„Wir wollen, natürlich mit Fingerspitzengefühl, die ganze Gewalt des Krieges zeigen“

Heiko Koch, leidenschaftlicher Leser und Rezensent von antifaschistischen Comics, zugleich selbst Autor der kürzlich beim Ventil Verlag veröffentlichten Comic-Geschichte „Druckluft“ über die Opfer rechter Gewalt in Dortmund, hat das folgende Interview mit dem belgischen Comicautor Vincent Dugomier geführt. Dugomier ist unter anderem Autor der vielfach ausgezeichneten historischen Jugendcomic-Serie „Die Kinder der Résistance“ (2015-2022), in der die Geschichte von drei Kindern erzählt wird, die sich während des Zweiten Weltkriegs der deutschen Besatzung widersetzen. Gerade ist bei Bahoe Books der fünfte Band erschienen.

Heiko Koch: Sehr geehrter Herr Dugomier, bitte stellen Sie sich den deutschen Leser*innen vor.

Vincent Dugomier: Ich heiße Vincent Dugomier. Ich bin 1964 in Brüssel geboren, bin Comicbuchautor und veröffentliche regelmäßig seit Anfang der 90er Jahre. Ich komme aus einer Familie, in der soziales und politisches Engagement wichtig ist. Das kommt gleichermaßen von der Seite meiner Mutter als auch von Seiten meines Vaters. Andererseits hat nur die Familie meiner Mutter eine künstlerische Tradition.

Schaut man sich Ihre Veröffentlichungen seit den 90er Jahren an, so handelt es sich vor allem um humorvolle Comics für Kinder und Junggebliebene sowie spannende Mystik- und Thrillerserien für Jugendliche. Bei diesen Einzelbänden und Serien arbeiteten Sie oft mit Benoît Ers zusammen. Bitte erzählen Sie etwas zu diesen Projekten und Ihrer Zusammenarbeit mit Benoît Ers.

Benoît Ers und ich sind vor allem sehr gute Freunde. Wir können einen ganzen Tag damit verbringen, über alle möglichen Dinge jenseits von Comics zu sprechen. Was uns an unserem Job vor allem begeistert, ist mit jedem neuen Projekt das Thema zu wechseln und uns mit ernsten, wichtigen Themen an ein junges Publikum zu richten. Wir mögen keine matschigen Geschichten. Wir arbeiten immer sehr eng zusammen. Benoît ist an der Entwicklung des Universums beteiligt. Ich gebe meine Meinung zu seinen Layouts ab. Gelegentlich modifiziert er einen Dialog. Wir haben in unserer Arbeitsweise schon immer eine Art Ping-Pong praktiziert. Jeder hilft dem anderen in schwierigen Zeiten…

Wie kam es, dass Sie sich mit ihrem Kollegen einem so ernsten Thema wie dem Zweiten Weltkrieg, militärischer Besatzung und dem antifaschistischen Widerstand in Frankreich zuwandten?

Als ich Benoît 1989 traf, war er gerade dabei, allein ein Projekt zu realisieren, das im Zweiten Weltkrieg spielte. Es war ein komödienhaftes Projekt mit englischen Piloten. Das hat mich überhaupt nicht interessiert und er hat die Idee komplett aufgegeben. Aber ich habe im Laufe der Jahre gesehen, dass Benoît sich sehr für diese Zeit interessierte. Vor ein paar Jahren habe ich ihm angeboten, einen Comicstrip zu machen, der auch während des Zweiten Weltkriegs spielt. Zuerst wollte er nicht. Aber als ich ihm vorschlug, eine Serie zu entwickeln, die in einem Dorf stattfinden würde, mit Kindern, die die Besatzung beobachten würden, wo man über den Alltag spricht… also keine militärische Geschichte, sondern eine, die über das Schicksal von Zivilisten in einem Konflikt sprechen würde, wunderte er sich, dass er nicht früher selbst auf die Idee gekommen war, den Krieg aus Sicht der Zivilisten zu behandeln. Wir tauschten unsere Familienerinnerungen aus, denn unsere Eltern und Großeltern haben uns oft erzählt, was sie durchgemacht haben. Und dort erzählte mir Benoît, dass sein Großvater im Widerstand war. Und ich sagte ihm, dass auch meine Großmutter im Widerstand aktiv war. Es war sofort klar, dass unsere Helden Widerstandskämpfer sein würden, so wie unsere Großeltern. Benoît war sehr inspiriert vom Aspekt des Wiedererlebens der damaligen Zeit. Ich fühlte mich dem aktivistischen Aspekt verpflichtet.

