Eislauf mit frostiger Stimmung – „Pirouetten“

Mit einem strahlenden Lächeln übers Eis gleiten – als wären all die Pirouetten und Sprünge nicht harte und exakte Körperarbeit, sondern leger dahingeworfen. Dieses Lächeln fällt schon der kleinen Tillie nicht leicht. Irgendwie wirkt sie etwas verhaltener. Es ist nur eine Nuance des Ausdrucks, die Tillie unterscheidet – doch genau diese Nuance lässt sie zwischen all den anderen konzentrierten Mädchen auf dem Eis in Trainingskleidung und auf Schlittschuhen nicht zugehörig erscheinen, während die Trainerin fordert: „Ich erwarte saubere Beinarbeit und perfekte Armhaltung. Und ein Lächeln. Flora, du drehst dich zu früh aus der Kicklinie, Ashley, Kopf oben lassen. Das Ganze noch mal.“

Tillie wird selten ermahnt – sie ist gut. Sie liebt es, ihren Körper bis ins kleinste Detail zu beherrschen. Mit den Zacken der Kufen im richtigen Moment ins Eis tippen, um sich für anspruchsvolle Sprünge hoch in die Luft zu katapultieren. In dem Comic „Pirouetten“ erzählt die Zeichnerin Tillie Walden ihre eigene Geschichte. Es ist eine autobiografische Coming-of-age-Erzählung, die sie in Kapitel unterteilt.

Tillie Walden (Text und Zeichnungen): „Pirouetten“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Scheer. Reprodukt, Berlin 2018. 400 Seiten. 29 Euro

Am Anfang jedes Kapitels erklärt Walden eine Figur aus dem Eiskunstlauf: Was daran schwierig ist, was sie gut konnte und auch, woran sie scheiterte. Allein diese Bilder zeigen, wie fasziniert die Autorin bis heute vom Eiskunstlauf ist. Trotzdem fängt sie schon früh an, am Eiskunstlauf zu zweifeln: das harte Training, das Ausgeliefertsein gegenüber den Kampfrichtern. Und dann dieses Geschlechterstereotyp, das sie mit ihren grazilen Bewegungen im Rüschenröckchen bedienen muss. All das zeichnet sie in „Pirouetten“ nach. Und dann verliebt sich die Protagonistin Tillie auch noch – in ein Mädchen. Nichts scheint mehr zusammenzupassen. „Ich erinnere mich nicht an Schmetterlinge oder ein Gefühl von Freiheit – sondern nur an Angst. Angst, weil ich lesbisch war. Angst, weil wir in Texas waren. Angst vor dem Hass, den ich aus YouTube-Videos kannte und von dem ich wusste, dass er real war.“

Es wird kein einfaches Coming-out für Tillie – doch sie wird immer selbstbewusster mit ihrer lesbischen Identität. Das hilft ihr auch, über ihr Verhältnis zum Sport nachzudenken. So richtig los kommt sie vom Eiskunstlauf allerdings nicht. Je mehr sie zweifelt, desto fragmentierter und abgehackter werden die Bildfolgen. Am Ende wird eine Wettkampfsituation nur noch als zerrissener, in sich gekehrter Monolog dargestellt. Die Bilder werden zu winzigen Kästchen, in denen nur noch Gedankenfetzen stehen. „Schrittfolge, Sitzpirouette. Vierter Platz, schätze ich. Caitlin wird enttäuscht sein. Nicht heulen. Mom auch. Doppelter Salchow. Nicht heulen. Sonst ist das Make-up im Arsch und alle sehen es.“

Und es passiert noch etwas im Laufe des Buchs: Das Chaos bricht ein. In die wunderschönen, aufgeräumten, mitunter lichtdurchfluteten Zeichnungen vom Leben in der Eishalle dringen immer mehr krakelige Figuren, deren Hirn offen liegt, andere kotzen, wieder andere umarmen sich liebevoll. Die Eiskunstläuferin Tillie im Buch entdeckt das Zeichnen – die Kunst für sich – und gibt dem immer mehr Raum. „Pirouetten“ ist ein vielschichtiger Comic-Roman, der keine einfachen Antworten gibt. Ist es die Kunst, die sie vom Eiskunstlauf loslassen lässt? Oder eine neue Liebe? Oder ein Autounfall? „Die Erinnerung an den Knall des Aufpralls erschreckte mich nicht mehr. Stattdessen rief sie etwas in mir wach, das schon lange in mir geschlummert hatte, das ich aber nie zugelassen hatte: Ich wollte – nicht – zum Eiskunstlaufen.“

Erwachsenwerden und Coming-out sind keine seltenen Themen im Bereich des Comics. Mit „Pirouetten“ gelingt Tillie Walden jedoch ein Debüt, das gerade durch die leisen Töne und eine genaue Beobachtung besticht – so präzise, wie es einst ihr Eiskunstlauf gewesen sein muss.

Dieser Text erschien zuerst auf: Deutschlandfunk.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.