Konsequent aus der Perspektive eines Betroffenen – „Der Umfall“

Anfang des Jahres ging das erste Berliner Comicstipendium an Mikael Ross, der über einen jungen Mann mit geistiger Behinderung recherchieren wollte. Inzwischen ist der Comic zu der Recherche erschienen. „Der Umfall“ heißt er und erzählt davon, wie sich im Leben eines Behinderten plötzlich alles ändert.

„Der Umfall“ ist ein Wortspiel – oder eigentlich ein Missverständnis, denn Noel kann nicht mehr zu Hause wohnen, nachdem seine Mutter einen Unfall hatte. Für Noel wird das immer der „Umfall“ bleiben, weil er mit dem Wort Unfall nichts anfangen kann und weil seine Mutter im Badezimmer umgefallen ist. Anschließend musste sie ins Krankenhaus. Weil sich seine Mutter nicht mehr von diesem „Umfall“ erholt, wird Noel in eine Behinderteneinrichtung nach Niedersachsen gebracht.

Mikael Ross (Autor und Zeichner): „Der Umfall“.
Avant-Verlag, Berlin 2018. 128 Seiten. 28 Euro

Welche Einschränkungen Noel genau hat, erfahren wir übrigens nicht, ebensowenig wie sein Alter. Vermutlich ist er Anfang 20, ein junger Mann, der die Band „ACDC“ genauso liebt wie Märchen-Prinzessinnen. Und der den Alltag im gewohnten Umfeld nur mit Hilfe fremder Personen bewältigen kann. In der neuen Umgebung der Behinderteneinrichtung ist er erst mal völlig aufgeschmissen. Ein großartiger dramaturgischer Kniff von Mikael Ross. Der zweite Kniff: Ross erzählt konsequent aus der Perspektive der Behinderten. Zum Beispiel kann man nacherleben, was die geistige Einschränkung für Noel bedeutet. Als seine Mutter bewusstlos im Bad liegt, ist er völlig überfordert. Dann erinnert er sich, dass seine Mutter mit ihm solche Notsituationen geübt hat.

Dass er in der Karl-Marx-Allee wohnt, kann er sich zum Beispiel mit Hilfe einer Marx-Büste merken. Doch als er den Notruf wählt, kommt er nicht auf seinen Nachnamen. Ein spannender Moment. Denn die Stimme auf der anderen Seite des Telefons versucht den Namen zu erraten. Und erst als Noel vom Weihnachtsmannbart spricht, wird dem Menschen in der Notrufzentrale klar, dass Noel und seine Mutter in der Karl-Marx-Allee wohnen.

Mikael Ross erzählt auch vom Leben in der Behinderteneinrichtung: mit Rockkonzerten und Karnevalsfeiern – und davon wie die Behinderten miteinander klarkommen. Wie sie Freundschaften schließen, auch wenn manche eine eingeschränkte Impulskontrolle haben. Noel bekommt jedenfalls zu Beginn eins auf die Nase, weil seine Mitbewohnerin manchmal einfach auf ihre Mitmenschen zurast und auf sie einschlägt. All das zeichnet Ross mit bunten, einfachen Strichen – und auch voller Action, was den Comic ausgesprochen unterhaltsam macht.

Für den Comic ist Mikael Ross selbst in eine Einrichtung nach Neuerkerode gezogen, auf Einladung der Stiftung Neuerkerode. Der Grund: Der Comic sollte die Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum werden. Wie es bei einer Festschrift üblich ist, webt Mikael Ross auch Historisches ein – und zwar aus der dunklen Zeit des Nationalsozialismus.

Auch diese Ära wird aus der Perspektive der Bewohner erzählt: etwa aus der Perspektive einer alten Frau, die miterlebt hat, wie ihr ebenfalls behinderter Bruder erst ganz euphorisiert war vom zackigen Stil der Nazis. Später erzählt sie davon, wie aus seiner Gruppe immer mehr Jungs wegfahren und nie wiederkommen. Und dann kommt auch der Bruder nicht mehr wieder. Das ist nur eine der vielen berührenden Szenen in diesem Comic.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.