Cover „Die Kinder der Résistance Bd. 3“ (Bahoe Books)

Ihre Comicserie ist primär eine Geschichte für Kinder und Jugendliche. Die drei Held*innen, Eusèbe, François und Lisa, sind 13 Jahre alt. Und die Geschichte wird aus François‘ Perspektive erzählt. Warum sind die Adressat*innen der Serie vornehmlich Kinder und Jugendliche?

Wir wollten etwas an die jüngere Generation weitergeben. Die Hoffnung ist natürlich immer, eine Wiederholung der Vergangenheit zu verhindern. Wir wollten schöne Werte weitergeben, gegenseitige Hilfe, Kampf gegen Ungerechtigkeit, Brüderlichkeit zwischen den Völkern, Antirassismus, Freundschaft, Hoffnung…

Folgt man Präsentationen im Internet, sieht man auch sehr junge Kinder Ihren Comic lesen. Ab welchen Alter erreichen Sie Kinder mit Ihrem Comic?

Wir werden von Kindern ab 8 Jahren gelesen. Ich sage immer, es macht nichts, wenn ein Kind nicht alles versteht. Er wird die Dinge während einer wiederholten Lektüre im Alter von 10 oder 14 Jahren neu entdecken. Aber es ist eigentlich ein Comic für die ganze Familie. Erwachsene werden anderes darin entdecken. Es ist auch methodisch beabsichtigt, dass Diskussionen zwischen den Generationen erfolgen. Wir bekommen diesbezüglich viele Rückmeldungen. Manchmal erhalten wir auch Post von sehr alten Leser*innen.

Im ersten Band wies die Geschichte des jugendlichen Widerstands viel „Naivität“ und die gesamte Story eine „Verspieltheit“ auf. Im zweiten Band werden die drei Held*innen Zeugen eines Mordes an einen französisch-afrikanischen Soldaten und eine ihrer Aktionen mündet in dem Tod zweier Erwachsener und der Verhaftung des Vaters von Francois. Der Vater wird nach einem Todesurteil erschossen. Die Brutalität und Grausamkeit des Nazi-Regimes schlägt sich so in der Geschichte und sichtbar auf die emotionale Verfasstheit der drei Held*innen nieder. Krieg, Faschismus und Widerstand erhalten im zweiten Band ein realistisches Gesicht. War dieses bewusste Heranführen an die harte Realität so geplant?

Das ist ganz bewusst so gemacht und schon seit den ersten Bänden vorhanden. Auf die ersten Aktionen folgen sehr schnell Repressionen. Vor allem wollten wir nicht glauben machen, dass es am Ende lustig war. Es war ein Spiel? Nein, es war ernst und schrecklich. Viele Leser*innen weinten am Ende von Band 2. Es war absolut notwendig, sich den Terror in Erinnerung zu rufen, den der Widerstand bekämpfte. Wir wollen, natürlich mit Fingerspitzengefühl, die ganze Gewalt des Krieges zeigen. Ehemalige Widerstandskämpfer*innen dankten uns für diese Härte, weil sie der Preis für die Freiheit war.

Von welchen Ideen ließen sie sich leiten, um die Gewalt und Grausamkeit des Krieges und des Faschismus Kindern zu vermitteln?

Wir benutzen oft die Einbildungskraft. Comics sind dafür sehr geeignet, da es den Leser*innen überlassen ist, sich vorzustellen, was zwischen zwei Bildern passiert. Am Ende von Band 2 sehen wir zum Beispiel die Wand, an der der Vater erschossen wurde. Es ist überflüssig, seinen Körper zu zeigen. Manchmal denken Leser*innen, dass er vielleicht nicht tot sei, da der Körper nicht gezeigt wurde. Aber am Ende des Bandes sehen sie, dass der Vater nicht zurückkommt und sie trauern um diese Figur, die sie gerne gerettet gesehen hätten.

Cover „Die Kinder der Résistance Bd. 4“ (Bahoe Books)

Wie waren die Reaktionen von jugendlichen Leser*innen auf die dargestellte Gewalt, auf die gezeichneten Gefühle der Angst und Trauer Ihrer Held*innen? Gab es Rückmeldungen über Reaktionen ihrer jungen Leser*innen?

Leser*innen sagen uns oft, was sie fühlen. Zum Beispiel viel Traurigkeit am Ende des zweiten Bandes. Oft erzählen sie uns auch von einem Antriebseffekt und dem Wunsch, sich zu engagieren und etwas Positives zu tun. Der Wunsch, mehr über Situationen nachzudenken, die als einfach dargestellt wurden. Eine Empathie für das Schicksal von Migrant*innen, die vor dem Krieg fliehen… Regelmäßig kommt auch vor, dass sie wirklich Angst um François, Lisa und Eusèbe haben. Viele von ihnen sind davon überzeugt, dass eines der Kinder am Ende der Serie sterben wird. Viele denken auch, dass unsere Charaktere wirklich existierten. Sicher ist, dass alle Situationen, die mit Freiheitsentzug verbunden sind, sie beeindrucken. Willkürliche Verhaftungen wegen bestimmter Überzeugungen oder weil man Jüd*in ist oder für jüdisch gehalten wird. Junge Menschen haben einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie verstehen die beschriebenen Situationen sehr gut.

Wie haben Sie versucht, mit den vielleicht entstehenden Ängsten bei jugendlichen Leser*innen umzugehen?

Wir wollen über alles reden, aber wir wollen nicht alles zeigen. Das ist ein Frage der Abstufung, des Taktes. Der Diskussion zwischen Benoît und mir. Ein gutes Beispiel ist die Wahl der Ikonographie, um im Band 4 über den Holocaust durch Erschießungen zu sprechen. Die Fotos sind alle für junge Leser*innen unerträglich. Also wählte ich ein Foto von Jüd*innen, die sich ausziehen, bevor sie erschossen werden. Die Gewalt ist weniger direkt als auf einem Foto eines Massengrabes. Aber die Suggestion ist sehr stark und kann sehr große Empathie auslösen.

Man hat das Gefühl, Sie lassen die Kinder – nicht nur zeichnerisch – von Band zu Band zu jungen Erwachsenen heranwachsen. Sozusagen in ihrer Verantwortung und im antifaschistischen Widerstand reifen. Kann man das so sagen?

Das ist ganz richtig. Außerdem zeigen wir, dass sie neue Kleider benötigen, weil sie erwachsen werden und es an allem mangelt. So können wir zwei Themen verbinden, was wir gerne tun. Wir sprechen über ihr jugendliches Erwachen und ihr Verlangen nach Liebe. Natürlich öffnet sich auch ihr politisches Bewusstsein immer mehr. Und über ein politisches Bewusstsein hinaus entwickeln sie ein humanistisches, universelles Gewissen. Schließlich verlassen sie in einem Band eindeutig ihre „gestohlene“ Kindheit, um in die Pubertät einzutreten. Aber sie wollen ihr Leben trotz des Getöses der Auseinandersetzungen leben und zwei von ihnen verlieben sich ineinander.

Viele der gezeigten Widerstandsaktionen in den ersten beiden Bänden scheinen die ersten Widerstandsaktionen der Resistance in Gänze widerzuspiegeln. Geht es hier um eine Analogie?

Wir haben in der Tat mit großer Genauigkeit die Entstehung und die fortschreitende Etablierung des Widerstands geschildert. Diesen gab es vor dem Krieg nicht. Er entsteht live. Es ist eine beeindruckende Bürgerbewegung, die spontan und an verschiedenen Orten gegründet wird, sich allmählich findet, organisiert und schließlich sehr effektiv wird. Es war mir wichtig zu erklären, warum und wogegen man sich wehrt, und nicht, wie man sich wehrt. Es war also unbedingt notwendig, am Anfang zu beginnen. Was die unterhaltsamen Aspekte einer Geschichte angeht, ist das eine echte Herausforderung. Denn am Anfang gab es nichts, kein Material und es passierte nicht viel Sichtbares. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die meisten Berichte über den Widerstand die Anfänge ignorieren und direkt zu 1942/1943 springen, als der Widerstand sehr aktiv wurde. Es war sehr herausfordernd, eine Zeit des Widerstands zu zeigen, in der es wenig zu sehen gibt. Aber es war auch ein wahres Eldorado, weil wenig darüber geschrieben wurde. Für einen Geschichtenerzähler ist es immer spannend, eine Schublade zu entdecken, die nahezu verschlossen ist und daraus dann etwas zu machen.

Bild aus „Die Kinder der Résistance Bd. 1“ (Bahoe Books)

Gab es so junge Menschen im antifaschistischen Widerstand?

Es gab viele Kinder, die ihre Eltern im Widerstand unterstützten. Sie haben Nachrichten überbracht, spionierten… Andererseits war das Durchschnittsalter auf der Ebene des Widerstands in der Maquis sehr niedrig. Ich traf einen ehemaligen Maquisard, der 1942 im Alter von 16 Jahren in den Untergrund ging.

Die Widerstandshandlungen der Kinder entwickeln sich im historischen Kontext der Besatzungsgeschichte. Ein Kontext, der über Zeitungsartikel, Radiosendungen oder Anekdoten kurz in die Geschichte eingeflochten wird. Erklärt werden diese historischen Bezüge in einem knappen und informativen Dossier im Anhang jeden Bandes. Haben Sie selbst diese Dossiers erarbeitet? Welche Schwierigkeiten der Reduktion und Auslassungen ergaben sich dabei?

Ich wollte diese Dossiers haben, um die Comicseiten etwas leichter zu gestalten. Ich wollte, dass es auch ein Unterhaltungscomic bleibt. Zu wissen, dass ich ein Dossier zur Verfügung haben würde und dass ich es selbst schreiben würde, war eine große Hilfe. Ich konnte meine Informationen besser abgleichen. Ich habe darauf bestanden, diese Dossiers selbst zu erstellen. Seitdem haben viele Historiker unsere Arbeit entdeckt und es scheint keine größeren Fehler zu geben. Dazu muss gesagt werden, dass ich mich sehr gründlich mit den Dokumenten beschäftige und mir die nötige Zeit nehme. Ich muss natürlich etwas reduzieren, aber nicht so sehr. Ich halte mich nicht mit der Darstellung der Veränderungen einer Schlachtordnung auf, ich muss nicht ins Detail gehen, was wirklich im Einsatzgebiet geschieht. Dasselbe gilt für die Bewaffnung. Wir beschäftigen uns mit ihr, um sie zu zeichnen, aber am Ende reden wir nicht darüber. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, die Dinge heute zu erklären und dabei die Chronologie der Zeit zu respektieren. Zum Beispiel über Rassismus in einer Zeit zu sprechen, als man noch an das Konzept der Rassen glaubte (man spricht sogar noch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von „Rasse“). Ich denke da an diese Diskussion über Rassismus zwischen einem Nazi-Offizier und einem Notar in Band 4. Ich muss also thematisieren, welches Verhängnis dieses Konzept hervorgebracht hat. Das Dossier ermöglicht es mir dann, Dinge neu in die Balance zu bringen, was so in einem Comic nicht möglich ist. Die Wissenschaft konnte zeigen, dass wir nur ein und dieselbe Spezies sind, Homo sapiens, und dass es keine Rassen gibt.

Mit welchen Hürden und Schwierigkeit hatten Sie zu kämpfen, um politische und soziale Komplexität jugendgerecht zu erzählen? Zum Beispiel die unterschiedlichen politischen Systeme der Alliierten USA und Russland.

Ich musste viel tricksen, um das erklären zu können. Aber wir haben „Werkzeuge“ in unseren Comics. Der Lehrervater, der alles weiß. Lisa, Tochter deutscher Nazi-Gegner, die eine andere Sichtweise einbringt. In Band 3 dreht sich alles um das Erbe eines Bauernhofs und der dient eigentlich als Beispiel dafür, wie schwierig es ist, eine gerechte Welt zu schaffen.

Ihre Geschichte beschränkt sich nicht nur auf den Widerstand, sondern stellt auch das bäuerliche Leben auf dem Dorf vor über 80 Jahren dar. So wurde bspw. der Hof dem älteren Sohn vererbt. Der jüngere darf, wenn überhaupt, studieren. Für Mädchen war so gut wie keine Schulbildung vorgesehen. Wie sind Sie vorgegangen, um diesen Teil der französischen Alltagskultur zu erforschen?

Wie schon gesagt, indem Benoît und ich recherchierten. Wir besuchten viele Museen über das Landleben im 19. und 20. Jahrhundert. Davon gibt es viele in jedem Departement in Frankreich. Das tägliche Leben ist ein sehr wichtiges Element in unseren Comics. Es lag uns sehr daran, davon zu erzählen, vor allem von einer ländlichen Umgebung, die sich nach dem Krieg sehr stark und schnell verändert, zum Teil wegen des Marshallplans und der Ankunft chemischer Produkte in der Landwirtschaft. Für das Leben auf dem Land war das eine riesige Zäsur. Dies ist natürlich nur ein Nebenthema in unseren Comics, das uns aber enorm interessiert.

Cover „Die Kinder der Résistance Bd. 2“ (Bahoe Books)

„Die Kinder der Résistance“ sind sehr erfolgreich. Sie hat viele Auszeichnungen bekommen und fast 1 Million Exemplare wurden verkauft. Wie erklären Sie sich diese Resonanz angesichts des schwierigen Themas? Hat dies mit der allgemeinen politischen Situation in Frankreich und dem Erstarken der Rechten zu tun?

Politische Erosionen, Geschichtsverfälschung und Orientierungsverlust spielen zweifellos eine Rolle. Wir profitierten auch von einem Zufall, denn dieses Thema kam wieder in die Lehrpläne der Schulen. Zweifellos hatten wir auch unbewusst das Gefühl, dass es an der Zeit war, diesen Comic zu machen. Man weiß nie, was zu einem Erfolg führt, und das ist auch gut so. Wenn man berechnend darangeht, wird es immer scheitern. Wir sind unserem Herzen gefolgt, unserem Gefühl. Wir hatten einfach große Lust, diesen Comic zu machen und ihn so gut wie möglich zu machen. Vor allem sind wir den dunkelsten Dingen nicht ausgewichen. Wir halten unsere jungen Leser*innen niemals für dumm.

Bei welchen Altersgruppen kommt der Comic am besten an?

Eine Reaktion, die wir immer wieder hören, ist: „Und ich, was hätte ich getan?“ Das ist natürlich eine Frage ohne definitive Antwort. Kinder stellen viele Verbindungen zu Dingen in der heutigen Welt her. Am deutlichsten ist das bei der Situation von Flüchtlingen, aber auch bei Situationen des Macht- oder Autoritätsmissbrauchs. Und natürlich Fake News, da ein Informationskrieg zwischen Besatzern und Widerstandskämpfer*innen tobte und wir viele Plakate aus der Zeit verwenden. Der Aufstieg des Extremismus spricht Leser*innen an, die schon etwas älter sind. Tatsächlich bekommen wir Feedback von Leser*innen jeden Alters. Darunter eine sehr alte Dame, die mir jedes Mal, wenn ein neuer Band erscheint, eine nette Nachricht schickt. Sie war ein Kind während der Ardennenoffensive. Sie schickte mir eine Kopie des Kriegstagebuchs, das ihre Mutter damals führte. Diese Art des Austauschs ist sehr bereichernd und bewegend und hilft uns immer, direkt oder indirekt. Oft wollen uns Leser*innen auch eine Familiengeschichte schicken, um uns zu helfen. So haben wir Kinder von Widerstandskämpfer*innen getroffen, aber auch von Kollaborateur*innen, zwangsrekrutierten Elsässern oder Kindern aus einer Verbindung zwischen einer Französin und einem deutschen Soldaten… Es ist oft sehr bewegend. Sie sehen, die Reaktionen sind zahlreich und es ist das große Geschenk dieses Comics, dass wir so viele Menschen treffen können.

Die Historikerin Manon Pignot hat über Ihre Serie gesagt, dass das die Verbindung aus dem Medium Comic und dem Entwurf eines fiktiven Dorfes eine Lücke für Imagination lässt, die von historischer Detailtreue und Präzision gefüllt wird und zugleich einen kreativen Freiraum für die jugendlichen Leser*innen erzeugt. Was sagen Sie dazu?

Ich danke ihr, dass sie sie unsere Intention so gut beobachtet und beschrieben hat. Wir wollten keinen realen Ort, um durch eine strenge Dokumentation begrenzt zu werden. Wir haben unser Dorf ausgedacht. Wir wollten es nicht in der Normandie ansiedeln, weil das zu klassisch gewesen wäre. Wir wollten es im Osten, nicht zu weit von der Demarkationslinie entfernt. Es benötigte ein paar strategische Punkte wie eine Schleuse, eine Eisenbahnbrücke. Wir wussten, dass all dies nach und nach noch von Bedeutung werden würde. Benoît Ers sagt oft über unseren Comic, dass alles gefälscht, aber alles wahr ist!

Liegt der Erfolg der Geschichte auch an dem Fakt, dass sie aus Francois‘ Perspektive erzählt wird? Dass Kinder und Jugendliche in seine Rolle schlüpfen können?

Es gibt sicherlich Aspekte der Identifikation und Empathie. Ich denke auch, dass wir über kleine Widerstandskämpfer*innen sprechen. Aus dem Schatten des Schattens. Und dass sie sich darin leichter wiedererkennen als in einem statuenhaften „großen Widerstandskämpfer“. Implizit gibt es auch die ganze Problematik der Anerkennung oder Nichtanerkennung kleiner Taten, die Leid und Groll in Familien verursachen. Davon wird uns oft erzählt. In gewisser Weise können sich alle kleinen Hände eines Tages in „Die Kinder der Résistance“ wiederfinden.

Ende 2020 erschien der erste Band im Wiener Bahoe Books Verlag und wurde somit im deutschsprachigen Raum bekannt. In welche Sprachen wurde der Comic noch übersetzt? Und welche Reaktionen gibt es aus diesen Ländern?

Sie werden auch ins Niederländische, Katalanische und Kastilische, Englisch (nur online) übersetzt und eine norwegische Version ist in Vorbereitung. Leider haben wir noch sehr wenig direktes Feedback. Unsere Comics sind sehr Frankreich-zentriert und jedes Land hat den Zweiten Weltkrieg anders erlebt. Dennoch glaube ich, dass die Werte der Erzählung universell sind.

Auf der Webite des Lombard-Verlags erfährt man, dass der Verlag ein großes Repertoire an pädagogischem Material bereithält. Darunter Vorlagen zum Ausmalen, Ausstellungsstellwände, Podcasts mit Fragebögen, Fragebögen zur generellen Geschichte, ein Erinnerungsspiel, ein Escape Game sowie einen Kalender. Wer nutzt diese Materialien? Und wie werden sie eingesetzt?

Sie werden von Schulen und Buchmessen genutzt. Aber auch in Familien. Wir hatten diesen Comic als Erinnerungsarbeit entworfen, aber sehr schnell wurde er auch als Material für Schulen verwendet. In unseren Alben existieren Geschichte und staatsbürgerliches Engagement nebeneinander, was für Schulen von großem Interesse ist. Daran hatten wir bei der Erstellung dieses Comics nicht gedacht, aber das gefällt uns sehr gut. Die Botschaft kommt so bei der jüngeren Generationen an, das ist sehr positiv.

Sie und Benoît Ers sind auf Buchpräsentationen und -messen mit dem Comic vertreten. Suchen Sie auch Schulklassen und Jugendeinrichtungen auf? Und wenn ja, was erleben Sie dort?

Zu unserer großen Überraschung haben die Kinder großes Interesse an dieser Zeit. Wir glauben, dass es der menschliche Aspekt ist, der sie am meisten anspricht. Wir haben darauf geachtet, nicht mehr Nazi-Symbole als nötig zu zeigen, weil wir wissen, dass das eine Faszination ausübt. Auf diese Mühlen wollen wir auf keinen Fall Wasser gießen. In Belgien und Frankreich erscheinen viele Bücher mit Hakenkreuzen auf dem Cover. Das wollten wir keinesfalls. Man prangert den Nazismus nicht an, indem man mit seinen Bildern wirbt. Der Austausch mit den Jugendlichen könnte Stunden dauern. Sie haben unzählige Fragen. Bei Autogrammstunden sehen wir genauso viele Mädchen wie Jungen. Wir haben darauf geachtet, keine stereotype Jungs-Kriegsgeschichte zu machen. Wir wollten, dass sich alle in unseren Alben wiederfinden, Jungen und Mädchen. Klar ist, dass die Lieblingsfigur kleiner französischer Mädchen und Jungen Lisa ist, die kleine Deutsche. Ich denke, es ist eine schöne Symbolik für eine Serie, die den französischen Widerstand erzählt. Ich sehe darin den Hinweis auf die Universalität, die wir versucht haben, in unsere Alben zu bringen. Das ist auch ein Ziel unserer Arbeit: Wir kämpfen gegen eine Ideologie, nicht gegen ein Volk.

Zum Abschluss habe ich noch eine Frage, die mich beschäftigt. Sie und Benoît Ers stammen aus Belgien. Warum thematisierten Sie die Besetzung und den Widerstand in Frankreich und nicht in Belgien?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Wir wollten die Geschichte der Geburt des Widerstands erzählen. Das Bewusstsein, das für seine Entstehung notwendig ist. Der Funke, der die Bewegung hervorbringt. Deutlicher war dies in Frankreich, weil Belgien, ein bereits 1914-18 vollständig besetztes Gebiet, schon eine Vergangenheit mit dem Widerstand besaß, der sich gewissermaßen reaktivierte. In Frankreich wurde er erst geformt. Schließlich ist die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Frankreich vielfältiger als in Belgien. Das Territorium ist sehr unterschiedlich und bietet mehr Möglichkeiten, Widerstand zu leisten. Es gibt auch den ganz besonderen Aspekt der Zusammenarbeit auf höchster Ebene mit Pétain, ein einzigartiger Fall in Europa. In Belgien spielt Kollaboration natürlich auch eine Rolle, aber das Land wurde von einem deutschen Offizier verwaltet.

Vielen Dank für das Interview.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir das Wort erteilt haben.

BenoÎt Ers (Zeichner), Vincent Dugomier (Szenarist): „Die Kinder Résistance. Bd. 1-5“. Bahoe Books, Wien 2020-2022. Je 60 Seiten. Je 16 Euro