Sieben Tage Warschau – „Das Erbe“

Comics definierten einst eine kulturelle Grenze. Zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Pop und Kunst, zwischen Underground und Mainstream, zwischen niedrig und hoch, zwischen naiv und kompliziert. Auch der Unterschied zwischen Comic-affinen und dem Genre feindlichen Kulturen wie der deutschen war früher einmal gewaltig. Mittlerweile sind Comics eine lingua franca geworden. Das Medium hat etwas von seiner Massenwirksamkeit an neue elektronische Formen von Unterhaltung und Information abgegeben; ökonomisch erlebt es eher eine Krise als einen Boom. Aber zur selben Zeit ist es auch erwachsen geworden. Die zeitaufwendige, subjektive und handwerkliche Produktionsweise wirkt verlässlicher und ehrlicher als die Echtzeit- und Netz-Informationen und scheint insbesondere geeignet, heikle Themen, dissidente Perspektiven und biographische Gesten aufzugreifen. Seit Art Spiegelmans „Maus“ wissen wir, dass auch das geht: vom großen Menschheitsbruch, vom Holocaust, in Comic-Form zu erzählen. Wie und warum es möglich ist, das machte Spiegelman zugleich zu einem Thema, weil das Genre eine Form des Distanzierens, sogar der Maskerade erlaubt, in der man seinem Gegenstand näher kommen kann, als es die Literatur, der Film, die Malerei, die Fotografie, die Reportage und das Tagebuch erlauben. So verwundert es nicht einmal, dass in der Welt von Handy-Fotografie und Bilder-Blogs das Genre der Comic-Reportage gedeiht. Und schon gar nicht, dass man sich in diesem Medium den Geistern der Vergangenheit widmen kann, eine besondere Form des graphischen Reenactment. Annäherung durch Stilisierung.

Rutu Modan (Text und Zeichnungen): „Das Erbe“.
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Carlsen Verlag, Hamburg 2013. 240 Seiten. 24,90 Euro

Der Sammelbegriff für diese neue Erzählweise, nicht Serie, nicht episodische Variation, nicht Endlos-Epic, lautet „Graphic Novel“. Und der Comic-Roman hat in der Tat mit seinem literarischen Vorbild etliche Gemeinsamkeiten. Die abgeschlossene Form, den psychologischen Realismus, Veränderung und Abschied statt ewiger Wiederkehr. Und wie ein Roman enthält auch die Graphic Novel neben der Handlung Porträts von Menschen, Zeiten, Städten und Landschaften, man hat Zeit, sich Beschreibungen und Nebensächlichkeiten zu widmen. Und eben dies befreit auch das Graphische in der Graphic Novel: Die Zeichnungen sind gerade in der Romanform des Mediums nicht mehr unter das Diktat von Erzählung, Spannung und Pointe gezwungen. Wie einst der literarische Roman, so pflegt auch die Graphic Novel die Kunst der Abschweifung, die Kunst, Zeit abzubilden, die Kunst der Selbstreflexion.

All diese Vorzüge einer nun auch nicht mehr wirklich brandneuen Erzählweise scheinen in „Das Erbe“ von der israelischen Zeichnerin und Kinderbuchautorin Rutu Modan so perfekt vereint, dass man sich nicht wundert, dass diese Bildgeschichte zu einem veritablen Klassiker des Genres geworden ist. Man kann hier studieren, was die zugleich so altmodische und hochaktuelle Kunst des Comic-Genres zu bieten hat.

„Das Erbe“ ist zunächst ein Reiseroman, der von Tel Aviv nach Warschau führt. Die Großmutter der Heldin, Regina Segal, beschließt, nach dem Tod ihres Sohnes in ihre Geburtsstadt Warschau zu reisen, um dort ein Familien­erbe einzuklagen, das im Zweiten Weltkrieg verloren wurde. Die alte Dame fühlt sich dabei hin- und hergerissen und ist deshalb keinesfalls bereit, ihrer Enkelin Mica alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Nach und nach erfährt Mica die wahren Gründe für diese Reise, aber zur selben Zeit scheinen sich auch andere Leute für Regina Segal und ihre Ansprüche zu interessieren.

