„Für mich ging es darum, das Denken zurückzuerobern“

Sie hat „Die Leichtigkeit“ (zum Buchtipp) geschrieben und gezeichnet, „um ihre Haut zu retten“, sagt Catherine Meurisse im Interview. Die Comickünstlerin und Pressezeichnerin erzählt im Gespräch von ihren Anfängen bei Charlie Hebdo, von der emotionalen Taubheit nach dem Anschlag auf die Redaktion und dem Weg mittels Kunst und Literatur zurück ins Leben.
Mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags veröffentlicht Comic.de exklusiv das Presse-Interview mit Catherine Meurisse.

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Foto © Dargaud / Rita Scaglia

Liebe Catherine Meurisse, könnten Sie uns zu Beginn über Ihre Anfänge als Comickünstlerin und Pressezeichnerin erzählen? Was hat Ihr Interesse für diese Kunstformen geweckt? Hatten Sie Vorbilder?
Mit Pressezeichnungen habe ich eher zufällig angefangen, als ich noch an der Ecole St. Etienne studierte, in Paris (Nationale Hochschule für die grafischen Künste). Ich nahm an einem Wettbewerb für Pressezeichnungen teil, den die Schule veranstaltete, und gewann den ersten Preis. Das war 2001. Ich war damals 21 Jahre alt. Tignous und Honoré, die der Jury angehörten, waren begeistert und luden mich ein, in der Redaktion von Charlie Hebdo vorbeizukommen und meine Arbeiten vorzustellen, was ich dann auch sehr verschüchtert tat. Das Zeichnerteam dort war zu dieser Zeit ausschließlich männlich, ich war die erste Frau, die die Tür zu diesem Blatt aufstieß … Was, nebenbei gesagt, Cabu große Freude bereitete. „Endlich ein Mädchen!“, sagte er. Bis dahin hatte ich noch nie auf dem Gebiet der Pressezeichnung gearbeitet, doch ich kannte mich in der Geschichte der satirischen Zeitungen aus (Charlie Hebdo, Hara Kiri, Le Canard enchaîné, Simplicissimus, etc.), was es mir erleichterte, sehr schnell Teil der Gruppe zu werden. Zuvor war es mir nie in den Sinn gekommen, Pressezeichnerin werden zu wollen, ich träumte vor allem davon, schöne illustrierte Bücher zu machen, wie die von Gustave Doré etwa … Aber ich bin spöttisch veranlagt, und meine Zeichnungen waren von Kindheit an immer humoristisch. Also war es recht natürlich, dass ich mich in Richtung Karikatur und tagespolitische Zeichnung orientierte. Allerdings konnte ich mich nicht in nur eine Schublade sperren lassen, und meiner Begeisterung für das Zeichnen in all seinen Formen wegen, habe ich sehr bald parallel drei Berufszweige ausgeübt: Pressezeichnerin, Kinderbuchillustratorin und Comicautorin. Meine Vorbilder sind die großen Zeichner des 19. Jahrhunderts, das Jahrhundert, das die Entstehung des Massenmediums Presse erlebt hat, und die des beginnenden 20. Jahrhunderts: Daumier, Granville, Doré,Steinlen, Gus Bofa, Georg Grosz, Karl Arnold … Auch die Feinsinnigkeit und den Humor der angelsächsischen Zeichner schätze ich: Saul Steinberg, Chas Addams, die legendären Zeichner des New Yorker. Es war mir immer wichtig, meinen kulturellen Horizont zu erweitern und unterschiedlichste Einflüsse zu verarbeiten. Wenn ich über eine politische Karikatur nachdenke, kommen mir Quentin Blakes Zeichnungen in den Sinn, die von Claire Brétecher, Tomi Ungerer oder Sempé, die alle nie Politik gemacht haben; umgekehrt ist es so, dass ich an Reiser und Cabu denke, wenn ich Literaturillustrationen oder Comics mache, die keinen Bezug zum Tagesgeschehen haben. Wir Zeichner in den Dreißigern haben ein ungeheures Glück, solche Genies als leuchtende Vorbilder zu haben. Im Übrigen schiele ich mit einem Auge auch immer nach der Malerei: von Dürer über Delacroix bis zu Cy Twombly …

