40 Jahre „Akira“

Vor 40 Jahren startete Katsuhiro Otomos dystopischer Cyberpunk-Klassiker „Akira“ im japanischen „Young Magazine“. Ein Rückblick.

Am Anfang steht der große Knall. Der Blick fällt aus dem Weltraum auf die Erde, deren Wolkendecke von einem Feuerball aufgerissen wird. „Am 6. Dezember 1992 um 14 Uhr 17 explodierte im Großraum Tokio eine neuartige Superbombe“, ist auf dem schwarzen, sternenlosen Himmel darüber zu lesen. Dann rast das Auge auf den Ort des Infernos zu, die Tokio-Bucht auf einer Doppelseite aus der Luft, nur die Brücken und großen Hauptstraßen des Ballungsraums sind aus dieser Höhe zu erkennen: „Neu-Tokio, achtunddreißig Jahre danach.“

Die Vergangenheit ist ausradiert, Katsuhiro Otomo kann die Welt völlig neu erfinden – nur um sie am Ende abermals zu zerstören. Denn auch am Schluss von „Akira“ wird es donnern, und diesmal wird Tokios Untergang en détail aus nächster Nähe zu sehen sein. Doch bis dahin vergehen beinahe acht Jahre, in denen Otomo über zweitausend Seiten zeichnet, die die Comic-Welt revolutionieren und dem Manga den Weg über Nippons Grenzen hinaus bereiten.

Zunächst aber folgt auf die apokalyptische Ouvertüre Nacht: Kaneda und seine Freunde, „Schüler einer Gewerbeschule, die sich der Gesellschaft nicht anpassen“, jagen auf ihren Motorrädern über die leeren Autobahnen der „alten Stadt“, wie die Sperrzone um den riesigen Krater, den die Superbombe damals riss, genannt wird. Die Maschinen schlagen Funken auf dem Asphalt, Kiesel spritzen hoch, Gegenschnitte von Gesichtern, Rädern, Stiefeln wechseln mit Einstellungen aus Bodenhöhe und mit subjektiver Kamera, Hintergründe verwischen zu vorbeirauschenden Linien – die Bilder suggerieren ein Tempo, das an einen rasant abgedrehten Action-Film erinnert. Dann erfasst ein Scheinwerferkegel plötzlich eine Gestalt auf der Fahrbahn. Tetsuo kann nicht ausweichen, sein Motorrad explodiert beim Zusammenprall. Doch der rätselhaften Gestalt, einem Kind mit greisen Zügen, ist offenbar nichts geschehen. Mit verängstigtem Gesicht steht der Kauz am Straßenrand, beobachtet, wie Tetsuo von seinen Freunden aus den Flammen gerettet wird, und als kurz darauf eine Militärpatrouille eintrifft, löst er sich einfach auf und ist verschwunden.

Die erste „Akira“-Episode, die am 20. Dezember 1982 im japanischen „Young Magazine“ erschien, raste vorbei wie ein atemloser Spuk und war nur das Präludium zu einem monumentalen Science-Fiction-Epos, das erst 1990 nach hundertzwanzig Folgen enden sollte. Dabei erscheint Otomos Welt des Jahres 2030 recht vertraut und wenig futuristisch: Die Straßen des Molochs Neu-Tokio sehen aus wie viele westliche Metropolen schon heute und sind geprägt von Verfall, Verelendung und Müll, in den Ecken kauern Obdachlose und Junkies. Doch unter der scheinbar alltäglichen Oberfläche beginnt es zu brodeln, als in Tetsuo nach seiner Genesung mysteriöse Kräfte erwachen, die sich unter dem Einfluss von Drogen zu Wahnvorstellungen steigern. Tetsuo hinterlässt eine Spur der Verwüstung, bringt allein durch die Kraft seiner Gedanken ganze Gebäude zum Einsturz und tötet schließlich sogar seinen Kumpel Yamagata.

Bild aus Katsuhiro Otomos „Akira“ (Carlsen)

Inmitten der Gewaltorgien taucht immer wieder der Helikopter eines Colonel Shikima auf, und auch eine Untergrundorganisation ist der Motorradgang plötzlich auf den Fersen. Alles wird immer rätselhafter und verwickelter, und nur langsam beginnt sich abzuzeichnen, worum es geht: Bei dem greisen Kauz Takashi, mit dem Tetsuo in der „alten Stadt“ kollidiert war, handelt es sich um eines der Kinder, an denen das Militär geheime Psi-Tests durchführt. Das gefährlichste von ihnen, das auch die Explosion von 1992 auslöste, ist Akira, der in einem unterirdischen Bunker in Kältestarre gehalten wird. Bei dem nächtlichen Zusammenstoß haben sich Takashis Kräfte auf Tetsuo übertragen und wachsen nun ins Unermessliche. Schließlich macht er sich daran, Akira aus seinem Kälteschlaf zu befreien, um dessen unkontrollierbare Macht zu entfesseln, und damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf.

Als der Verlag Kodansha die ersten dreihundertfünfzig Seiten des Action-Spektakels 1984 als Buch herausgab, verkaufte sich der Band binnen kurzem 700.000-mal. Noch im selben Jahr gründete Otomo das Studio Mash Room, dessen Zeichner nun vor allem die unzähligen Details lieferten, die seinen Seiten eine in Japan bisher noch nicht gesehene naturalistische Wirkung verliehen. Der überwältigende Erfolg führte auch zu dem bis dahin aufwendigsten japanischen Zeichentrickfilm, für dessen Realisierung Otomo 1986 sogar die Arbeit an seinem Comic unterbrach: Der zweistündige Anime wurde 1988 fertiggestellt und zum Kultfilm; 1990 erschien endlich auch der sechste und letzte Band der – von der Filmhandlung streckenweise stark abweichenden – Manga-Fassung. Otomo war zum neben Osamu Tezuka berühmtesten Mangaka geworden und wurde in Japan gefeiert wie ein Popstar.

„Akira“ ist oft als Allegorie auf die atomare Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis interpretiert worden, ein Bezug, den Otomo stets zurückgewiesen hat. Vielmehr verhandelt seine Cyberpunk-Saga als Subtext das Lebensgefühl der japanischen Jugend, die sich in den 1980er-Jahren gegen die rigide Leistungsgesellschaft aufzulehnen begann. Befreiend wirkte auch Otomos ästhetische Erneuerung der Gattung. Beeinflusst vor allem von den Arbeiten des Franzosen Moebius, hat Otomo auf die für den Manga bislang typische Rhetorik der pathetischen Übertreibung weitgehend verzichtet, karikaturhafte Reduzierung ist einem neuen Hyperrealismus gewichen. Selbst die Charaktere sind nicht mehr wie bisher üblich äußerlich „verwestlicht“, sondern haben nun flache Nasen und deutlich asiatische Gesichtszüge. Dieser Bruch mit der stilistischen Tradition Tezukas bei gleichzeitiger Annäherung an westliche Sehgewohnheiten ebnete dem Manga den Weg zum Exportartikel: 1988 begann in den USA Marvel mit einer (von Steve Oliff) kolorierten amerikanischen „Akira“-Ausgabe, die Anfang der 1990er Jahre ihren Weg nach Europa fand und auch dort einen bis heute andauernden Manga-Boom auslöste.

Katsuhiro Otomo wurde am 14. April 1954 in Sanuma in der Präfektur Miyagi geboren. Während seiner Schulzeit begann er sich für das Kino zu interessieren; vor allem das amerikanische New Cinema begeisterte ihn, und oft nahm er die dreistündige Fahrt nach Sendai in Kauf, um dort Filme wie „Easy Rider“ oder „Bonnie and Clyde“ zu sehen. Ab 1971 veröffentlichte Otomo Illustrationen, zwei Jahre später zog er nach Tokio, um Comic-Zeichner zu werden. Mit „Jyu-sei“, einer Adaption von Prosper Mérimées „Mateo Falcone“, legte er 1973 seinen ersten Manga vor, dem weitere Kurzgeschichten folgten. 1977 begann Otomo mit „Sayonara Nippon“ seinen ersten Comic in Fortsetzungen und zwei Jahre später mit „Fireball“ („Der Feuerball“) auch eine erste längere Science-Fiction-Story. Im selben Jahr folgte seine erste Buchveröffentlichung. Der Durchbruch gelang Otomo 1980 mit „Domu“ („Das Selbstmordparadies“), seiner bis dahin umfangreichsten Arbeit, in der ein alter Mann die Bewohner eines Wohnblocks durch telekinetische Befehle dazu treibt, sich in den Tod zu stürzen; die drei Jahre später erschienene Buchausgabe wurde mit 500.000 verkauften Exemplaren zum Bestseller und mit dem japanischen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet, der zuvor nur für Romane verliehen worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits Koichi Yuri, Chefredakteur von „Young Magazine“, Otomos Talent entdeckt und den Zeichner zur Mitarbeit gewonnen. Nachdem er „Akira“ nach 2.160 Seiten beendet hatte, begnügte sich Otomo mit der Rolle des Autors und schrieb 1990 für den Zeichner Takumi Nagayasu das vom Umfang her kaum kürzere Science-Fiction-Epos „Mother Sarah“, das von einer jungen Frau handelt, die auf die nach einer atomaren Katastrophe verwüstete Erde zurückkehrt, um nach ihren Kindern zu suchen. Seitdem hat sich Otomo als Drehbuchautor, Zeichner, Regisseur oder Produzent ganz dem Zeichentrick- und Realfilm gewidmet und war beteiligt an „World Apartment Horror“ (1991), „Roujin Z“ (1991), „Memories“ (1995), „Perfect Blue“ (1997), „Spriggan“ (1998), „Metropolis“ (2001) und „Steamboy“ (2004).

Dieser Beitrag erschien zuerst in dem Buch: Andreas C. Knigge: „50 Klassiker Comics. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman“, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 2004.

Andreas C. Knigge, geboren 1957, war Mitbegründer des Fachmagazins „Comixene“, Herausgeber des „Comic Jahrbuchs“ und 16 Jahre Cheflektor des Carlsen Verlags. Neben einem Comic-Lexikon und zahlreichen Sachbüchern zum Thema hat er auch Comic-Szenarios geschrieben. Zuletzt erschien von ihm „Der Griff nach den Sternen. Nick der Weltraumfahrer von Hansrudi Wäscher“.