Pusteblume! – „Die Abenteuer von Tim und Struppi“

© Sony Pictures

Wenn es etwas gibt, wofür das 3-D-Verfahren sich lohnt, dann für die künstlich erzeugten Nachfolger des guten alten Staubes, der im Licht der Projektoren auf der Leinwand zitterte: Funkenflug, Wassertropfen, Pusteblumen. Es sind die sehr kleinen Dinge, die den dreidimensionalen Raum erzeugen. Das tun sie auch in ein paar magischen Momenten des Films „Die Abenteuer von Tim und Struppi – Das Geheimnis der Einhorn“. Doch wenn wir damals im Staub der Projektorlampe zugesehen haben, wie ein Held erzeugt wird, sehen wir heute eher dem Zerfall, dem Zerlegen, vornehm: der Dekonstruktion, trashig: dem Zerhacken einer Person zu. Das ist gut so, denn in dieser staubfreien Zone versammeln sich die zerlegten und zerhackten Subjekte eines Zeitalters, das man als postidentisch bezeichnen kann.

Der postidentische Mensch hat es aufgegeben, jenen glücklichen Zustand zu erreichen, den Popeye, der Spinatmatrose, einmal mit den Worten beschrieb: „I yam what I yam an’ that’s all I yam“ (zu Deutsch etwa „Ich bin, was ich bin, und das is’ alles, was ich bin“). Ich ist nicht einmal mehr ein anderer, und Tinkerbell lebt hier nicht mehr. Daher benötigen wir Helden, die uns das neue zerlegte Leben vormachen. Etwa indem sie sich wie der Held von „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ der biografischen Grammatik verweigern und in einer ewigen Jugend einrichten.

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Die postidentische Ära des Kinos geht einher mit der Erneuerung des Mediums aus dem Rechner. Und zwar in drei Schritten: Computeranimation, die stets verfeinerten Rendering-Verfahren (die errechnete Veränderung von Oberflächen und Lichteinfall) und schließlich das Motion Capture, mit dem man Aufnahmen von realen Schauspielern in hinreichende Datenmengen verwandelt, um sie etwa als Comicstrip-Figuren jenseits aller körperlichen Begrenzungen agieren zu lassen.

Die Herstellung eines Bewegungsbildes für einen Film wie „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ darf dabei durchaus als metaphorisch angesehen werden: Schauspieler bewegen sich auf einer Bühne, die „Volume“ genannt wird, etwa hundert Kameras verfolgen ihre Bewegungen und speichern die Daten anhand von an ihrem Körper angebrachten Lichtpunkten. Gleichzeitig tragen diese Schauspieler Helme, in denen eine eingebaute Kamera die Bewegung der Augen und des Mundes festhält. Mimik und Gestik werden dann wieder zusammengesetzt. Danach erfolgt das „digitale Make-up“: Die realen Schauspieler werden in die gewünschten Erscheinungen verpackt. In Spielbergs „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ sind es großnasige, stark konturierte Comicfiguren, die perfekt nach dem gezeichneten Vorbild modelliert sind. Ist also, was da zu sehen ist, ein realer Mensch, der nur ein besonders raffiniertes Kostüm und Make-up trägt, enthoben aller Stofflichkeit? Oder ist es eine Computerfigur, die auf perfekte Weise menschliche Vor-Bilder „verarbeitet“? Es ist das Beste von beiden Seiten, werden Spielberg und sein Produzent Peter Jackson sagen. Es ist das Schlimmste von beiden Seiten, sagen die Kulturpessimisten: der von der Bilder-Maschine gefressene Mensch.

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Dass sich Steven Spielberg ausgerechnet diesen europäischen Comic-Klassiker ausgesucht hat, ist kein Zufall. Tintin, der rundköpfige Reporter-Held mit der charakteristischen Haartolle, und sein treuer Hund Malou, in Deutschland Tim und Struppi, sind Kinder der dreißiger Jahre und entstammen einem durchaus problematischen Umfeld: Der junge Zeichner Georges Remi, der sich Hergé nannte, schuf die Figuren für die Kinderbeilage einer erzkonservativen rechtskatholischen Zeitung, und rassistische, kolonialistische und antikommunistische Propaganda war denn auch ihr erster Daseinszweck. Bemerkenswerterweise emanzipierte sich Tintin in der Zeit der deutschen Besatzung; hier entwickelte Hergé seinen klassischen, detailreichen Stil, dem man später die Bezeichnung ligne claire zuordnete. Außerdem verbannte er die politischen Aspekte in den Hintergrund, wo merkwürdige Überbleibsel der ursprünglichen ideologischen Bösartigkeit mit neuen Elementen von Humanismus und Subversion einen endlosen Zeichenkrieg führten und es bis heute tun.

