„Ich hoffe, dass 2016 ein Umdenken bewirkt hat“

James Sturm ist neben Daniel Clowes, Craig Thompson und Chris Ware einer der profiliertesten und umtriebigsten Akteure der US-Independent-Comicszene. In seinen Comicerzählungen setzt er sich oft mit politisch-historischen und jüdischen Themen auseinander, seinen Durchbruch hatte er mit einer historischen Graphic Novel über ein rein jüdisches Baseball-Team in den 1920ern. Bei Reprodukt ist 2010 „Markttag“ erschienen, eine Erzählung über Shtetl-Leben in Osteuropa. Sein neues Buch „Ausnahmezustand“ ist in der Gegenwart Amerikas angesiedelt und könnte aktueller kaum sein. Anhand einer bröckelnden Ehe erzählt James Sturm von dem Zusammenbruch des gesellschafltichen Miteinanders in den USA vor und unmittalbar nach Donald Trumps Wahlsieg 2016. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Reprodukt Verlags.

Vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über dein neues Buch „Ausnahmezustand“ zu plaudern, James. Ich hoffe, dass du meine Einstiegsfrage nicht schon tausendmal gehört hast, aber könntest du uns ein bisschen über deine erste Begegnung mit dem Medium Comic verraten?

Die ersten Comics, die ich selbst gelesen habe, waren Strips in unserer regionalen Tageszeitung. Vor allem die Peanuts hatten es mir angetan, und ich fing schon in sehr jungen Jahren an, die Buchausgaben der Peanuts zu sammeln. Als ich ein wenig älter war, entdeckte ich Superhelden-Comics für mich, ich stand vor allen Dingen auf die Marvel-Superhelden. Diese Comics haben mich gefesselt und in mir den Traum geweckt, irgendwann selbst meine eigenen Comicstorys zu erzählen.

James Sturm (Autor und Zeichner): „Ausnahmezustand“.
Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt, Berlin 2020. 216 Seiten. 24 Euro

Du zeichnest und schreibst nicht nur Comics, sondern unterrichtest sie auch – du bist einer der Gründer des Center for Cartoon Studies, einer Comiczeichner-Schule in deinem Heimatstaat Vermont. Hat sich dein Blick auf Comics verändert, seit du selbst ein Comiclehrer bist?

Als Comiczeichner bin ich stets auf der Suche nach Möglichkeiten, mein Können zu verbessern und mich neuen Herausforderungen zu stellen. Ich glaube nicht, dass Unterrichten meine Sicht auf das Medium Comic groß verändert hat, weil ich schon immer der Meinung war, dass Comics endlos viel Potenzial bieten. Wenn überhaupt, dann haben meine talentierten Schülerinnen und Schüler über die Jahre diese Sicht bestätigt.

Hat sich in den 15 Jahren, seit du das Center for Cartoon Studies gegründet hast, der akademische Diskurs um Comics gewandelt? Haben Zeichnerschulen wie das CCS dazu beigetragen, Comics als Fach und als Kunstform auch an anderen Schulen und Institutionen zu verankern?

Das Medium Comic ist in den letzten 15 Jahren regelrecht aufgeblüht. Früher waren Superhelden ein Synonym für Comics, heute sind sie ein Genre und nicht mehr der Mainstream. Eine autobiografische Comicerzählung von Raina Telgemeier (auf Deutsch erscheinen ihre Bücher bei Panini Comics, Anm. des Übersetzers) hat Auflagen, von denen ein Superman-Comic nur träumen kann. Jeder große Publikumsverlag hat inzwischen ein eigenes Graphic-Novel-Segment. Als wir 2005 mit unserer Comicschule angefangen haben, konnte man Einrichtungen wie unsere in den USA an einer Hand abzählen. Heute haben zahlreiche Kunst- und andere Hochschulen Comicschwerpunkte und andere Programme, die den Einstieg in die Comicbranche erleichtern. Ich will jetzt aber natürlich nicht behaupten, dass diese Entwicklung auch nur im Entferntesten auf unser Engagement zurückzuführen ist. Die Dinge hätten sich sicherlich auch ohne uns so entwickelt. Alles in allem bin ich extrem zuversichtlich, was den Stand und die Zukunft unserer Kunstform anbelangt. Die Szene in den USA strotzt nur so vor Talent. Es ist eine aufregende Zeit.

