Russell, ein knorriger Cowboy, liest einen Jungen auf, der gerade seine Eltern verloren hat. Der Bub namens Bennett ist geistig nicht auf der Höhe und Russell wird zu seiner Vaterfigur. Auch dem rauen Cowboy wächst der Junge ans Herz. Gleichzeitig neigt sich die Zeit der großen Viehtriebe dem Ende zu, die Eisenbahn übernimmt den Transport der Tiere, Cowboys werden nicht mehr gebraucht. Auch Russell will neu anfangen und gemeinsam mit seinem Kumpel Kirby eine Ranch kaufen, irgendwo Richtung Montana. In dem verschlafenen Städtchen Sundance macht das Trio halt. Der Ort (nach dem sich Butch Cassidys Kollege benannte) hat große Chancen, zum zentralen Verlade- und Umschlagbahnhof von Wyoming zu werden. Was gleichzeitig Aufschwung und damit Wohlstand bedeuten würde. Kaum in Sundance angekommen, nimmt ein Drama seinen Lauf, in dessen Mittelpunkt Bennett steht und das immer drastischere Ausmaße annimmt. Was den Stadtvätern denkbar ungelegen kommt, denn die können sich einen Skandal angesichts der wirtschaftlichen Aussichten keinesfalls leisten.
Autor Jérôme Félix und Zeichner Paul Gastine arbeiteten bereits an der Reihe „Das Erbe des Teufels“ zusammen, die in vier Bänden bei Bunte Dimensionen vorliegt. Im Einzelband „Bis zum bitteren Ende“ widmen sie sich dem Western-Genre und präsentieren eine Geschichte, die gleich mehrere Tragödien aneinanderreiht. Dabei zögern die beiden nicht, ihre Story-Perspektive auf wechselnde Charaktere zu legen, nur um diese dann auch ganz nach „Game of Thrones“- Manier gnadenlos aus dem Spiel zu nehmen. Hauptperson bleibt dabei jedoch Russell, ein erfahrener, verbitterter Cowboy, eventuell mit übler Vergangenheit. Stur und prinzipientreu. Der Verlust seiner Arbeit trifft ihn sehr, der Wandel stößt ihn vor den Kopf, der Fortschritt, der sich in Form der Eisenbahn quer durch den Westen zieht, ist jedoch unaufhaltsam. Wie ernst der Plan nach einem Neuanfang in Form einer eigenen Ranch gemeint ist, wissen wir nicht.Als in Sundance das Drama seinen Lauf nimmt, gerät Russells Leben endgültig aus den Fugen. Zorn und Rachegelüste stehen für ihn nun über allem, zu Ungunsten von Vernunft und rationalem Denken. Das sture Festhalten an seinem Vorhaben mündet in selbstzerstörerischen Aktionen. Zugleich finden sich die Stadtverordneten rund um den Bürgermeister in einer moralischen Zwickmühle wieder: Sollen sie das Drama wie von Russell gefordert lückenlos aufklären oder die Sache unter den Tisch kehren und damit die vermeintlich goldene Zukunft von Sundance aufs Spiel setzen? Beide Seiten (Russell rekrutiert inzwischen eine Bande von Ex-Cowboys, die die Stadt abriegeln, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen) müssen sich zwischen Moral und Anstand oder Anwendung von Gewalt entscheiden (oder Geld vs. Gerechtigkeit).
Bei all den drastischen und dramatischen Geschehnissen könnte man natürlich Zeichnungen vermuten, die ganz im Ambiente eines dreckigen Italo-Westerns gehalten sind (siehe „Durango“, ebenfalls bei Splitter). Was nicht der Fall ist. Im Gegenteil. Verglichen zu „Das Erbe des Teufels“ legt Paul Gastine hier noch eine gehörige Schippe Realismus und Detailreichtum drauf. Ein feiner Strich, ausdrucksstarke Gesichter und eine ausgeklügelte Farbgebung – beispielsweise in der regnerischen Nachtszene, als das Lagerfeuer die Personen ausleuchtet – wissen zu punkten und sorgen durchweg für eine beeindruckende Optik. Ein rundum gelungener Beitrag zum Genre, mit ungewöhnlicher Thematik. Aber auch hier geht das Leben am Ende unbeirrt weiter. Nur eben nicht für jeden. Diverse ganzseitige Zeichnungen und Entwürfe runden den Band ab und stellen noch einmal das Können Gastines unter Beweis.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.