bekannten drei Dimensionen Länge, Breite und Höhe weise ein Objekt doch zweifellos eine weitere Eigenschaft auf: die Existenz in der Zeit. Diese vierte Dimension will der Forscher nun für sich erobert haben – was er an einem Modell vorführt: Er lässt eine kleine, futuristische Maschine kurzerhand verschwinden. Das reicht den skeptischen Kollegen natürlich nicht aus, aber damit hat der Zeitreisende gerechnet. Er verschwindet kurz im Nebenzimmer und kehrt – vermeintlich nur Sekunden später – vollkommen derangiert, verdreckt und ausgehungert zurück. Den verdutzten Kollegen erklärt er, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren ist: Er hat die Zeitmaschine natürlich auch in voller Größe konstruiert und schwingt sich mit ihr auf in eine fantastische Reise in die Zukunft. Endstation der rasenden Fahrt ist das Jahr 802701, in dem der Zeitreisende unsanft von seinem Gefährt stürzt und sich in einer verfallenen Zivilisation wiederfindet.

Dobbs (Text), Matthieu Moreau (Zeichnungen): „H. G. Wells: Die Zeitmaschine“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2017. 56 Seiten. 15,80 Euro

London ist verschwunden, einige marode Bauwerke, darunter eine Sphinx und ein Tempel, stehen im Urwald, und selbst die Themse hat ihre Position leicht geändert. Aber der Zeitreisende ist nicht allein. Bald trifft er auf die Eloi – junge, fast kindliche Kreaturen, die ihre Zeit damit zubringen, Früchte zu essen, herumzutollen und zu schlafen. Angst scheint man nur vor der Dunkelheit zu haben, in der seltsame Kreaturen den Urwald durchstreifen. Selbst als eine der Eloi beim Baden zu ertrinken droht, entwickeln ihre Artgenossen keinerlei Aktivität, sodass der Zeitreisende Weena retten muss, die ihm fortan wie ein Schoßhündchen folgt. Nachdem er entsetzt feststellen muss, dass seine Zeitmaschine weggeschafft wurde, geht der Reisende den mysteriösen Dingen noch mehr auf den Grund. Überall in der Landschaft verteilt finden sich Schächte, aus denen Lärm tönt und Abluft strömt. Auf dem Weg in diese Unterwelt offenbart sich dann das ganze Grauen: In der Unterwelt hausen die Morlocks, die ihren Herren offenbar einst ein sorgenfreies Leben bereiteten und nun auf nächtlichen Raubzügen gnadenlose Jagd auf die Eloi machen. Knapp kommt der Zeitreisende davon, aber dann wird Weena von den Morlocks entführt…

Herbert George Wells gilt zu Recht als Begründer der modernen Science Fiction (wobei er sich diesen Titel wohl mit Jules Verne teilen muss) und lieferte Ende des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Klassikern des Genres, von denen das Duo Dobbs und Mathieu Moreau gleich drei nicht in die vierte Dimension, sondern in die Welt der Bildgeschichten überführen. Schon im Erstlingswerk „The Time Machine“, erschienen 1895, finden sich die Grundelemente, mit denen Wells in fast allen seinen Romanen spielte. Das Science Fiction Gewand dient (anders als bei Verne, bei dem gerne Technikbegeisterung und Optimismus im Vordergrund stehen) dabei oft lediglich als Aufhänger, um das zeitgenössische England bloßzustellen und beißende Kritik zu üben. Ganz in der Tradition der englischen Satire vom Schlage eines Jonathan Swift, dessen Gulliver auf seinen vier Reisen verschiedene Aspekte der zeitgenössischen englischen Gesellschaft anprangert, liefert Wells im „Krieg der Welten“ z. B. einen vernichtenden Kommentar auf die ruppige Kolonialpolitik des Weltreiches Britannia zu seinen Lebzeiten.

