Rettung im Comic – „Klezmer“ und „Chagall in Russland“

Bild aus "Klezmer Bd. 5 (Joann Sfar / Avant-Verlag)

„Ich kann euch alle retten, wenn ihr mir Vertrauen schenkt! Ihr müsst einer nach dem anderen in mein Buch eingehen, um vor den Bösewichten in Sicherheit zu sein“, warnt Marc Chagall die anderen Schtetl-Bewohner. „Ohne mein Buch werden sie euch auslöschen. Kommt alle: die Kupplerin, der Rabbi, seine Schüler, Geflügel, Mädchen, Mütter und Väter! Violinisten, Klarinettisten, Beschneider, Klatschweiber und Luftmenschen: Hinein mit euch!“ Sie alle verschwinden im Skizzenbuch Chagalls. Als er alleine einem antisemitischen Mob gegenübersteht, der das Schtetl niederbrennen will, schwingt Chagall sich mit dem Buch unter dem Arm in den Himmel auf und schwebt nach Paris.

Joann Sfar (Autor und Zeichner): „Chagall in Russland.“
Avant-Verlag, Berlin 2012. 128 Seiten. 19,95 Euro

Mit dieser Utopie endet Joann Sfars Graphic Novel „Chagall in Russland“ über jüdisches Leben und Überleben in Osteuropa im frühen 20. Jahrhundert. Doch weniger Chagall, an dessen Biografie der Comic nur lose angelehnt ist, sondern vielmehr der 1971 in Nizza geborene jüdische Comiczeichner Joann Sfar selbst scheint diese Utopie mit jedem Baustein seines Werkes wieder und wieder umsetzen zu wollen: die Errettung der vom deutschen Nationalsozialismus zerstörten europäisch-jüdischen Lebenswelt durch ihre Überführung in den Comic.

Fast alle Arbeiten Sfars, die gemeinsam mit Lewis Trondheim entwickelte Fantasy-Parodie-Reihe „Donjon“ einmal ausgeklammert, beschäftigen sich mit Facetten jüdischen Lebens. Neben Chagall hat er jüdische Künstler wie Jules Pascin porträtiert, dem Golem ein eigenes Album gewidmet, Dibbuks und andere Figuren der jüdischen Kulturgeschichte bevölkern seine Comics. Die in Frankreich sehr erfolgreiche und in Deutschland leider untergegangene Kindercomicreihe „Desmodus“ führt ganz nebenbei in die jüdische Kulturgeschichte ein, in „Die Katze des Rabbiners“ hat Sfar sich dem nordafrikanischen Judentum angenähert und in der Comic-Reihe „Klezmer“ dem osteuropäischen.

Die Arbeiten Sfars verbindet, dass sie, ohne sich um realistische Darstellungen zu scheren, die Realitäten jüdischer Lebenswelten dennoch treffend umreißen. Die Schtetl und die osteuropäischen jüdischen Zentren wie Odessa sind bei Sfar bevölkert von „Luftmenschen“, schwebenden Juden, die zweierlei zum Ausdruck bringen: einerseits die antisemitische Realität, die Juden förmlich den Boden unter den Füßen wegzog, andererseits der Versuch, in der Kunst das Schweben und das Nicht-Verwurzelte als positiven Gegenentwurf zu einem solchen Denken zu setzen.

Der reale Marc Chagall hat in seiner Autobiografie die Idee einer heimatlichen Verwurzelung mit einer Krankheit verglichen. Dagegen setzte er die Leichtigkeit seines Aquarellpinsels, die schwebenden Figuren, die sich in ihrer Schwerelosigkeit über den antisemitischen Vorwurf der Heimatlosigkeit von Juden, der fehlenden gesellschaftlichen Verwurzelung, erheben.

In seiner „Klezmer“-Reihe greift Sfar diesen Aspekt des Werkes von Chagall auf, experimentiert mit Aquarellfarben, übernimmt Motive von Chagall und lässt seine Protagonisten, eine Klezmer-Band, sich förmlich vom Boden erheben und schweben.

Joann Sfar (Autor und Zeichner): „Klezmer Bd. 1-5“.
Avant-Verlag, Berlin 2007-2017. 148/128/148/120/128 Seiten. Je 19,95 Euro

Wie in Chagall in Russland erzählt Sfar in Klezmer vom alltäglichen Antisemitismus in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die spätere Vernichtung mit vorbereitet hat, von der Entstehung des Zionismus im zaristischen Russland, von Verfolgung und Unterdrückung der Juden und Roma, der Bedeutung von Musik damals wie heute und der zentralen Stellung der Stadt Odessa für die Geschichte des europäischen Judentums.

Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, dem damaligen Zarenreich unter Nikolaus II., treffen der jüdische Klarinettist Noe Davidovitsch, dessen Orchester von einer konkurrierenden Klezmerband umgebracht wurde, und die Sängerin Chava, die vor der Enge ihres Heimatdorfes flieht, aufeinander und schlagen sich nach Odessa durch. Gleichzeitig wird der junge Jaacov aus seiner Jeschiwa geworfen, weil er dem Rabbi den Mantel gestohlen hat. Auf seiner Wanderschaft, während der er sich von Gott lossagt, trifft er auf den streng gläubigen Juden Vincenzo, der auch in Chagall in Russland einen Gastauftritt hat. Gemeinsam retten sie den Roma Tchokola, der von Bauern an einem Baum aufgeknüpft wurde, und landen ebenfalls in Odessa. Beide Gruppen sind auf ihrem Weg permanent bedroht durch den Argwohn der bäuerlichen Landbevölkerung, deren Antisemitismus sich oft in tätlichen Angriffen äußert.

Im zweiten Band wird im Wesentlichen eine nächtliche Feier in Odessa beschrieben, während im dritten Band der Reihe die Musiker im Haus der nach Palästina ausgewanderten Scylla schließlich eine „autonome Künstlerrepublik“ gründen und mit dem organisierten Verbrechen von Odessa Bekanntschaft machen.

Man kann beobachten, wie Sfars im Umgang mit den Aquarellfarben immer virtuoser wird, von Album zu Album wird aber nicht nur die Form leichter, sondern auch der Inhalt, der begleitet wird von der Entwicklung der Protagonisten, die sich mehr und mehr von den gesellschaftlichen Zwängen lösen, von den Bildern und Stereotypen, die auf sie als Juden projiziert werden. Mit dem vierten Band hat Sfar ein weiteres Level der Loslösung der Zwänge erprobt.

Er bricht völlig mit den Erwartungen an die Narration im Comic, indem er kaum mehr Comic-Panels zeichnet, sich vielmehr an einem Skizzenbuch orientiert. Diese Auflösung der Comicform – und auch die in diesem vierten Band vollzogene Wendung von Aquarellfarben hin zu Buntstiften – ist nur die konsequente Weiterführung der in „Klezmer“ verhandelten Versuche der Protagonisten, Fluchtwege aus den auf sie projizierten Klischees zu finden. „Ich würde gern die Juden aus meinem Dorf nehmen und sie in meinen Bildern in Sicherheit bringen“, zitiert Sfar Marc Chagall im ersten Band von „Klezmer“.

Das Werk Joann Sfars nimmt diesen verzweifelten Versuch des Künstlers auf, lässt ein jüdisches Leben in seinen Bildern auferstehen, die dabei jedoch immer von einer Trauer darüber durchzogen sind, dass die Welten, die er erschafft, nur hier und niemals mehr in der Realität vorhanden sind.

Dieser Text erschien zuerst am 05.01.2013 in: Der Freitag

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

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