Wenn aus Glaube Praxis wird – „Kramer“

Ihre Güte soll der jungen Elsa zum Verhängnis werden. Schon oft hat sich ihre Mutter daran gestört, dass sie Straßenkinder in der Scheune schlafen ließ, ihnen zu Trinken und zu Essen gab. Dass eines dieser Kinder unter der Folter und den manipulativen Psychospielen der katholischen Inquisition behaupten würde, sie sei eine Hexe, hätte sich die junge Frau aber nicht träumen lassen. Heinrich Kramer Institoris, Verfasser des „Malleus Maleficarum“ oder auch „Hexenhammers“, soll nun über ihr Schicksal entscheiden.

Natalie Obermaier (Autorin und Zeichnerin): „Kramer“.
Zwerchfell, Stuttgart 2018. 192 Seiten. 20 Euro

„Kramer“ ist eine ambitionierte, besondere Graphic Novel, die durch ihre historische Titelfigur jedoch schnell falsche Erwartungen wecken kann. Natalie Ostermaiers immens atmosphärische Zeichnungen bieten nämlich kaum eine historische Auseinandersetzung mit jenem Dominikaner, der im Namen der Kirche so viele Menschenleben auslöschen ließ. Das bemerkenswert wertige und elegante Hardcover beinhaltet stattdessen eine mittelalterliche Horrorstory, die gekonnt die so wundervoll im Klappentext herausgearbeitete Moral darlegt: „Doch frage dich nicht, an welchen Gott du glaubst. Frage vielmehr: Welcher Gott glaubt an dich?“

Auch wenn Folterszenen und Kramers überbordende, detailreich präsentierte Sexualfantasien zentrale Bestandteile der Erzählung sind, wäre es ungerecht, sie den vielen großartigen Symbolbildern überzuordnen. Dennoch liegt in der Spannung dieser beiden Elemente der wesentliche Kritikpunkt an „Kramer“. Die durchaus expliziten Bebilderungen von Kramers wiederkehrenden Liebesspielen mit einer dämonischen Dame sind für sich nicht geschmacklos oder grenzüberschreitend. Da haben Comicleser, die nicht allergisch auf die Darstellung nackter Haut oder Gewalt reagieren, schon deutlich härtere Kost serviert bekommen. Es ist einfach etwas schade, dass diese durchaus aufwändig gestalteten Sequenzen so schonungslos ausformulieren, was kunstvoll drapierte Vorhänge oder geschickt positioniertes Obst mit so viel Eleganz und Klasse zuvor angedeutet haben. Die schöne Subtilität wird so leider einige Male unter dem Dampfhammer begraben.

Den tollen Bildern, irgendwo zwischen Bleistiftskizze, dezent manga-eskem Charakterdesign und kupferstichartigen, herrlich aufwendigen Schraffuren, schadet dieser Punkt aber überhaupt nicht. Und diese so großartige wie eigenständige Optik sorgt gemeinsam mit der exzellenten Verarbeitung des wirklich hübsch geratenen Buches dafür, dass man gern über ein paar erzählerische Bodenwellen des pfiffigen Grusel-Gleichnisses hinwegsieht.

Dieser Text erschien zuerst auf: DeinAntiheld.de

Mattes Penkert-Hennig ist Betreiber des Online-Comicmagazins DeinAntiHeld.de, Autor für Comic.de und den Berliner Tagesspiegel, war Juror beim „Rudolph Dirks Award“, Panelmoderator auf Comicmessen und hat zahlreiche Video-Interviews mit internationalen Comic-Künstlen geführt. Darüber hinaus produziert er animierte Video-Trailer für Comics und artverwandte Medien.