In seiner – nebenbei natürlich auch spannend zu lesenden – Zukunftsvision von der Zeitmaschine begründete Wells zusätzlich den Prototyp der Antiutopie – dem finster-pessimistischen Blick auf das, was er später als things to come bezeichnete. Die Teilung der Gesellschaft in eine dekadente, nichtstuerische Oberschicht und eine verunmenschlichte, arbeitende Unterschicht beobachtete Wells im England der Industrialisierung als tägliche Realität, die er lediglich konsequent überspitzt zu Ende dachte: Die Eloi, symbolisch an der Oberfläche lebend, sind in völlige Unfähigkeit zu verantwortlichem Tun degeneriert, während die in den Untergrund gedrängten Morlocks zu wilden Tieren verkommen sind, die seit Jahrhunderten in der Finsternis dahinvegetieren und dem Kannibalismus verfallen sind. In der klassischen Rollenverkehrung von Herr und Diener haben sich die Morlocks zu den Herrschern aufgeschwungen und halten sich die Eloi wie Vieh. Der Kapitalismus frisst seine Kinder, so die Botschaft des Sozialisten Wells, wenn er nicht durch soziale Zügel gebändigt wird. Passend dabei, dass sich der Zeitreisende selbst mehrfach entsetzt darüber äußert, wie es so weit kommen konnte, und das Grauen „dieser Utopie“ konstatiert.

Seite aus „H. G. Wells: Die Zeitmaschine“ (Splitter)

Der Nachhall des Romans zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der populären Kultur: Thea von Harbou riss sich die Grundidee unter den Nagel und fabrizierte daraus in unsäglicher Trivialisierung das Handlungsgerüst von Fritz Langs „Metropolis“, wo die Arbeiter ebenso unter der Erde hausen und den Reichen oben ein schönes Leben bescheren, was allerdings durch einen höchst dubiosen „Mittler“ kurzerhand gelöst wird (ein dreister Diebstahl, der den Filmkritiker Wells derart erboste, dass er 1927 schrieb, „Metropolis“ sei der dümmste Film aller Zeiten). Die beiden Verfilmungen des Stoffs, allen voran die George Pal-Fassung von 1960, blenden den sozialkritischen Aspekt weitgehend aus, liefern dafür aber wundervolles Design und schmissige Unterhaltung. Literaturprofi Dobbs schließlich, der schon in „Scotland Yard“ und „Mister Hyde vs. Frankenstein“ (beide bei Splitter) sein Gespür für Ikonen der phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts bewiesen hat, bleibt in seiner Handlungsführung recht nah am Roman, wobei einige kleinere Aspekte (im Roman erfährt der Zeitreisende aus einer Aufzeichnung in einer Bibliothek die Hintergründe, hier fällt ihm dieses Wissen relativ leicht zu) modifiziert werden.

Der große Handlungsbogen, in dem der Zeitreisende aus dem Jahr 802701 noch weiter in die Zukunft flieht, dort das Ende der Welt sieht und wieder zurückkehrt, nur um erneut aufzubrechen, all das ist werkgetreu enthalten – und um eine kleine Szene klug ergänzt, in der wir den Zeitreisenden mit einem Fotoapparat in einem Urweltszenario beobachten, aus dem er nicht zurückkehrt. Besonders zu gefallen vermag diese Adaption auch durch ihre zeichnerische Gestaltung, die von Mathieu Moreau liebevoll, in teilweise großflächigen Panels umgesetzt ist, in leicht stilisiertem, frankobelgischen Stil, mit kräftigen Farben und vielen Details – was einen spannenden Vergleich zu Thilo Krapps monochromer, ebenso detailfreudiger Fassung des „Krieg der Welten“ bildet. Wunderbar auch die produktionstechnische Einrichtung des Bandes: Wie ein Buch aus der Bibliothek kommt das Album daher, mit Prägedruck und schönen Verzierungen auf dem Umschlag – als ob man sich gerade eben die Erstausgabe der „Time Machine“ aus der British Library geholt hätte. Stilecht!

