„Auch im Hochhaus droht die Gentrifizierung!“ – Im Gespräch mit Katharina Greve

Liebe Katharina Greve, gerade ist im Avant-Verlag „Das Hochhaus“ erscheinen die Buchversion Ihres gleichnamigen Webcomics. Wie kam es zu der Idee und warum sollten es ausgerechnet 102 Etagen sein?

Die Idee hatte ich bereits 2009. Mir fiel auf, dass es eine Parallele zwischen dem Bau eines Hauses und dem Schreiben eines Web-Blogs gibt: Beim Blog stapelt man Kapitel auf Kapitel wie beim Haus Etage auf Etage. Außerdem fand ich schon immer, dass ein Längsschnitt durch ein Haus an einen Comic erinnert: Jeder Raum ist ein Panel. Und schließlich wunderte ich mich, dass so wenige Webcomics die Möglichkeit der unendlichen Zeichenfläche des Internets nutzten. Logische Folge dieser Überlegungen war, ein theoretisch unendliches Hochhaus im Netz zu bauen. Das Projekt lag dann ein paar Jahre in der Schublade, bis ich es 2015 endlich angefangen habe.

Als die Idee konkreter wurde, habe ich mich entschieden, es nicht unendlich hoch werden zu lassen. Ich wollte eine Geschichte mit Anfang und Ende schreiben, sonst wird es leicht beliebig. 102 Etagen sind es dann geworden, da ich eine dreistellige, gerade Zahl erreichen und ungefähr zwei Jahre daran arbeiten wollte. Außerdem gefällt mir die Zahl einfach.

Wenn ich jetzt das fertige Haus betrachte, mag ich besonders, dass der Längsschnitt eine Momentaufnahme aus dem Leben aller Bewohner zu ein und demselben Zeitpunkt zeigt. In einem klassischen, linear erzählten Comic vergeht ja Zeit zwischen den Panels, mal mehr und mal weniger. Im Hochhaus sehen wir 102 Facetten eines Momentes, als würde man – physikalisch unkorrekt ausgedrückt – die Raumzeit senkrecht über die gesamte Gebäudehöhe ausdehnen.

 Was hat Sie in diesen zwei Jahren bei Ihrer Arbeit inspiriert?

Inspirationen für die Szenen kamen aus allen Richtungen: aktuelle gesellschaftliche und politische Ereignisse, die ich dann in private Situationen übersetzt habe, Erzählungen von Freunden, eigene Erlebnisse und Beobachtungen. Das alte Ehepaar im Erdgeschoss zum Beispiel ist die Paketstation der ganzen Nachbarschaft – davon kann ich als Freiberuflerin, die meist zuhause ist, ein langes Lied singen. Bei den aktuellen Bezügen war mir wichtig, dass die Szenen so allgemeingültig und selbstständig sind, dass sie auch noch in zwei Jahren funktionieren, und nicht wie eine tagespolitische Karikatur ohne konkreten Bezug unverständlich werden. Im 80. Stock zum Beispiel baut gerade ein Vater, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Herrn Erdogan hat, seine Familie zu einer Diktatur um. Auch in den Seitenfenstern tauchen aktuelle Ereignisse auf, im 54. Stock zum Beispiel eine Hommage an Bob Dylan und seinen Nobelpreis.

Die Szenen in den einzelnen Wohnungen sind mal in sich geschlossen, mal haben sie über die Etagen miteinander zu tun. Wie haben Sie den Überblick über die Handlungsstränge behalten?

Für die Planung der Etagen und der roten Handlungsfäden habe ich mir auf großen Pappen eine analoge Matrix gebastelt: eine lange Tabelle mit Feldern für alle Räume des Hauses, die ich nach und nach mit sehr vielen kleinen gelben Klebezetteln gefüllt habe. Bei den roten Fäden war natürlich wichtig, dass die Zusammenhänge in beide Richtungen zu lesen sind: von unten nach oben für die Leser, die das Hochhaus jede Woche besuchen, und andersherum für Besucher, die später in den Webcomic einsteigen. Dummerweise habe ich jetzt noch einen ordentlichen Haufen bekritzelte Klebezettel übrig. Das Haus ist nicht hoch genug für alle Ideen. Vielleicht muss ich doch eines Tages aufstocken.

Am schwierigsten war natürlich das Dachgeschoss. Hier sollten zwei Handlungsstränge zusammenlaufen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, damit das Haus eine End-Pointe bekommt. Schließlich habe ich dafür eine Lösung gefunden.

Sie selbst haben Architektur an der TU Berlin studiert, sich dann aber für den Beruf der Cartoonistin und Comiczeichnerin entschieden. Warum sind Sie nicht Architektin geworden? Welche Freiheiten bietet Ihnen der jetzige Beruf, die Ihnen die Architektur nicht geboten hat? 

