Enthemmung und Entgleisung – „Die Tragödie der Belladonna“

© Rapid Eye Movies

Wie jeder klassische Animationsfilm beginnt auch das von Eiichi Yamamoto 1973 inszenierte, von Manga-Meister Osamu Tezuka produzierte Meisterwerk „Die Tragödie der Belladonna“ mit weißem Papier. Doch während die meisten Animationsfilme diesen Umstand gern verschweigen, legt „Die Tragödie der Belladonna“ diese materielle Grundlage zu Beginn völlig offen. Dann kommt ein schwarzer Strich ins Sichtfeld, der Differenz und Komplexität schafft. Ähnlich wie im Fall der Emakimono, der japanischen Bilderrollen, die als historische Vorläufer der heutigen Manga gelten, entrollt sich der Film anhand dieser schwarzen Linie: Sie nimmt Gestalt an, wird komplexer, figürlicher. Bald kommen erste Farbtupfer ins collagierte Bild; wo zuerst schlichtes Weiß zu sehen war, entsteht bald ein Wimmelbild – auch wenn Bewegung zunächst allein der Kamera vorbehalten ist. „Die Tragödie der Belladonna“ erarbeitet sich jedes Mittel des Animationsfilms Schritt für Schritt – nichts ist einfach nur zuhanden. Den narrativen Kontext bietet derweil ein Voiceover – „Die Tragödie der Belladonna“ ist ein Erzähl-Film im eigentlichen Sinn des Wortes (man könnte vielleicht tatsächlich an die spezifisch japanische Kinotradition des Benji denken, des Kinoerzählers neben der Leinwand). Was zu Folge hat, dass er manchmal wie ein illustriertes Hörbuch wirkt – überraschenderweise allerdings dabei kein bisschen unfilmisch, ganz im Gegenteil: Die „Filmizität“ liegt in der Verschränkung der Mittel, die nicht miteinander verschmelzen, wie das bei den Trickwelten der klassischen Disney-Filme der Fall ist, sondern die nebeneinander, aber zueinander im Bezug stehen.

Ein sonderbarer Film. Nichts erinnert an den Kulleraugen-Stil, mit dem man den japanischen Zeichentrickfilm im Westen für gewöhnlich in Verbindung bringt. Auch die ligne claire, für die insbesondere Tezuka steht, fehlt. Stattdessen: wasserfarbenartig-klecksige Flächen, Aquarell-Stil, kaum einmal ein nach Maßgaben eines realistischen Registers definierter Raum. „Die Tragöde der Belladonna“ zeigt keine in sich ruhende Erzählwelt, sondern folgt den Erzählpartikeln und -verläufen assoziativ, in zur Abstraktion neigenden, oft mit dem Charme des Unfertigen spielenden Bildern. Dann: Am Jugendstil geschulte Schnörkel, wie mit Filzstift ausgefüllt wirkende Flächen, schließlich der grelle Primärfarben-Exzess der zu runden Flächen neigenden, psychedelischen Pop-Art etwa eines Peter Max, abwechselnd mit schrulligeren Bildern, die an Hokusais groteske Körper erinnern. Und trotzdem, das ist das wirklich Interessante, verhandelt „Die Tragödie der Belladonna“ diesen Exzess der Formen geradezu kontrolliert: Nie setzt der Film einfach nur auf Enthemmung und Entgleisung – für einen Animationsfilm ist „Die Trägödie der Belladonna“ oft sparsam im Umgang mit Bewegung. So wie er ein Erzähl-Film ist, ist er auch ein Bilder-Film: Oft erzählt er anhand von kommentierten, ruhenden Zeichnungen, die mal im Bilderrahmen bereits aufgehen, mal im panning shot – eben wie bei einer Bilderrolle – von der Kamera abgetastet werden. „Die Tragödie der Belladonna“ ist ein höchst „unreiner“ Film, in dem gerade die Spannungen enormen Reiz entwickeln: Er ist modern und grell, durch und durch Pop im Sinn einer zeitgenössischen Populär-Avantgarde, deren Grundsteine in den 60ern die Beatles gelegt haben, auch die musikalische Untermalung liegt auf der Höhe der (damalige) Zeit – irgendwo zwischen schwitzigem Prog und psychedelischem Jazz. Aber er bedient sich bei Stilistiken und Strategien, die 1973 schon historisch sind – und macht daraus einen 1A-Film für Tüten- und Löschblatt-Aficionados.