2. Der Krieg der Welten, Band 1

„No one would have believed in the last years of the nineteenth century that this world was being watched keenly and closely by intelligences greater than man’s and yet as mortal as his own.“ Mit diesen Worten beginnt nicht nur der vielleicht einflussreichste Roman von H. G. Wells, sondern das gesamte Genre der modernen Science Fiction. Als man mehrfache Eruptionen auf der Oberfläche des Nachbarplaneten Mars beobachtet, wird die wissenschaftliche Gemeinschaft Südenglands und ein nicht namentlich benannter Autor, der im Verlauf zum Ich-Erzähler avanciert, aufmerksam. Spätestens als reihenweise scheinbar Meteore einschlagen, ist das Interesse des Astronomen Professor Ogilvy nicht mehr zu bremsen. Er eilt zur Absturzstelle und entdeckt dort erstaunliches: Kein Meteorit, sondern ein Geschoss ist gelandet, das sich alsbald als Transportzylinder für eine schreckenerregende Fracht herausstellt. Bald bilden sich ganze Menschentrauben, darunter auch der Erzähler, der mit Schrecken zusehen muss, wie eine gewaltige Kampfmaschine aus dem Zylinder steigt und alle Schaulustigen in einem mörderischen Hitzestrahl in Asche verwandelt.

Vicente Cifuentes (Zeichnungen), Dobbs (Text): „H. G. Wells: Der Krieg der Welten, Band 1“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2017. 56 Seiten. 15,80 Euro

Ihm gelingt die Flucht, wobei er aber feststellen muss, dass die herbeieilenden Armee-Einheiten hoffnungslos unterlegen sind. Im Schutze der Nacht eilt er nach Hause und bringt seine Frau nach Leatherhead zu seinem Cousin in Sicherheit. Auf seiner Rückkehr ins heimische Woking macht er erneut Bekanntschaft mit den gewaltigen Kampfmaschinen der Marsianer. Riesige Dreifüssler marschieren über das Land und verwandeln eine Brücke nebst Zug mit ihrem Hitzestrahl in ein Flammenmeer. Das gleiche Schicksal ereilt auch die versprengten Artilleristen, die auf der Horsell Weide vollständig ausgelöscht werden. Der Schreiberling schlägt sich weiter bis Weybridge, wo man die fliehenden Zivilisten in ein Lager gepfercht hat. Als die Menge versucht, den Fluss in Richtung Bahnstation Shepperton zu überqueren, greifen die Marsianer erneut an und löschen den Flüchtlingsstrom vollständig aus. Und es kommt noch schlimmer: Zwar überlebt der Erzähler auch diese Attacke, aber die Marsianer entfesseln ein neues Grauen – sie überziehen das Land mit schwarzem Rauch, der sämtliches Leben sofort vernichtet…

Nach der wunderbar nostalgischen „Zeitmaschine“-Bearbeitung widmet sich Vielschreiber und Viktorianismus-Experte Dobbs dem Urtext aller Invasionserzählungen, der bereits zahlreiche Adaptionen erfuhr: als Verfilmung (Byron Haskin, 1953), Neuverfilmung (Stephen Spielberg, 2005), Hörspiel- und Musikfassung (Orson Welles Radiosendung von 1938, Richard Burton als Erzähler 1978) und Parodien („Mars attacks!“, Tim Burton 1996). Wells‘ Roman, erstmals erschienen 1897, lieferte wie alle seine „Scientific Romances“ eine wissenschaftlich fundierte fiktive Überhöhung sozialer und geistesgeschichtlicher Themen der Zeit. Mit der Attacke der Marsianer hielt er seinen Landsleuten einmal mehr den Spiegel vor, indem er den Imperialismus auf den Kopf stellte und die Briten als Opfer eben der radikalen Eroberungspraktiken zeigte, die sie selbst der halben Welt angedeihen ließen.

Gleichzeitig schwingt ein gerüttelt Maß an Evolutionstheorie und Darwinismus mit. Die Marsianer, die eine deutlich ältere Rasse als die Menschheit zu sein scheinen, demonstrieren durch ihre vollständige Überlegenheit die These des „survival of the fittest“ – und gleichzeitig die Gefahr der Überzivilisierung, da sie mit übergroßen Gehirnen und schwächlichen Körpern nur in Kampfmaschinen überleben können. Diese Interpretationsspielarten treten bei Dobbs hinter die furiose Action zurück, die die Story in Hülle und Fülle bietet. Wie schon Thilo Krapp in seiner herausragenden deutschen Adaption zeichnet auch Dobbs die Geschehnisse des Romans weitgehend werkgetreu nach. Wo allerdings in der monochromen, skizzenhaften Gestaltung der Krapp-Fassung historische Detailgenauigkeit und bedrückende Atmosphäre im Mittelpunkt stehen, liefert Dobbs großformatige Set Pieces, vor allem in der Szene der scheiternden Massenevakierung bei Weybridge. Inhaltlich erlaubt sich Dobbs einige Freiheiten, nicht zuletzt in der Gestaltung der Tripods. Bei Wells noch als gewaltige, kantige Läufer mit Tentakeln beschrieben, geraten die Vernichtungsmaschinen hier zu fast drachenhaften Metallmonstern.

