Bilder, die fast zerbersten

„Hass“, „Auf sie“, „Da bist du ja, Schlampe“ und „Angriff“ drohen Messer, Flaschen und anderer Hausrat in einem Comic-Strip der Protagonistin. Es ist nur ein Alptraum aus dem Jahr 1990, den die kanadische Comiczeichnerin Julie Doucet in Bilder gefasst hat, doch ist diese Bedrohung durch die unmittelbare Umgebung, das eigene Lebensumfeld, ein roter Faden, der sich durch die Strips der 1965 im kanadischen Montreal geborenen Künstlerin zieht.

In der nun vom Reprodukt-Verlag vorgelegten Sammlung ihrer „allerschönsten Comicstrips“, so der Titel, treten immer wieder übergriffige Männer auf, die die Protagonistin psychisch und physisch ausnutzen. Oder sie scheitert an den gesellschaftlichen Erwartungen an sie als Frau. Anstatt jedoch unter diesen Zuständen zu leiden oder zu zerbrechen, geht die Protagonistin Julie, die allerdings nicht als mit der Zeichnerin identisch zu verstehen ist, zum Gegenangriff über.

Der Gewalt gegen den weiblichen Körper, den Zurichtungen und Zuschreibungen wird mit Gegengewalt begegnet: Männer werden ermordet und kastriert, Städte mit Menstruationsblut geflutet. In ihren Träumen und Fantasien kann die gezeichnete Julie sich eine starke Persona erschaffen, die dem gesellschaftlichen Druck standhält.

Für die Zeichnerin selbst war dies auf Dauer leider nicht möglich: Kurz vor der Jahrtausendwende beendete sie ihre Karriere als Comiczeichnerin unter anderem mit der Begründung: „Ich war es leid, ständig nur mit Männern zu tun zu haben.“ Sie war eine der wenigen Zeichnerinnen in einer Szene, die sich damals noch fest in Männerhand befand und in der Doucet mit ihren radikalen Storys in der Tradition des amerikanischen Comic-Underground der 1960er- und 1970er-Jahre über ihre Alltagserfahrungen als Frau immer wieder aneckte – aber auch 1991 mit dem Harvey Award als „Best New Talent“ ausgezeichnet wurde.

Ihre Strips erschienen in ihrem eigenen seit 1988 publizierten Magazin „Dirty Plotte“, das 1991 vom kanadischen Verlag Drawn & Quarterly ins Programm übernommen wurde, vor allem aus diesem Kontext stammen die Arbeiten im Sammelband.

Sequenz aus „Julie Doucets allerschönste Comicstrips“ (Reprodukt)

Dass im Zentrum der Comics von Doucet der weibliche Körper steht, macht bereits der Name ihres Magazins deutlich: „Dirty Plotte“, ein aus Québec stammendes Slangwort für die weiblichen Genitalien. Auch in „Julie Douvcets allerschönste Comicstrips“ ist eine Episode enthalten, in der sie mit diesem Ausdruck nicht vertrauten Lesern Auskunft über Herkunft und Bedeutung von „Plotte“ gibt. Neben der medizinischen Bedeutung ist es vor allem die Zuschreibung von Männern, der Männerblick auf die Frau, der mit dem Begriff verknüpft ist: „Hey Mann, schau dir die Plotte an, nicht schlecht“, sagt ein Mann mit gierigem Blick zu seinem Kumpel. Der weibliche Körper, zeigt Doucet, hat sich permanent solchen Zuschreibungen zu erwehren, weshalb sie ihre offensiven Comics als ein Mittel nutzt, selbstbestimmt solche Zuschreibungen zu dekonstruieren.

Gleichzeitig zeigt sie die schiere Überforderung, die sich für Frauen aus den Erwartungen und Zuschreibungen ergeben: Kaum überschaubare Bilder reihen sich aneinander, dem Betrachter wird durch eine Unzahl von Eindrücken kein Moment der Ruhe gegönnt. Die Zeichnungen lassen grafisch wenige Freiräume und sind für die Leser nicht auf den ersten Blick zu durchschauen.

Auch die Textebene ist auf diese Weise gestaltet, die Sprechblasen scheinen der Protagonistin zuweilen noch den wenigen verbliebenen Raum streitig zu machen, sie zu erdrücken. Jedes Panel enthält eine solche Dichte an Information, dass die Bilder zu zerbersten scheinen. Befreiung versprechen Träume, Fantasien und vor allem: die Kunst.

Die Comicstrips von Julie Doucet sind zwar einerseits Dokumente der Überforderung, andererseits jedoch Mittel des feministischen Kampfes, sie sind in ihrer Radikalität auch drei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen erfrischend, obwohl sich Frauen mittlerweile einen Platz in der Welt des Comics erobert haben. Anlässlich der Publikation von ihren „allerschönsten Comicstrips“ war die Zeichnerin dann doch für einige Comiclesungen in Deutschland unterwegs.

Dieser Text erschien zuerst am 03.12.2020 in: ND

Hier gibt es eine weitere Kritik zu dieser Sammlung, hier zur englischen Gesamtausgabe.

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt erschien von ihm die Textsammlung „Dahinter. Dazwischen. Daneben. Von kulturellen Außenseitern und Sonderlingen“.

Julie Doucet: „Julie Doucets allerschönste Comicstrips“. Aus dem Englischen von Jutta Harms. Reprodukt, Berlin 2020. 168 Seiten. 20 Euro