Seite aus „Ausnahmezustand“ (Reprodukt)

Viele deiner früheren Arbeit wie „Markttag“ oder auch das leider nicht auf Deutsch übersetzte „Golem‘s Mighty Swing“ sind thematisch in der Vergangenheit angesiedelt. „Ausnahmezustand“ ist nun komplett in der Gegenwart verhaftet. Was ist für dich als Erzähler eine größere Herausforderung, Vergangenes zu recherchieren und wieder lebendig werden zu lassen, oder auf die Gegenwart zu blicken und zu versuchen, ihre Essenz und Bedeutung einzufangen?

Als ich „Ausnahmezustand“ in Angriff nahm, war es mir wichtig, eine Geschichte in der Gegenwart zu erzählen. Überall um mich herum herrschte eine Art Schockstarre und Fassungslosigkeit in Hinblick auf Trumps politischen Aufstieg. Mir schien, als würde die Hälfte der Bevölkerung sich fragen: „Wie konnte es so weit kommen? Haben wir was verpasst?“ Ich habe mich nur noch mit dem Wahlkampf beschäftigt, hing ständig am Handy und habe die News verfolgt. Ich glaube nicht, dass ich mich auf etwas anderes hätte konzentrieren können, also habe ich meine Geschichte in der Gegenwart platziert. So konnte ich besser verstehen und verarbeiten, was in meinem Land vor sich ging. Und ich konnte das Erlebte festhalten.

Auf den Wahlkampf 2016 und seine Bedeutung für „Ausnahmezustand“ würde ich gerne noch zurückkommen. Könntest du uns aber vorher von den Ursprüngen des Projekts erzählen? Ich habe gelesen, dass du erste Ideen schon Jahre vorher skizziert hattest. Was war deine ursprüngliche Idee?

Ich hatte mal ein paar Panels skizziert, über eine Hundefigur am Strand, die mit den Folgen einer Scheidung ringt. Die Seiten lagen dann ein paar Jahre in der Schublade herum, bis ich mich mal während eines „Artist in Residence“-Aufenthalts vor einem Projekt drücken wollte, bei dem ich nicht weiterkam, und dann diese Zeichnungen wieder rauszog. Irgendwie packte mich die Figur wieder und ich schrieb ein „Ausnahmezustand“-Kapitel auf mehrere Karteikarten, eine kleine Kurzgeschichte in 20 Panels oder so. Und dann entwarf ich ein anderes Kapitel, und ehe ich mich‘s versah, war ich mitten in meinem nächsten Buch.

Seite aus „Ausnahmezustand“ (Reprodukt)

„Ausnahmezustand“ wurde 2016 kapitelweise vorveröffentlicht, im US-Online-Magazin SLATE. Wie hat sich diese Erscheinungsweise auf das Endergebnis ausgewirkt? Hattest du ein fixen Plot-Fahrplan oder hat sich die Story organisch entwickelt?

Die Handlung hat sich recht organisch entwickelt. Einige der Kapitel verweisen auf aktuelle Ereignisse (wie die Wahlkampfdebatten), andere sind eher zeitlos. Etliche Kapitel wurden auch nicht in der Reihenfolge geschrieben, in der sie später erschienen sind. Ein fixes Ende für meine Geschichte hatte ich im Vorfeld nicht im Kopf. Aber dadurch, dass ich die Geschichte von Mark und Lisa quasi in Echtzeit entwickelte und veröffentlichte, fühle sich alles irgendwie dringlicher und lebensnaher an.