3. Der Krieg der Welten, Band 2

Gnadenlos und grausam, so gehen die Marsianer weiter gegen die Menschen vor. Der schwarze Rauch, den die Invasoren versprühen, tötet in Sekunden, während rotes Unkraut das Land überwuchert. Die Evakuierung Londons versinkt im Chaos: es herrscht das Recht des Stärkeren, aber selbst wenn man sich in einen der überfüllten Züge oder Schiffe retten kann, bedeutet das noch lange kein Entkommen. Ein schweres Panzerschiff bringt zwar ein Dreibein zu Fall, aber mehr als diesen Pyrrhus-Sieg erringt man nicht gegen die alles zerstörenden Angreifer. Im verlassenen Nest Ripley macht sich der namenlose Schreiberling auf den abenteuerlichen Weg zurück zu seinem Haus nach Leatherhead, wo er seine Frau zu finden hofft. Mit im Tross reist nach wie vor der Pfarrer, der sich in Gottergebenheit und Buße-Gelübden ergeht.

Vicente Cifuentes (Zeichnungen), Dobbs (Text): „H. G. Wells: Der Krieg der Welten, Band 2“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2017. 56 Seiten. 15,80 Euro

Voller Entsetzen verfolgen die beiden aus einer Hausruine, was die Marsianer mit den Menschen anstellen: scharenweise heben Greifarme elende Opfer in die Kampfmaschinen, um ihnen dort das Blut auszusaugen, das den Piloten als Nahrung dient. Auch der Pfarrer findet schließlich einen grausamen Tod, während der Erzähler tatsächlich nach einem tagelangen Marsch durch Ruinen, Leichenberge und wildernde Hundemeuten Leatherhead erreicht. Das Haus ist verlassen, er findet die Nachricht, seine Frau habe versucht sich nach London durchzuschlagen – und nach einem kurzen Zusammentreffen mit einem resignierten Soldaten macht sich auch der Erzähler auf die Reise ins vollkommen zerstörte London…

Auch in Teil 2 konzentriert sich Dobbs auf einige zentrale Elemente der Vorlage, die allerdings noch kürzer abgehandelt werden als im Auftaktband. Der zum Scheitern verurteile Versuch des Kanonenboots Thunderchild, die Kampfmaschinen zu schlagen, nimmt hier nur wenige Panels ein, und auch der Name des Schiffs fällt nicht. Die Flucht des Cousins des Erzählers, der auf seinem Weg heldenhaft einigen Damen zu Hilfe eilt, denen man rabiat ihre Kutsche stehlen möchte, huscht ohne Namensnennung ebenso schnell vorüber. Die ausladend geschilderte Vision des verzweifelten Soldaten, man solle die Erdoberfläche räumen und „underground“ eine neue Existenz beginnen, fällt völlig unter den Tisch. Wer sich also ein werktreue Umsetzung wünscht, in der alle liebgewonnenen Elemente des Romans akribisch verarbeitet sind, dem sei erneut die Fassung von Thilo Krapp ans Herz gelegt, der sich äußerst eng an den Romanszenen entlang hangelt.

Wer allerdings auch mit schmissiger Action und knalligen Set Pieces etwas anfangen kann, der sollte hier einen Blick hineinwerfen: Dobbs liefert immer wieder spektakuläre Szenen, die teilweise auch schockierende Brutalität enthalten, die allerdings in der Vorlage ebenso vorgezeichnet ist (die natürlich symbolische Blutsaugerei der neuen Herren sorgt schon im Roman für Entsetzen). Die letztendliche Lösung, die schon längst kein Spoiler mehr ist, kommt natürlich ebenso zum Tragen wie die Schlüsselszenen, in denen die dünne Hülle der Zivilisation in der Ausnahmesituation schnell der Barbarei weicht. Furios, in großzügiger Ausführung inszeniert Vicente Cifuentes auch diesen Band, dem man seine Superhelden-DNA (immerhin zeichnete der Gute bereits Aquaman, Batman, Green Lantern, Green Arrow und auch sonst so ziemlich jeden DC-Charakter) durchaus anmerkt.

