Ein trister Wachtraum in braun und beige – „Sabrina“

© Nick Drnaso / Drawn & Quarterly

Nick Drnaso ist hierzulande noch kein großer Name – jenseits des Atlantik aber schon. Gar nicht wegen seiner bislang vier Nominierungen für den Ignatz Award, der Prämierung seines Comic-Debüts „Beverly“ (2016) mit dem LA Times Book Prize in der Sparte „Graphic Novel“. Beides ist zweifellos beachtlich, aber das internationale Feuilleton feiert seinen aktuellen Comic, „Sabrina“ (Drawn & Quarterly, 2018), noch viel frenetischer als alles zuvor – denn „Sabrina“ ist die erste Graphic Novel, die es jemals auf die Longlist des Man Booker Prize geschafft hat. Das ist nicht irgendein Literaturpreis, sondern einer der wichtigsten im englischsprachigen Raum: Zu den Preisträger/innen gehören V. S. Naipaul (1971), Nadine Gordimer (1974), William Golding (1980) und J. M. Coetzee (1983 und 1999). Schon richtig, die haben allesamt zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Karriere auch den Nobelpreis für Literatur erhalten. Für den Man Booker Prize nominiert worden zu sein, kann also nicht die schlechteste Nachricht des Jahres für Drnaso sein. Was hat die Jury sich wohl dabei gedacht, mit der 49-jährigen Tradition des Preises zu brechen und eine Graphic Novel in die nähere Auswahl zu nehmen?

Nick Drnaso (Text und Zeichnungen): „Sabrina“.
Drawn & Quarterly, Montréal 2018. 204 Seiten. 27,95 USD

Calvin Wrobel arbeitet als Senior Airman auf der Peterson Air Force Base in Colorado und lebt getrennt von seiner Noch-Ehefrau Jackie sowie seiner Tochter Cici – in der sicheren Entfernung von 28 Stunden Autofahrt. Sein persönlicher Kontakt zu seinen Air-Force-Kollegen besteht in der gemeinsamen Zelebrierung nächtlicher Killerspiel-Missionen. Zwischen„menschlicher“ Höhepunkt in seinem Leben ist sein Kater Randy, der mangels Fressversorgung die Biege macht und dessen Fehlen von Calvin tagelang nicht bemerkt wird. So viel zu seinen social skills. Man kann sich kein langweiligeres und trostloseres Leben vorstellen, hätte man nicht schon Chris Wares „Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth“ gelesen, an den „Sabrina“ in mancherlei Hinsicht erinnert: Die Figuren in „Sabrina“ handeln ähnlich unbeholfen, die Umwelt ist vergleichbar in ihrer Tristesse: Drnaso hat Wrobels Lebensraum als bürgerlichen Albtraum in mattem Braun und noch matterem Beige inszeniert. Ein wenig Abwechslung kommt in sein Leben, als ein alter Jugendfreund bei ihm einzieht. Teddy betrauert gerade den Verlust seiner vermissten Freundin Sabrina, von der wir bald erfahren werden, dass sie grausam, natürlich grausam, ermordet worden ist. Ein Snuff-Video, das im Internet kursiert, zeigt ihre Ermordung durch einen maskierten Täter, den die Polizei als Timmy Yancey identifiziert.