Die Geschichte von Mark und Lisa ist, wie schon erwähnt, eingebettet in die Zeit des oft schrillen und dauerpräsenten Präsidentschaftswahlkampfs zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, und damit auch eingebettet in den Zusammenbruch des politischen und gesellschaftlichen Miteinanders in den USA. Du erzählst davon, wie Politik in die private Sphäre eindringt und Paare und Familien spaltet. Wie hast du persönlich diese Zeit erlebt?

In meiner Erinnerung überwiegt vor allem ein Gefühl: Fassungslosigkeit. Ich verstand erst im Nachhinein, wie verachtenswert und skrupellos Donald Trump als Mensch wirklich ist. Vor der Wahl hatte ich nur eine vage Ahnung. Ich habe nie seine Fernsehshows geguckt oder mich sonderlich mit ihm als öffentlicher Person auseinandergesetzt. Ich hatte keine Ahnung, welche Untiefen da noch zutage kommen würden. Die Arbeit an „Ausnahmezustand“ hat mir geholfen, das alles zu verarbeiten. An einer Comicgeschichte zu arbeiten, hilft mir auch, mich mit Ängsten und Sorgen zu befassen, es gibt mir das Gefühl, als hätte ich ein Mindestmaß an Einfluss auf Ereignisse, die sich in Wirklichkeit komplett meiner Kontrolle entziehen.

Seite aus „Ausnahmezustand“ (Reprodukt)

Inzwischen haben die USA und der Rest der Welt fast vier Jahre Donald Trump hinter sich und die nächsten Wahlen liegen knappe zwei Monate entfernt. Wie ist das jetzt für dich, auf 2016 zurückzublicken? Und wie zuversichtlich blickst du in die Zukunft?

Ich hoffe, dass 2016 ein Umdenken bewirkt hat und dass genug Leute begreifen, was mit diesem Land nicht stimmt, und etwas dagegen unternehmen. Keiner kann jetzt behaupten, dass er nicht wüsste, wer Donald Trump ist und was er repräsentiert. Das Widerwärtige, wofür Trump einsteht – der Rassismus, die Korruption, die Ignoranz, der Sexismus –, waren schon immer Teil unseres politischen Diskurses, und die Republikanische Partei hat das alles nur ans Tageslicht gebracht. Was früher Subtext war, ist jetzt eine offene, dreiste Forderung. Ich hoffe, dass die Medien und die Demokraten aus 2016 ihre Lehren gezogen haben, aber ich bin mir nicht sicher, ob das der Fall ist. Man kann nur hoffen, dass sie Trumps Verdorbenheit nicht ein zweites Mal unterschätzen.

Was die Wahlen im November anbelangt, fällt es schwer, zuversichtlich zu sein. Trump wird alles in seiner Macht stehende tun, um sich an sein Amt zu klammern. Während ich diese Zeilen schreibe, versucht er die US-Postbehörde lahmzulegen, um Briefwahlen in Pandemiezeiten zu erschweren. Was die Zukunft des Landes anbelangt, versuche ich trotz allem optimistisch zu bleiben. Man darf die Hoffnung nicht verlieren, dass sich die Dinge auch mal zum Besseren wenden können. Letztes Jahr habe ich an einem Comic über Demokratie und Regierungswesen gearbeitet, der an Schulen im ganzen Land verteilt wurde. Ich werde mich auch weiter dafür einsetzen, zu lehren und aufzuklären, und dabei auf das Beste zu hoffen. Das Handtuch in den Ring zu werfen, ist keine Option.

Woran arbeitest du gerade?

Ich arbeite aktuell zusammen mit dem Zeichner Joe Sutphin an einer Graphic-Novel-Adaption des Jugendbuchs „Watership Down“. Und ich arbeite an Comics über geistige Gesundheit und das US-Gesundheitssystem, die sich ähnlich wie mein Demokratie-Comic an Schülerinnen und Schüler richten. Ich poste regelmäßige Work-in-Progress-Bilder und Skizzen auf meinem Instagram-Account: @james_sturmish.

Seite aus „Ausnahmezustand“ (Reprodukt)