4. Die Insel des Dr. Moreau

Glück im Unglück, das denkt der Schiffbrüchige Edward Prendick zumindest, als ihn das kleine Handelsschiff Ipecacuanha im Rettungsboot entdeckt, aufsammelt und vor dem sicher geglaubten Tod rettet. An Bord nimmt sich der Mediziner Montgomery seiner an und flickt ihn so gut es geht wieder zusammen. Allerdings trägt sich alsbald Absonderliches zu: Der Kapitän des Schiffs empört sich zunehmend über die Fracht (offenbar transportiert man Tiere zu einer abgelegenen Insel), und Montgomery wird von seinem seltsamen Faktotum begleitet. Als man schließlich in Reichweite des Ziels gelangt, setzt der Kapitän, nachdem die Käfige entladen und Montgomery unterwegs zur Insel ist, auch den entsetzten Prendick kurzerhand aus und macht sich davon. Widerwillig nimmt Montgomery den erneut Gestrandeten mit, eröffnet ihm aber unheilvoll: „Schon bald werden Sie merken, dass diese Insel die Hölle ist. Das verspreche ich Ihnen.“

Fabrizio Fiorentino (Zeichnungen), Dobbs (Text): „H. G. Wells: Die Insel des Dr. Moreau“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2017. 56 Seiten. 15,80 Euro

Montgomery führt Prendick zu einem von einer Mauer umgebenen Areal, wo sie eine rabiate Gestalt in Empfang nimmt. Der Fremde stellt sich als Moreau vor und lässt Prendick nur in seine Zuflucht, weil er ein paar medizinische Grundkenntnisse mitbringt und somit vielleicht von Nutzen sein kann. Nachts durchdringt markerschütterndes Heulen das Lager. Offenbar wird ein Tier grausam gequält. Prendick flieht in die Nacht und beobachtet ein seltsam aussehendes Wesen, das ihn angreift und offenbar zuvor einen der mitgebrachten Hasen gerissen hat. Prendick kann gerade noch das Lager erreichen und will Moreau zur Rede stellen, der sich gerade an einer fast menschlich aussehenden Kreatur zu schaffen macht. Prendick ist sofort davon überzeugt, dass der Unhold Vivisektion an Menschen durchführt. Um nicht als nächstes Opfer auf dem Seziertisch zu landen, flieht Prendick abermals und trifft im Dschungel erneut auf seltsame Mischwesen, die wirken wie degenerierte Menschen und einem ominösen Gesetzeskanon folgen, den sie wie suggestiv wiederholen: Nicht auf allen Vieren gehen. Nicht das Wasser aus dem Strom schlürfen. Weder Fisch noch Fleisch essen. Keine anderen Menschen jagen.

Schließlich fällt ein Schweinewesen über Prendick her, der gerade noch von den herbeigeeilten Moreau und Montgomery gerettet wird. Nun ist Moreau zu einer ausladenden Erklärung bereit: in keiner Weise führt er Experimente an Menschen durch. Ganz im Gegenteil ist es ihm gelungen, durch geschickte Vivisektion Tiere zu menschenähnlichen Kreaturen umzuformen und ihnen sogar ein primitives Sprachzentrum einzupflanzen. Unter Hypnose impft er ihnen das Gesetz ein, das sie davon abhalten soll, in ihren tierischen Zustand zurückzufallen. Wer das Gesetz verletzt, der muss zurück ins „Haus der Schmerzen“, wo Moreau weitere grausame Experimente vornimmt. Prendick zeigt sich entsetzt, sitzt aber auf der Insel fest und muss wohl oder übel ausharren. Dann aber nimmt das Unheil seinen Lauf…

Seite aus „H. G. Wells: Die Insel des Dr. Moreau (Splitter)