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Wie sind Sie zu Charlie Hebdo gekommen und welche Position hatten Sie in der Redaktion inne?
Charlie Hebdo (und sein Vorgänger Hara Kiri) sind einzigartig in der französischen und europäischen Presselandschaft. Seit den Sechziger Jahren ist das wie eine Blase der Freiheit, der fröhlichen Revolte, der Waghalsigkeit. Wie ich ja in „Die Leichtigkeit“ geschrieben habe: Ich glaube, dass die Charlie-Zeichner im Grunde immer gezeichnet haben, um den Tod nicht fürchten zu müssen. Anstatt dem Wissen um unsere Endlichkeit mit Fatalismus oder Spiritualität zu begegnen, haben sie sich für das Lachen entschieden. Das oft falsch interpretierte Bild von Charlie ist das eines lustigen Haufens rüpelhafter Provokateure. Dabei vergisst man, dass sich in den Seiten der Zeitung außerordentliche Stimmen fanden, zum Beispiel Bernard Maris, Cavanna, Wolinski oder Gébé, und dass die Rüpelhaftigkeit eines Charb oder eines Reiser der von Rabelais oder Voltaire in nichts nachstand.

Als ich bei Charlie anfing, sagte mir Philippe Val, der damalige Leiter: „Charlie wird dein Labor sein, du kannst dort machen, was du willst, Fehler machen, wieder von vorne anfangen.“ Mit anderen Worten: Dort bist du frei. Was mich selbst betrifft, so hat mich das Politische nie sonderlich interessiert, ich habe immer gesellschaftliche oder kulturelle Themen bevorzugt. In zehn Jahren habe ich viel zu tagesaktuellen Themen gezeichnet, ich habe Reportagen über Migranten gemacht, über illegale Einwanderer, über schadhafte Kernkraftwerke, was mir jegliche Unschuld genommen hat. Aber im Gegensatz zu Cabu etwa habe ich mich immer mehr als Zeichnerin denn als Journalistin verstanden. Ich bin viel zu verträumt, um Journalistin zu sein. Deshalb habe ich es geliebt, Reportagen in Theatern zu machen, bei Konzerten, Opern, über Ausstellungen. Dort habe ich die Kulissen gezeichnet, die Darsteller oder die Reaktionen des Publikums. Cabu wurde es nie leid, Politiker zu zeichnen und die Hässlichkeit der Welt. Um dieser Hässlichkeit nicht überdrüssig zu werden, habe ich mich intuitiv immer der Kultur zugewandt. Ich habe es geliebt, die Künstler zu beobachten, wie sie die Welt beobachten. Diese Hinwendung zur Kunst steht im Zentrum von „Die Leichtigkeit“, ganz so als ob mich, nachdem ich am 7. Januar 2015 von einem Tsunami politischer Gewalt überrollt worden war, Kunst und Kultur zu einem neuen, dringlichen Stelldichein gerufen hätten.

Im Herbst 2016 habe ich Charlie Hebdo endgültig verlassen. Wie ich es in „Die Leichtigkeit“ geschrieben und gezeichnet habe, schlage ich eine neue Seite auf, und habe beschlossen, mich dem Comic zu widmen.

OD_9783551734242-die-Leichtigkeit_Cover_A01.indd„Die Leichtigkeit“ beschreibt zartfühlend Ihre „Nach-Charlie-Zeit“, die Schwierigkeit, nach dem Chaos wieder zum Stift zu greifen. Wann und wie haben Sie die Arbeit an dem Album begonnen: mit einer Zeichnung? War es die Vorstellung des Weitermachen-müssens? Oder ganz allgemein die Lust am Erzählen?
Die ersten Monate des Jahres 2015 waren, wie Sie sich vorstellen können, und wie ich es in meinem Buch beschreibe, äußerst bedrückend. Nach dem Attentat war es für uns – die Überlebenden von Charlie – notwendig, ständig als Gruppe zusammenzubleiben, gemeinsam über die Zukunft des Blatts nachzudenken, uns gegenseitig zu stützen, keinen von uns aus den Augen zu verlieren, die Verletzten, die Unversehrten, die den Toten Nahestehenden.