Da sich bekanntlich alles, was im real life geschieht, in Sekundenschnelle qua Internet in sekundäre Ereignisse verwandelt, gerät nun alles aus den Fugen: Verschwörungstheoretiker vermuten hinter dem Mordfall einen hoax, verdächtigen Calvin Wrobel (U.S. Air Force!!1!) der Mithilfe an einer Regierungsverschwörung bzw. -vertuschung oder glauben zu wissen, dass alle Beteiligten in Wirklichkeit Schauspieler sind und alles nur der Vorbereitung von „etwas Größerem“ dient. Wer das nicht glaubt, gehört zu den Schlafschafen. So weit, so schlimm, aber es kommt noch viel ärger: Auch wir Leser werden in diesen Sog von Verschwörungsphantasien hineingezogen, weil Drnaso einige Geheimnisse um Calvin Wrobel hineingesponnen hat. Rasch verlieren wir das Vertrauen in diesen verschlossenen lone wolf, dessen Sozialverhalten absolut glaubhaft macht, dass hinter der berufsbedingten Flecktarnfassade ein Mörder steckt. Drnaso macht uns unbemerkt zu Mittätern in einem detektivischen Versteckspiel, nur dass sich weder jemand versteckt, noch dass es ein Spiel wäre. Der Mordfall wird unversehens zu einem thrilling whodunit, und wir haben das Opfer Sabrina, das wir konsequenterweise fast nie zu Gesicht bekommen, längst vergessen.

Seite aus „Sabrina“ (© Nick Drnaso / Drawn & Quarterly)

Auch andere Katastrophen geraten zum wohligen Hintergrundrauschen einer zerstreuungssüchtigen Gleichgültigkeitsgesellschaft: Die Berichterstattung zum 16. Jubiläumsjahr von 9/11 verfolgt Calvin regungslos mit Dosenbier im heimischen Sofa. Der Mord an der Clutter-Familie im Jahr 1959 (Truman Capote hat darüber den Roman „Kaltblütig“ geschrieben) wird weichgespült, bis er in „Sabrina“ nur noch zu einer belanglosen Frage in einem Kreuzworträtsel wird: „Twelve Letters. Who killed the Clutter Familiy“. Und die Morde, die Drew Peterson in den 2000er Jahren verübte, erinnert Calvin nur als „Big News Story in 2007“. Aber es wird noch schlimmer: Sabrinas Schwester Sandra gelingt es nicht, ihre Gefühle jemandem persönlich mitzuteilen, und sie findet erst Gehör, als sie auf einer Open Stage zwischen lauter Kleinkünstlern auftritt und aus dem Fundus verrückter E-Mails vorliest, die ihr zugegangen sind, seitdem sie unfreiwilliger Teil dieses Internetalbtraums ist. Die Story ist alles, und alles wird Screen, Bühne oder Show, während die Wirklichkeit ein trister Wachtraum in braun und beige bleibt.

Calvin Wrobel ist für uns eine Black Box, über seinen emotionalen Zustand erfahren wir weder in persönlichen Gesprächen (kaum vorhanden) noch in seinem Gesicht (zarte Striche auf Beige) etwas. Es ist bezeichnend, dass einzig seine psychologischen Selbstauskunftsformulare für seinen Arbeitgeber uns Aufschluss geben: auf einer Skala von ein bis fünf. Damit ist über die Kommunikationsfähigkeit und die Gefühlstiefe der Figuren in „Sabrina“ wohl alles gesagt. Abgestumpft trotten sie durch ihr Leben, und wir haben den bitteren Köder ganz heruntergeschluckt, wenn uns der Mord mehr interessiert als das Opfer. Sabrina wird von einem Unbekannten zum Schweigen gebracht, aber der gigantische Lärm, den Massenmedien und soziale Netzwerke post mortem verursachen, erfüllt den ganzen Raum, in dem kein Platz mehr ist für Mitgefühl oder Anteilnahme.

Mich hat es fasziniert, wie Drnaso mich mit allerlei Anspielungen geködert und dabei hat vergessen lassen, dass der Comic eigentlich im Titel zeigt, um wen es geht: Sabrina. Ich habe mich während des Lesens über die Verschwörungstheoretiker und Zeichenleser amüsiert, die Wrobel als Mittäter verdächtigen, aber zugleich habe auch ich nach Zeichen gesucht. Vielleicht ist es der Jury des Man Booker Prize ähnlich ergangen, aber das Spekulieren bringt uns ja nur vom Thema ab: Sabrina. Wer die interessantesten Comics des Jahres 2018 sucht, sollte „Sabrina“ von Nick Drnaso lesen.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Sabrina“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.