H. G. Wells bezeichnete diese „scientific romance“ gerne als seine „jugendliche Übung in Blasphemie“. In der Tat versammeln sich in diesem Roman, der schon 1896 kurz nach dem Durchbruch „The Time Machine“ entstand, zahlreiche Motive, die provokant um das Thema Existenz und Religion kreisen. In typischer Frankenstein-Manier maßt sich Moreau, dessen Experimente ihn aus der Londoner Wissenschaftsgemeinde ins Exil befördert haben, das Recht an, Herr über Leben und Tod zu sein. wie ein moderner Prometheus formt er Menschen, oder zumindest eine perverses Zerrbild davon (kein Wunder also, dass eine der ersten Verfilmungen des Stoffs, „The Island Of Lost Souls“ mit Charles Laughton und Bela Lugosi, 1932 als Gotteslästerung galt und in der Versenkung verschwand). Das „Beast Folk“ dient nur der Beweisführung, dass enorme anatomische Eingriffe möglich sind, ohne jemals nach den moralischen Implikationen oder gar der ethischen Komponente zu fragen. Damit griff Wells die zeitgenössische intensive Diskussion um das Thema Evolutionstheorie und Vivisektion auf, die im Viktorianischen England in mehreren Bewegungen kritisiert und bloßgestellt wurde.

Wells selbst war von der wissenschaftlichen Fundierung seiner Schreckensvision durchaus überzeugt. In seinem 1985 verfassten Essay „The Limits Of Individual Plasticity“ legte er die These vor, dass Tiere durch chirurgische oder chemische Manipulation verändert und „verbessert“ werden könnten. In dem ausführlichen, zentralen Kapitel, in dem Moreau dem entsetzten Prendick seine Vorgehensweise erläutert, finden sich zahlreiche Passagen aus dem Essay wortgetreu wieder – wobei Wells keinen Zweifel daran lässt, dass Moreaus Vorgehen zutiefst unmoralisch ist. Ebenso würzt Wells seine Vision mit einer kritischen Beleuchtung der Instrumentalisierung von Religion: Das „Gesetz“, das Moreau aufstellt, gibt dem Beast Folk seine eigenen zehn Gebote, die nicht zu hinterfragen sind – wer sie verletzt, kommt in die Hölle, verkörpert im gefürchteten „House Of Pain“, während Moreau selbst gottgleich wird – er hat den Blitz, so lautet der Gesang, und setzt den „Sayer of the Law“ als seinen Hohepriester ein. Wie üblich bei Wells liefert das antiutopische Szenario einen beißenden Kommentar auf seine eigene Zeit – mit künstlichen Machtstrukturen, scheinbar allmächtiger Wissenschaft und rücksichtsloser Ausbeutung jeglicher „Ressource“.

Die dritte Wells-Adaption ist wieder deutlich gelungener als der Vorgänger „Krieg der Welten“. Dobbs konzentriert sich auf die zentralen Handlungselemente, wobei die kleine Rahmenfiktion wegfällt (der Roman selbst ist als Bericht Prendicks gestaltet, den sein Neffe unter seinen Papieren findet) und das Ende etwas modifiziert wird (Prendick schafft auch im Roman den Weg zurück und lebt zurückgezogen, findet aber in der Forschung einen gewissen Frieden). Das pure Entsetzen, Moreaus Größenwahn und die bizarre, religiös verhetzte Parallelwelt des Beast Folk blieben eindrucksvoll erhalten und erscheinen auch in der Gestaltung von Fabrizio Fiorentino teils dynamisch, teils gespenstisch-erschreckend, bis hin zum Fegefeuer-haften Finale am Strand.

5. Der Unsichtbare, Band 1

Seltsam sieht er aus, der Fremde, der in einer klirrenden Winternacht im englischen Nest Iping in die Ortskneipe trottet und dort eine warme Mahlzeit, ein Zimmer und seine Ruhe verlangt. Zunächst zeigen sich die Landlords Hall erfreut, aber das Gebaren des Besuchers wird immer absonderlicher: Er scheint komplett in Bandagen eingewickelt, die Augen von einer Brille verdeckt, und wartet sehnsüchtig auf seine Koffer, die am nächsten Tag vom Bahnhof aus eintreffen. Sofort macht sich die Gestalt daran, den Gemeinschaftsraum des Pubs in Beschlag zu nehmen und dort ein veritables kleines Chemielabor aufzubauen. Die Neugierde der Gemeinde, was es denn mit dem „Schwarzen Mann“ auf sich hat, der vermummt durch die Straßen geht, kennt keine Grenzen, und so kommt es, wie es kommen muss: Wieder einmal bedrängt in seinem Zimmer, verliert der Unbekannte die Nerven und konfrontiert die naseweisen Besucher: „Genug! Seien Sie jetzt still! Sie verstehen weder, wer ich bin… noch was ich bin! Also werde ich es Ihnen zeigen! Ein für alle Mal!“

Christophe Regnault (Zeichnungen), Dobbs (Text): „H. G. Wells: Der Unsichtbare, Band 1“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2018. 56 Seiten. 15,80 Euro

Zum Entsetzen der Anwesenden reißt sich der Fremde die Bandagen vom Leib und löst sich anscheinend in Luft auf: Unsichtbar ist er, wie berauscht von seiner Macht, mit der er nun seine vermeintlichen Widersacher gewaltsam aus dem Raum befördert und sich wild lachend davon macht. Auf seiner Flucht rekrutiert er den Landstreicher Thomas Marvel, der für ihn nochmals in den Gastraum eindringt und ein paar offenbar wichtigr Bücher herausschafft, bevor der Unsichtbare zur Demonstration seiner Allmacht das Zimmer anzündet. Auf seinem Weg durch die Nachbarorte zieht er eine Schneise des Schreckens, aber dann trifft ihn eine ziellos abgefeuerte Kugel, sodass er sich in die Hände des Dorfarztes begeben muss…

Mit dem 1897 erschienen „Invisible Man“ schuf Wells eine der ikonischsten Figuren der phantastischen Literatur. Die Geschichte des Wissenschaftlers Griffin, der ein Unsichtbarkeitsserum an sich selbst testet, nur um festzustellen, dass der Effekt nicht umkehrbar ist, fand den Weg in unzählige Adaptionen und Varianten, wovon die Universal-Verfilmung von 1933 sicher zu den bekanntesten zählt. James Whale raffte hierfür die Romanvorlage auf die einschlägigsten Szenen zusammen, wobei insbesondere die Auftaktszenen in Pub in Iping, auf die auch Dobbs Comicadaption einiges Augenmerk legt, im Gedächtnis bleiben, ebenso wie die bemerkenswerten Effekte, in denen sich der Unsichtbare entkleidet und als geisterhaft bewegtes Hemd oder Hose seine Gegner umtanzt. Claude Rains überzeugte als Unsichtbare vor allem durch seine stimmliche Interpretation des Charakters, der in Whales Fassung durch einen Fehler in der Formel langsam in den Wahnsinn abgleitet (und der es sogar in den Titelsong der Rocky Horror Picture Show schaffte, wo uns die Lippen verkünden: „Claude Rains was the Invisible Man“).

Seite aus „H. G. Wells: Der Unsichtbare, Band 1 (Splitter)

Nach einigen weiteren Universal-Filmen, darunter die Komödie „The Invisible Agent“, die fesche „Invisible Woman“ und (als Gast) “Abbott and Costello meet Frankenstein”, folgten diverse Fernsehserien (durchaus beachtlich, aber kurzlebig war beispielsweise die Reihe von 1975) und freiere Filmfassungen, allen voran Paul Verhoevens „Hollow Man“, in dem Kevin Bacon in die Rolle des durchsichtigen Verbrechers schlüpfte. Wie nahezu jeder Charakter der viktorianischen Literatur treffen wir den Unsichtbaren natürlich auch in Alan Moores ausladender Saga „The League Of Extraordinary Gentlemen“ wieder, wo Griffin das Serum allerdings nicht erfunden, sondern gestohlen hatte. Wie immer bei Wells dient das utopische Setup, das zumindest an der Oberfläche in den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit verankert ist (Griffin studiert Optik und findet einen Weg, die Lichtbrechung eines menschlichen Körpers zu neutralisieren), der scharfen Analyse gesellschaftlicher und menschlicher Eigenheiten. Ist es beim „Krieg der Welten“ der britische Kolonialismus und bei der „Zeitmaschine“ ein entfesselter Kapitalismus, richtet sich Wells‘ kritischer Blick hier, der „Insel des Dr. Moreau“ nicht unähnlich, auf eine moralfreie Wissenschaft, die fern aller Ethik und Verantwortung agiert.

