Hier geht es um Machtstrukturen

Zu Beginn sieht man eine karge, metallene Deckenlampe, im nächsten Bild die gleiche Deckenlampe in leicht verschobener Perspektive, als ob da jemand eine Lampe anschaut und den Kopf ein bisschen bewegt. Dazu steht im Text, dass ein 13-Jähriger nicht versteht, warum er in die Erfahrung des Internats geworfen wird, das er es als Verrat empfindet.

Danach bevölkern nur noch Etagenbetten die Seiten, deren gleichförmige Rohrgestelle sich in den unterschiedlichen Perspektiven gegeneinander verschieben. Kummer zeichnet, wie Bernhard Sätze baut: immer das Gleiche, immer in Variationen. Und er macht mit seinen Zeichnungen schon von Anfang an klar: Hier geht es um Strukturen – vor allem um Machtstrukturen.

Lukas Kummer (Autor und Zeichner), Thomas Bernhard (Text): „Die Ursache“.
Residenz Verlag, Salzburg 2018. 112 Seiten. 22 Euro

„Die Ursache“ ist das erste Buch von Thomas Bernhards fünfbändiger Autobiografie. Es geht um die Naziideologie, die Anfang der Vierzigerjahre in Bernhards Schule und dem Internat herrschte. Und es geht um die unmenschlichen Züchtigungen, die nur die Anpassung an ein System zum Ziel hatten. Und es handelt davon, wie nach dem Ende des Nationalsozialismus einfach nur die Ideologie ausgetauscht wird. Schule und Internat werden katholisch, die Züchtigungen und der Anpassungsdruck aber bleiben gleich.

Ein Gesellschaftsporträt der Vierziger- und Fünfzigerjahre

Die Comicadaption von „Die Ursache“ ist vor allem ein Gesellschaftsporträt. Das hatte Thomas Bernhard schon so angelegt – und zwar auch durch seine Sprache. Er schreibt nicht nur „Ich“, sondern schreibt auch von sich in der dritten Person – vor allem, wenn es persönlich wird. Zum Beispiel als er beschreibt, wie er in der Schuhkammer der Schule seinen einzigen Rückzugsort fand: vor all den Demütigungen und Züchtigungen des Nazi-Direktors. Wie er dort Geige spielte und an Selbstmord dachte.

Und Lukas Kummer zeichnet dazu einen Jungen vor riesigen Schuhregalen, die mit ihren geraden Linien wie ein Gefängnis wirken. Auch dieses Bild wiederholt er immer wieder, mit kleinen Variationen: hebt den Geigenbogen an, streicht über die Saiten, lässt den Kopf sinken. Darüber Satzfragmente von Thomas Bernhard, die von der Not des Schülers berichten, von seiner Erschöpfung und dem Schweißgeruch der Kammer. Lukas Kummer verstärkt durch seine Zeichnungen vor allem die Gefühle, die Bernhard durch seinen Text vermittelt.

Die Bigotterie der Handelnden ist zeitlos

Die Erziehungsmethoden sind heute sicher ganz andere als damals. Die Bigotterie, die Bernhard und Kummer herausarbeiten, ist aber ziemlich zeitlos: Dass immer wieder Zwang und noch unmenschlichere Mittel angewendet werden, weil sie einem angeblich guten Zweck dienen. Dass die Schulleiter ihr Handeln nie infrage stellen, auch wenn es deutliche Anzeichen gibt, dass da etwas schiefläuft – eine enorm hohe Selbstmordrate unter Schülern zum Beispiel.

Und Lukas Kummer konzentriert den Originaltext. Thomas Bernhard hat immer wieder seine Einschätzungen über Menschen im Allgemeinen und die Handelnden im Besonderen niedergeschrieben. All das lässt Lukas Kummer weg – und mit den Beschreibungen verschwindet auch viel Zeitgeistiges aus den Siebzigerjahren, als Bernhard „Die Ursache“ geschrieben hat.

Kummer nimmt Textstellen, die Fakten und Beobachtungen enthalten, und verdichtet sie durch seine sehr einfachen, gradlinigen Zeichnungen. Das ist ausgesprochen lesenswert.

Dieser Text erschien zuerst am 08.01.2019 auf kulturradio rbb.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Die Ursache“.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.