So legt sich über diese einfache Geschichte ein Hauch von Mystery und Thrill. Gewiss trägt die Geschichte autobiographische Züge, insbesondere die Gestalt der „schwierigen“ Großmutter wirkt nicht so, als könne man sie sich so einfach ausdenken; aber insgesamt ist es doch eine fiktive Geschichte. Eine Liebesgeschichte gibt es ebenfalls, dazu die Selbstreflexion des Mediums durch den Auftritt eines Comic-Zeichners, der in seinen Zeichnungen vielleicht zu viel vom Familiengeheimnis verrät. Spannend bis zum dann doch überraschenden Ende ist die Geschichte allemal. Denn Regina Segal wollte nie wirklich ein Erbe antreten, sie hatte vielmehr eine Botschaft zu überbringen. Aber was diese Geschichte wirklich aufregend macht, ist der genaue, leicht humorvolle Blick auf ein Leben, das seine letzten Geheimnisse nicht preisgeben kann. Zudem findet die Autorin wundervolle Bilder für das Nebeneinander vom alten und neuen Warschau. Dort bekommt die Graphic Novel auch Züge einer Comic-Reportage. Denn das Ausgangsmaterial für die Geschichte bietet die neugierige und gezielte Reise der Autorin nach Polen, das die Großmutter nur das „Land der Toten“ nannte und das eine komplizierte Einheit von Grauen und Nostalgie bildete. Nur im Comic kann man so genau beschreiben, wie Orte aus Realität, Erinnerung und Traum zusammengesetzt sind. Man sieht einen Platz, wie der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal sagte, nur wirklich, wenn man auch sieht, was nicht mehr zu sehen ist.

Es sind die vielen nebensächlichen Beobachtungen, die das Buch so reich machen. Das beginnt am Ben-Gurion-Flughafen, wo sich die Großmutter standhaft weigert, eine Flasche Wasser wegzuwerfen, nur weil das uneinsichtige Wachpersonal aus Sicherheitsgründen nicht zulassen will, dass sie sie mit ins Flugzeug nimmt. An Bord begegnet man nicht nur ausgelassenen Schülern auf dem Weg zum Gruppenbesuch in Warschau. Auch ein sonderbarer Bekannter drängt sich den beiden Frauen auf. Zu trauen ist ihm nicht. Aber ein wirklicher Schurke ist er auch nicht. Selbst die Verpflegung an Bord des Fluges von Tel Aviv nach Warschau ist Gegenstand der detaillierten Darstellung. Man nennt das wohl eine „verschärfte Wahrnehmung“.

Rutu Modan, 1966 in Tel Aviv geboren, benutzt die Stilform der ligne claire, nicht nur in der Zeichnung selber, sondern auch im dramaturgischen Aufbau. Es gibt pointierte Episoden, stumme Passagen, Panel-Folgen, die mit wenigen Perspektivwechseln eine Kamerabewegung imitieren, und eine klare Anordnung der Panels auf einer Seite. Die Nähe zu Hergé fällt auf den ersten Blick auf. Der graphische „Hergéismus“ prägt auch Modans frühere Arbeiten, die allesamt sehr nahe an der heutigen Wirklichkeit Israels und, wie ihr Comic „Mixed Emotions“, auch autobiographisch geprägt sind. Darin hält die Autorin ihre erste Reise nach New York und ihre Schwangerschaft in Bildern fest. „The Murder of the Terminal Patient“ ist ein Ausflug in den Mystery-Thriller, erdacht als wöchentliche Folge für das Magazin der New York Times. In ihrer zweiten Graphic Novel „Das Erbe“ beschäftigt Modan sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Sie liefert keine akkurate autobiographische Beschreibung, sondern geht assoziativ mit dem Erinnerten um.

Wie schon in der Bilderzählung „Exit Wounds“, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Blutspuren“ erschienen ist, arbeitet die Autorin mit einer sehr eigenen Technik des Acting-Painting: Sie lässt Schauspieler die Vorlagen für die Zeichnungen „spielen“, um eine genaue Vorstellung von einer stimmigen Bewegungsmelodie und der je eigenen Körpersprache der Figur zu bekommen. Einige dieser menschlichen Vorbilder sind bekannte israelische Schauspieler, die in gewisser Weise zu Mitautoren geworden sind und dazu beitragen, dass wir ein sehr lebendiges und durchkomponiertes Geschehen erleben. Die fotografische Matrix sorgt für eine anatomische und typologische Fehlerlosigkeit, die mit der graphischen Vereinfachung einen sonderbaren Kontrast bildet – als bliebe eben wirklich nur das Wesentliche. Aus einem Drehbuch wurde ein Storyboard und daraus wurde wiederum ein Set von filmischen Fotografien, die im letzten Produktionsschritt in den ligne claire-Comic übersetzt werden, den wir vor uns haben.