Griffin verfällt mehr und mehr in wahllose Gewaltausbrüche und Allmachtsphantasien: „Ein unsichtbarer Mann ist ein mächtiger Mann, für den alles möglich ist!“ Im Gegensatz zur Whale-Verfilmung allerdings ist das Serum nicht fehlerhaft, sondern enthüllt nur die negativen Grundzüge in Griffins Charakter, der schlicht und einfach Freude daran hat, Menschen zu drangsalieren und wahllos zu terrorisieren, wie auch der Angriff der Marsianer schon die atavistischen Züge unter der dünnen zivilisatorischen Hülle freilegte. Dobbs gönnt sich bei seiner Fassung wieder zwei Bände, die nahe an der Vorlage bleiben und auch manche Referenz auf die Whale-Filmversion bieten. Diesmal von Chris Regnault stilecht inszeniert und aufgemacht wie ein Buch aus der Leihbibliothek, liefert auch dieser Band einen gelungenen Beitrag zu Dobbs‘ viktorianischem Comic-Kanon. Eine kleine Nerd-Notiz sei am Rande noch erlaubt: Der Roman gleichen Titels von Ralph Ellison aus dem Jahr 1952 verwendet das Symbol der Unsichtbarkeit, um auf die Rassenungleichheit in den USA der 50er Jahre hinzuweisen. Und wird von Netflix-Serien-Held Luke Cage gelesen.

6. Der Unsichtbare, Band 2

Angeschossen und auf der Flucht schleppt sich Griffin in ein naheliegendes Haus, das sich als Wohnstatt seines alten Lehrers Dr. Kemp entpuppt. Griffin berichtet dem entsetzten Kemp den Hergang seiner Experimente: Wie besessen forschte er nach den Geheimnissen des Lichts, bestahl zur Finanzierung seiner Arbeit sogar den eigenen Vater und musste nach ersten Erfolgen mit einer Katze schließlich aus seiner Pension Reißaus nehmen.

Christophe Regnault (Zeichnungen), Dobbs (Text): „H. G. Wells: Der Unsichtbare, Band 2“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter, Bielefeld 2018. 56 Seiten. 15,80 Euro

Kemp gegenüber schwärmt der zunehmend größenwahnsinnige Griffin von seinem Vorhaben, eine „Herrschaft des Schreckens“ aufzubauen – der gute Doktor will dabei aber verständlicherweise nicht beteiligt sein, sondern informiert klammheimlich über seine Hausfrau die Polizei. Als Griffin Lunte riecht, verfällt er endgültig der Raserei: Rücksichtslos mordend zieht er durch die Landschaft, immer auf der Suche nach seinen Notizbüchern, auf der Flucht vor der Polizei und zunehmend bedrängt vom Unbill der Kälte, Nässe und Hunger. Die aufgehetzte Volksseele fällt schließlich wütend über ihn her und übt grausame Vergeltung für seine Taten…

Auch in Band 2 hangelt sich Dobbs sehr nah an der Romanvorlage entlang. Auf dem Boden der zeitgenössischen Erkenntnisse der Optik entfaltet Wells das Psychogramm eines zügellosen Individualisten, dessen Egomanie durch seine kurzzeitige Straffreiheit ins Unermessliche gesteigert wird – eine durchaus negative Sicht auf die Conditio humana. Dabei nimmt Griffins faschistoider Traum vom „Reign Of Terror“ das vorweg, was Fritz Lang wenige Jahre später seinem kriminellen Großmeister Dr. Mabuse in den Mund legte, der von der „absoluten Herrschaft des Verbrechens“ schwärmte: Schreckensvisionen, in denen sich die neuen Machthaber nur allzu gut wiedererkannten.

Optisch setzt Christophe Regnault das Geschehen eindrucksvoll in Szene und nutzt dabei geschickt die Möglichkeiten, die das Sujet bietet – so etwa, wenn Griffin durch spritzendes Blut silhouettenhaft sichtbar wird. Somit ein würdiger Abschluss der Dobbs-Wells-Reihe, die fast alle klassischen Scientific Romances (mit Ausnahme von „The First Men In The Moon“ und „Things To Come“) in hübsch eingerichteten Editionen nochmals Revue passieren lässt.

Diese Texte erschienen zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.