Wir definierten uns über das „Wir“. Dann begann der Zeichner Luz, als er ankündigte, einen Comic, „Katharsis“, herauszubringen, „Ich“ zu sagen. Zunächst hat mich das betroffen gemacht, schockiert geradezu, ich dachte, Luz würde uns im Stich lassen … Bis ich dann begriff, dass er recht hatte: Nach dem „Wir“ musste nun „Ich“ gesagt werden, um hoffen zu dürfen, dem Chaos zu entrinnen und die eigene Identität wiedererlangen zu können. Ich beschloss, meinerseits „Ich“ zu sagen und die Unordnung, die in mir herrschte, zu Papier zu bringen. Die erste Zeichnung, die ich machte, fünf Monate nach dem Massaker, war das Titelbild von „Die Leichtigkeit“. Die anderen Zeichnungen folgten darauf im Wechsel mit Textfragmenten. Für mich ging es darum, das Denken zurückzuerobern, Kohärenz, Gefühle, Erinnerungen, nach und nach wieder zusammenzufügen, was mir durch den traumatischen Schock des 7. Januar abhanden gekommen war. Das war von solcher Dringlichkeit, dass Texte und Zeichnungen sich von allein einstellten, wie eine Selbstverständlichkeit.

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Im Angesicht des Strudels der Ereignisse scheinen Natur und Kultur zu den Pfeilern geworden zu sein, an die Sie sich klammern konnten. Hat Sie das in die Lage versetzt, das Trauma zu überwinden?
Ja. Die menschliche Gewalt an diesem 7. Januar war von solchem Ausmaß, dass ich – um nicht annehmen zu müssen, die Welt würde vollends ins Makabre abgleiten – zu den Ursprüngen zurückkehren musste, mich dem annähern, was vor dem Horror war, vor dem barbarischen Akt, vor dem Menschlichen sozusagen! Die Natur hat mir sehr geholfen, ich bin viel alleine umhergestreift, am Meer, auf dem Land, in den Bergen. Der Wind, das Licht, der Regen, das Betrachten von Bäumen können sich als unvermutete Verbündete erweisen.

Auch die Kultur war eine wertvolle Hilfe. Theaterbesuche, ein Gemälde zu betrachten ohne jeglichen intellektuellen Vorbehalt (durch den Schock des 7. Januar hatte ich auf Monate hinaus sowohl Erinnerung als auch die Fähigkeit zu geordnetem Denken verloren), das hat mir geholfen, die innere Ruhe zurückzugewinnen. In den Tagen nach dem Attentat und das ganze Jahr 2015 hindurch, war ich unmittelbar und instinktiv wie besessen von Schönheit. Schönheit, als Gegenpol zu Chaos und Gewalt.

Als Schönheit begreife ich die Natur, die Kultur und die Freundschaft (die freundliche Zuwendung derjenigen, die sich um mich gekümmert oder sich nach dem Attentat einfach gemeldet haben, hat mich vollkommen überwältigt). Meinen Blick auf diese schönen Dinge zu konzentrieren, wurde zu meiner Überlebensstrategie.

Könnten Sie uns erklären, wie der Titel Ihres Buchs zu verstehen ist, was verstehen Sie unter dieser Leichtigkeit?
Leichtigkeit steht für all das, was ich am 7. Januar verloren habe, und was ich wiederzuerlangen suche. Das Lachen – mit anderen zu lachen, andere zum Lachen zu bringen. Die Sorglosigkeit, die Freiheit, die Energie, den Elan, das Vermögen, Erhabenheit zu empfinden … „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, um Kunderas Titel aufzunehmen, oder vielmehr die unverzichtbare Leichtigkeit des Seins. Die Leichtigkeit aber auch bezüglich des Zeichnens. Ich gehöre zur Familie der Zeichner mit hingeworfenem, spontanem Strich, die sich nicht mit Ausschmückungen befassen. Ich zeichne mit der Feder. Ein leichtes Handwerkszeug … federleicht sozusagen. Das Zeichnen, wie wir es von Kindesbeinen an betreiben, hat etwas ungemein leichtes. Ich vermag nach wie vor nicht zu begreifen, wie man im Januar 2015 „Leute, die zeichnen“ hat töten können.

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Ein zentrales Element Ihrer Erzählung ist Ihre Beschäftigung mit den Werken des französischen Autors Stendhal, und speziell mit dem psychologischen Phänomen „Stendhal-Syndrom“, das nach ihm benannt wurde.
Nach dem Anschlag ist das Wort Schönheit zu einer Besessenheit geworden. Ich suchte nach Veränderung, Verklärung, Rettung, wollte reingewaschen werden vom 7. Januar. Ich war der Überzeugung, nur ein machtvoller ästhetischer Schock könne die beispiellose Gewalt des 7. Januar tilgen. Gleichzeitig wollte ich Paris entfliehen, der blutgetränkten Stadt. Die Villa Medici, Residenz französischer Künstler in Rom, erschien mir als der ideale Zufluchtsort.

Dort tauchte der Begriff „Stendhal-Syndrom“ auf. Stendhal ist der Italien liebende Franzose schlechthin. Er ist mir ebenso vertraut wie Flaubert, Balzac und all diese Künstler des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der satirischen Presse, sowie der aufkommenden Romantik, des Bewusstseins für den eigenen Platz in der Natur. Für mich, die bestrebt war, nach der Erschütterung des 7. Januar meine Erinnerung, die Schönheit, meine Kultur, meine Identität zurückzuerlangen, war das ideal.

Also ging ich nach Rom, in der Tasche ein Buch von Stendhal, „Römische Spaziergänge“, mit dem festen Willen, angesichts der Schönheit denselben Schwindel zu erleben wie er. Ich dachte, der Autor würde mein Führer werden, sowohl durch die ewige Stadt als auch bei der Suche nach Schönheit, nach Zeit, die nur sich selbst genügt. Letztlich verbrachte ich meinen Aufenthalt in Italien aber nicht mit der Nase ständig in seinem Buch, und habe auch die dem Stendhal-Syndrom eigene Ohnmacht nicht erfahren. Und das ist umso besser. Ich wurde nicht ohnmächtig, im Gegenteil, ich wurde aus meiner Erstarrung gerissen, ich entstieg ihr mit gewaltig geweitetem Blick, der mich mit vollem Bewusstsein die ganze Schönheit Roms, der Villa Medici, Italiens, der Künste, der Landschaft hat erfahren lassen. Ich lief in Rom in einem Zustand der Hypersensibilität herum, der mich darüber klar werden ließ, was die lebenswichtigen Dinge sind: Schönheit, Freundschaft. Die in der Villa Medici lebenden Künstler, größtenteils in meinem Alter, Stendhal, Caravaggio … die Lebenden und die Toten, denen ich in Rom begegnete, haben mich gerettet, ohne es zu ahnen.

Ihre Graphic Novel ist episodisch und fragmentarisch erzählt, ergibt aber ein organisches Ganzes. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen? War die Struktur von vornherein klar?
Wenn ich einen Comic beginne, mache ich mir nie Gedanken über das Format, es ist der Inhalt, der die Form bestimmt. Bei diesem Buch mehr denn je: „Die Leichtigkeit“ ist eine Arbeit der Rekonstruktion, des Sammelns von Bruchstücken meiner selbst. Die Form konnte nichts anderes sein als ein Zusammenfügen von Fragmenten, sie bildet den Kampf um den Erhalt einer Identität, aller Unordnung zum Trotz, ab. Ich habe meinen Werkzeugkasten in Abhängigkeit von den Notwendigkeiten geöffnet, an einem Tag konnte es das Pastell sein, an einem anderen das Aquarell. Dann habe ich Sorge getragen, dass alles kohärent, stimmig bleibt.
Es gab nicht das Ziel, „Die Leichtigkeit“ im Format der Graphic Novel zu verhandeln, ich habe lediglich versucht, meine Haut zu retten, indem ich ein Buch machte.

Welches sind Ihre laufenden und zukünftigen Projekte?
Ich werde das Projekt wiederaufnehmen, das einen Monat vor dem Attentat mit Dargaud vereinbart wurde, „Les Grands Espaces“, ein Comic über meine Kindheit auf dem Lande. Ich führe meinen Strip „Scènes de la vie hormonale“ weiter, der wöchentlich in Charlie Hebdo erscheint: verwirrt-verwirrende Geschichten über Liebe und Sex … Geschichten von heute, voller Leichtigkeit.

Das Gespräch führten Delphine Bonardi und Filip Kolek

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