Comic-Produktionen dieser Art sind erheblich aufwendiger als die gewohnten, sie setzen sich aus zahlreichen Produktionsschritten, aus Reisen, Skizzen und Recherchen, zusammen und können sich am Ende nur amortisieren, wenn sie einen internationalen Markt erschließen. Das kann sich, wie im vorliegenden Fall, als Glücksfall erweisen, es ist allerdings auch eine Gefahr. Die Gestalten sind nicht mehr wirklich und allein aus dem Strich des Zeichners geboren, der Comic wird zum arbeitsteiligen Großprojekt. Aber eben auch zu einem multiinstrumentalen Projekt, oder sagen wir es anders: zur modernen Kunst.

„Das Erbe“ ist eine wichtige Ergänzung zu Art Spiegelmans „Maus“, eine Spiegelung, wenn man so will. Der Schwerpunkt der Geschichte liegt auf der Gegenwart, in die die Vergangenheit hineinragt. Der Ausgangskonflikt greift ein aktuelles gesellschaftliches Problem auf. Es geht um die Furcht vieler älterer und ärmerer Leute in Warschau vor der Vertreibung aus ihren Häusern durch die früheren Besitzer. Dieser Grundkonflikt von „Das Erbe“ ist dementsprechend unlösbar, es gibt keine gerechte Lösung, nur eine menschliche. Zweifellos ist der Grundton dieser Graphic Novel bei allen Seitenaspekten und Konflikten eher versöhnlich, sogar der Friedhof ist hier ein freundlicher Ort. Aber umgekehrt scheint alles Komische, was immer wieder aufscheint, nur das Vorspiel zur großen Tragödie: Das Komische funktioniert hier nicht im Sinne einer Entlastung, sondern macht gerade die Absurditäten der Geschichte deutlich. Etwa wenn Mica, die als Nahkampfausbilderin bei der Armee tätig war, was so ganz im Widerspruch zu ihrem eher zarten Äußeren zu stehen scheint, den kampfsportbegeisterten Sohn des polnischen Rechtsanwalts in einem Fight um eine Mohrrübe für sich einnimmt. Oder wenn ein eifriger junger Mann das berühmte Fotoplastikon von Warschau bedient, indem er immer wieder buchstäblich in die große Bildermaschine hineinkriechen muss, um die Bilder der Vergangenheit zu projizieren.

Das Erbe ist eigentlich nur ein Haus, viel weniger, als es die Nebenfiguren des Dramas erwarteten, und dieses Erbe anzutreten, würde anderen Kummer bereiten. Zudem ist da auch noch die Erinnerung an die große Liebe von Regina und Roman, die in den kräftig-zartesten Farben beschworen wird, die sich abseits des Kitsches auf der Palette befinden. Es geht um die Erinnerung, die zwischen den Romanen der Täter und den Romanen der Opfer verlorenging.

In ihrer Familie, sagt die Autorin, sei nie über den Holocaust und die europäische Vergangenheit gesprochen worden. Die Kids in „Das Erbe“ streiten sich darum, welches das heftigere Konzentrationslager war, Mica gerät in ein groteskes „Reenactment“ des Kampfes um das Warschauer Ghetto, ein Lehrer erklärt, während er ein Flugzeugmenü verspeist, wie wichtig es für die Schüler sei, von „Überlebenden“ an die Stätten der Vernichtung geführt zu werden: „Okay, Montag Treblinka, Dienstag Majdanek, inklusive Gaskammern… Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger.“ Beim historischen Rollenspiel steigert sich ein junger Mann allzu sehr in die Rolle eines SS-Mannes beim Abtransport der durch den „Judenstern“ gekennzeichneten Mitspieler. Es ist ein durchaus kritischer Blick auf die „Erinnerungskultur“ hier wie dort, der in „Das Erbe“ zu teilen ist. Und ein Beispiel dafür, wie man es anders, wie man es besser macht.

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien in der Edition Tiamat Is this the end? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung.