Der unglücklichste Junge der Welt

Bei der diesjährigen Corona-Ausgabe des Festival International de la Bande Dessinée, dem größten europäischen Comicfestival, erhielt der US-amerikanische Zeichner Chris Ware den Grand Prix. Damit wird er im kommenen Jahr zu Gast sein und mit einer Werkschau geehrt. Sein Meisterwerk „Jimmy Corrigan“ ist auch in deutscher Übersetzung erhältlich.

Genies leben nicht nur mitten unter uns, sie erkennen sich auch gegenseitig. Art Spiegelman hat in den achtziger Jahren als Gründer und Herausgeber des Anthologiemagazins „Raw“ einen unschätzbaren Beitrag für die Popularisierung dessen, was damals noch hier und da als Avantgardecomic bezeichnet wurde, geleistet. Und er hat 1987 aus Zufall den gerade mal 20jährigen US-Comiczeichner Chris Ware entdeckt und zweimal in „Raw“ publiziert.

Sich so jung inmitten der Elite des europäischen und amerikanischen Comics wiederzufinden, dürfte nicht die schlechteste Schule gewesen sein. 1993, zwei Jahre nach dem Ende von „Raw“, entwickelt Ware seine eigene Heftreihe „ACME Novelty Library“, bereits ab der ersten Nummer dabei: die ersten Gehversuche von Jimmy Corrigan, einem Antihelden, der Ware acht Jahre später, nachdem die Fortsetzungsgeschichte überarbeitet als gut 380seitige Graphic Novel erscheint, unsterblich machen wird – und dies verstehe man bitte nicht pathetisch.

Chris Ware (Text und Zeichnungen): „Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders und Tina Hohl. Reprodukt, Berlin 2013. 384 Seiten. 39 Euro

Die Anerkennung dieser „Great American Novel“, wie es allerorten hieß, war und ist einmütig: Sämtliche relevanten Auszeichnungen, seien sie branchenintern (Eisner Award, Harvey Award, Kritikerpreis des Angoulême-Festivals) oder darüber hinaus (2001 als erster Comic überhaupt der Guardian First Book Award), und höchste Adelungen hat sie eingeheimst (das „Wall Street Journal“ bemühte als literarische Vergleichsreferenz James Joyce‘ „Ulysses“). Weil Ware das Spektrum des Comics narrativ und formal entscheidend transformiert hat, war „Jimmy Corrigan“ für die 2000er Jahre mindestens so wichtig wie Spiegelmans „Maus“ für die Achtziger und Neunziger. Ein Stück Comicgeschichte also, dessen deutsche Veröffentlichung Reprodukt als editorische Glanzleistung vorgelegt hat: mal handgelettert, mal ahmt sie mit Computerfonts die Typographieexperimente nach. Angesichts von Wares Vorliebe für Redaktionselemente (Anleitungen für Ausschneidebögen, lexikalische Einträge), wechselnde Schrifttypen, Werbeanzeigen im Stil der dreißiger bis fünfziger Jahre, mit Inschriften versehene ornamentale Bild- und Seitenkompositionen, Piktogramme, Logos und mitunter daumennagelgroße Sprechblasen in streichholzschachtelformatigen Panels kann man jetzt schon von der anspruchsvollsten Übersetzungsarbeit des Jahres sprechen.

Jimmy Corrigan ist nicht, wie der Untertitel behauptet, „der klügste Junge der Welt“, vielleicht aber der unglücklichste. Und seine Geschichte ist, wie jedes anständige Meisterwerk, vieles, aber nichts davon in Gänze: eine Studie der Einsamkeit, eine Sozialgeschichte der USA, ein Familienroman, ein Bildnis der Entfremdung, eine Superheldendekonstruktion, ein Zeichenexperiment, ein autobiographisches Therapeutikum. Jimmy Corrigan hat bereits als Kind greisenhafte Züge und führt als Mann ohne Eigenschaften ein völlig isoliertes Büroangestelltendasein. Er träumt von einer Beziehung mit seiner Kollegin, erhält aber allenfalls Anrufe von seiner dominanten Mutter aus dem Altersheim. Ein Leben zwischen Hemmungen, Fluchtphantasien, Ritualen, Ängsten und Sprachlosigkeit. Dann kommt plötzlich ein Brief seines Vaters, den er nie kennengelernt hat. Der will im Rentenalter seine Fehler wiedergutmachen und lädt Jimmy zu sich nach Chicago ein. Jimmy tritt eine Reise an, die 100 Jahre und zwei weitere Generationen zurück in die Vergangenheit führt. Man wird nur schwer sagen können, ob er danach ein glücklicherer Mensch geworden ist.

Die Kunstfertigkeit der epochalen Erzählung besteht darin, dass Ware jedes Verständnis von Linearität außer Kraft setzt und die Zeitebenen als assoziative Reflexe arrangiert, die sich durch keinerlei Merkmale des Erzählens, beispielsweise Farbenveränderungen, mehr unterscheiden lassen. Es gibt keine vorsortierenden Instanzen: Aus Jimmys Perspektive gründen Realität wie Fiktion auf denselben Prinzipien des Leids und dies zurück bis zur Generation des Urgroßvaters (dessen Antlitz mit Jimmys identisch ist). So gleiten wir unversehens von der Realität in Angstphantasien und wieder zurück in die Realität und können weder das eine noch das andere als gewichtigere Erzähleinheit identifizieren. Wares monolithische Kompositionen zwingen zu penibler Lektüre, man lernt schnell, dass schon die geringste Detailveränderung ein folgenschwerer Zug sein kann. Die kaleidoskopische Geschichte einer Familie voller Verlierer zum Schluss bloß mit Hilfe weniger Pfeile in einem zweiseitigen Piktogramm um eine politische Dimension zu erweitern und zu einer Chronik rassistischer Mentalität umzudichten, schafft eben nur ein genialer Konstrukteur.

Im Nachwort, das hier kokett „Entschuldigung“ heißt, beansprucht Ware selbst über die Erzählzeit noch die Kontrolle: „Ich wünschte, mein Vorhaben wäre mir besser gelungen… Dessen ungeachtet fiel mir bei der letzten ‚Überarbeitung‘ auf, dass die vier oder fünf Stunden, die das Lesen dieser Geschichte mitsamt ihren Irrtümern, Auslassungen und Unzulänglichkeiten dauert, etwa der Zeit entsprechen, die ich mit meinem Vater verbracht habe, sei es persönlich oder am Telefon.“

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 6/2013

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Jimmy Corrigan“.

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.