Schon während des Studiums war mir die Architektur einfach zu realistisch. Die Architektin muss sich ja nicht nur an Naturgesetze halten, sondern auch noch Räume für Menschen schaffen, in denen die tatsächlich leben – von den kruden Ideen vieler Bauherren und Investoren mal ganz abgesehen. Also habe ich mich nach dem Diplom auf die Suche nach etwas anderem gemacht, mich in der Kunst umgesehen, das szenische Schreiben entdeckt. 2004 habe ich dann festgestellt, dass ich lustige Ideen habe, mir Geschichten ausdenken und dann auch noch passabel zeichnen kann. Da war es nur noch ein kleiner Schritt zu Cartoon und Comic. Kunst und Schreiben gibt es immer noch, mein Lieblingsmedium ist aber momentan das zeichnerische Erzählen. Der große Vorteil ist, dass ich dabei alles sein kann: Drehbuchautorin, Regisseurin, Szenografin, Masken- und Kostümbildnerin. Das kommt meinem heimlichen Anspruch auf Allmächtigkeit sehr nahe. Und wenn ich Häuser entwerfen möchte, kann ich das ja jederzeit für meine Comic-Figuren machen.

In den aktuellen Debatten um Stadtentwicklung wird das Hochhaus oft als Lösung der Wohnungsnot in den Städten propagiert. Verfolgen Sie die Debatten in Berlin? Sollte es hier in der Stadt mehr Hochhäuser geben? 

Ja, das Hochhaus erlebt gerade eine Renaissance, ist aber nicht die Antwort auf alles. Zuerst ist es ein Bautyp, der per se noch nicht unsere drängenden gesellschaftlichen Probleme löst. Berlin ist seit Jahren auf dem besten Weg, wie so viele Metropolen seine zentralen Bezirke in glänzende Büro-, Shopping- und Luxusloft-Landschaften für Investoren, Gutbetuchte und Touristen umzuwandeln. Nichtbesitzende finden dort höchstens einen Platz als Bedienung, aber garantiert keine Bleibe. Das passiert, wenn man das Menschenrecht Wohnen – übrigens von den Vereinten Nationen als solches definiert – verscherbelt. Das lässt sich nicht einfach durch Verdichtung der Stadt und eine bestimmte Gebäudeform ändern. Am Anfang muss die Überlegung stehen, wer hier überhaupt lebt und in Zukunft leben soll. Wie kann die Verdrängung arm durch reich gestoppt werden? Der aktuelle Senat hat schon ein paar Tropfen auf den heißen Stein gekippt, zum Beispiel mehr Milieuschutzgebiete. In denen ist es etwas schwieriger, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln, wenn die Regelungen nicht mit Tricks umgangen werden. Das sind richtige Tropfen – aber eben nur Tropfen. Ich glaube, dass ein sehr viel radikaleres Umdenken und Eingreifen in die Marktmechanismen nötig ist, wenn man so etwas wie eine sozial gerechte Stadt tatsächlich erreichen will.

Aber Ernst beiseite: Auch im Hochhaus droht die Gentrifizierung! Die reiche Dame, die in die 94. Etage gezogen ist, wird das Hochhaus salonfähig machen, die Nachfrage ankurbeln und die Mieten nach oben treiben. Erste Anzeichen: Die gerammelt volle Wohnungsbesichtigung im 8. Stock. Demnächst werden sich die Multi-Jobber aus der 56., die Messi-Oma aus der 18. und die Studentinnen aus der 13. Etage die Mieten nicht mehr leisten können.

Und nicht zuletzt ist „Das Hochhaus“ auch eine Lektüre, bei der man sich vor Lachen krümmt. Wie wichtig ist Humor für Sie, um Ihre Ideen und Themen zu vermitteln? Wer sind Ihre Vorbilder in Sachen Humor und Karikaturen? 

Ab dem ersten Kaffee morgens ist Humor für mich das Wichtigste – und zwar in allen Lebenslagen. Vorher jedoch ist das Wichtigste eben dieser Kaffee.

Komik ist ein probates Mittel, Kritik zu verpacken oder Themen in die Welt zu bringen, die mir etwas bedeuten, zum Beispiel der nach wie vor große Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen, der im 74. Stock die Hauptrolle spielt. Ich mag aber auch den puren Nonsens, den völlig sinn- und zweckfreien Ulk. Darum bin ich natürlich ein Fan der Neuen Frankfurter Schule, die ich für bahnbrechend in der deutschen Humorgeschichte halte.

Nach zwei Jahren geben Sie Ihre Bauherrschaft am Hochhaus nun auf und wir sind schon gespannt auf Ihre zukünftigen Werke. Haben Sie schon ein neues Projekt in Planung? 

Nach wie vor hängt mein Herz sehr an der Serie „Die dicke Prinzessin Petronia“, die ich für DAS MAGAZIN zeichne und nächstes Frühjahr bringe ich mit der Kollegin Kittihawk einen Cartoon-Band heraus.

Eine neue Idee für einen Comic-Roman gibt es auch schon. Sie hat mit dem Militär und einer schillernden Verschwörungstheorie zu tun. Aber hier stecke ich noch mitten in der Entwicklung der Handlung, daher ist es etwas zu früh, um mehr davon zu erzählen.

Abb. © Katharina Greve