Unrein ist er auch insofern, als es in ihm um erwachsene Themen geht: um das Trauma einer Vergewaltigung, um körperliches Begehren, um das Motiv der phallischen Frau. Zugrunde liegt Jules Michelets 1862 in Frankreich veröffentlichte Abhandlung „La Sorcière“, in der sich der Autor mit dem Satanismus und dem Hexenkult befasst. Die Hexen des Mittelalters deutet er als Form der Rebellion gegen die Zumutungen des Feudalismus und der katholische Kirche. Von der historischen Forschung ist das Buch längst überholt, doch gilt es als einer der ersten Texte, die Verständnis und Sympathie aufbringen für die Lage der betroffenen Frauen. Aus dieser Inspirationsquelle destilliert „Die Tragödie der Belladonna“ eine Art „Jeanne d’Arc“-Stoff: Eine junge Frau, Jeanne, wird noch in der Nacht ihrer Hochzeit mit Jean von einem Baron brutal vergewaltigt. Ein phallisch geformter Geist verspricht ihr im Folgenden Erlösung – als sie sich auf ihn einlässt, gibt er sich als der Teufel zu erkennen, der Jeanne magische Kräfte verleiht, mit der sie sich am Baron und ihrem Dorf rächt. 1973, als die zweite Welle des Feminismus in voller Brandung war und sich das Exploitationkino mit Vorliebe Rape’n’Revenge-Stoffen zuwandte, liegt ein solcher Stoff wieder in der Luft.

Die Zeiten, in denen Kritiken zu Zeichentrickfilmen mit dem entschuldigenden Satz „Zeichentrick ist nicht nur Kinderkram“ eingeleitet wurden, sind noch nicht allzu lange her, doch glücklicherweise überwunden. Dankenswerterweise ruft diese wieder ins Kino gebrachte, nach Kinemathekenrecherchen aufwändig rekonstruierte und in strahlenden Farben restaurierte „Belladonna“ ins Gedächtnis, wie erwachsen das Animationskino auch schon vor solchen begütigenden Erklärungen gewesen ist, aus welchem Formenreichtum einmal geschöpft wurde: Die frühen 70er waren auch in diesem Segment der Filmproduktion eine Zeit des künstlerischen Aufbruchs. In Frankreich entstand René Laloux‘ faszinierender „Planète Sauvage“, in Italien arbeiteten Bruno Bozzetto, den man in Deutschland vor allem wegen „Herr Rossi“ kennt, und Osvaldo Cavandoli („La Linea“), in den USA verbrüderte Ralph Bakshi den Zeichentrick mit der Subkultur der Metropolen – wenig später hielt der pop-anarchische 70er-Geist sogar im bildungsbürgerlich aufgehobenen Gallien Einzug, in „Asterix erobert Rom“, dem schönsten und witzigsten aller Asterix-Filme.

Der „Tragödie der Belladonna“ war seinerzeit kein Erfolg beschieden – das Berlinale-Publikum reagierte indifferent, die Produktionsfirma ging bankrott, der Film fristete ein Schattendasein als Kultfilm bei DVD-Labels für Spezialisten. Umso schöner, dass er heute wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrt: Yamamotos Film ruft schlagartig in Erinnerung, welche reichen Paletten des künstlerischen Ausdrucks einem Animationsfilm zur Verfügung stehen und welchen immensen Verlust es darstellt, wenn ästhetischer Fortschritt in diesem Genre heute fast ausschließlich an der fotografisch-realistischen Qualität computeranimierter Fellbehaarung antropomorpher Wesen bemessen wird. Eine Tragödie, fürwahr.

Dieser Text erschien zuerst am 31.08.2016 auf: perlentaucher.de

Die Tragödie der Belladonna
OT: Kanashimi no Beradona
Japan 1973

Regie: Eiichi Yamamoto – Drehbuch: Yoshiyuki Fukuda, Eiichi Yamamoto – Musik: Masahiko Satô – Verleih: Rapid Eye Movies – 89 Min. – FSK: ab 16 Jahren – Kinostart: 07.06.2018 – DVD/Blu-ray: 25.11.2016

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.