Gleichzeitig ist Tim selber, dieser alters-, geschlechts- und eigenschaftslose Tugendbolzen, auch eine affektive Leerstelle, ein Nichtsubjekt, das umso gründlicher verschwindet, je näher man es anzusehen versucht. Diese Spannung zwischen einer vom Autor so gedachten „Leerstelle“ – „Pusteblume“, so kann man Tintin auch übersetzen – und einer endlos suggestiven, von historischen Details und Bezügen überbordenden Bildwelt (mit einer Vorliebe für Figuren voller Größenwahn, Psychosen und Sadismen) macht womöglich jenes Abgründige in „Tim und Struppi“ aus.

Man begreift sofort, was Spielberg an dieser Figur gereizt hat. Da ist dieser ewige Junge, der mit seiner Neugier den „Erwachsenen“ bei ihrer Korruption lästig werden kann, da ist diese Sehnsucht nach familiärem Zusammenhalt und Freundschaft, da ist das Abenteurertum à la „Indiana Jones“, und da ist eine schon in Hergés Zeichnungen angelegte Kinematografität. Bei Spielberg ist Tim einer der gewöhnlichen Jungen, die im Augenblick der Gefahr über sich hinauswachsen, die sich nach nichts so sehr sehnen wie nach einem väterlichen Freund und gutem Rat und die doch lernen müssen, mit Verlusten zu leben. Der digital maskierte, nach einem realen Schauspieler-Vorbild modellierte Tim ist zweifellos „lebendiger“ als der Tim, den wir aus den Comics kennen. Spielberg beschreibt diese Differenz denn auch in einer genialen Eingangssequenz, in der Hergé selber als Schnellmaler auf dem Flohmarkt auftritt: „Ziemlich gut getroffen“, ist der Kommentar des filmischen zum gezeichneten Tim.

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Der erste Teil des Films zeigt Tintins Reise in die Nacht, und es sind zweifellos die schönsten Film-Malereien in „Die Abenteuer von Tim und Struppi“. Spielberg beglückt Tintin hier mit etwas, was Hergé aus seinem Werk verbannt hatte, mit dem Eintauchen ins Malerische, in alle nur erdenklichen Farben der Dunkelheit und der Ambiguität. Im zweiten Teil zeigt Spielberg die Comicfiguren in „klarem“ Kontrast zu den so perfekt und feinteilig simulierten Erscheinungen der Natur, des Wassers, des Sandes, der Wüste. Und im dritten Teil dreht er, sehr „Indiana Jones“-mäßig, zu wilden Verfolgungs- und Fluchtszenen auf. Brillant ist alles drei, effektvoll auch.

Nur eine Einheit bildet das nicht. Im Gegensatz zum Comic-Tintin ist der Film-Tim nicht, sondern er geschieht. Sieht man ihn einmal nicht in Bewegung, so beginnen schon Selbstzweifel und Verzagtheit; Tim ist von der „Leerstelle“ nicht zu einer Person geworden, sondern: zu einem postidentischen Akteur, für den Zeit und Raum – das rein technisch erzeugte „Volume“ des Lebens – nur als beliebig vorstellbar sind. Deswegen gibt es in diesem Film auch keine historische Bestimmung. Es gibt Elemente, die aus den dreißiger und vierziger Jahren stammen, solche, die eher den Fünfzigern zuzuordnen sind, und wieder andere, die auf eine Zeitgenossenschaft dieses Tim hinzuweisen scheinen. Spielbergs Tim agiert in einer Nichtzeit, und all die historische Abgründigkeit, diese Verwandlung von einem Mitläufer des Faschismus in einen humanistischen Kämpfer für Gerechtigkeit (mochten wir sie dem Hergé-Tim nun vollständig abnehmen oder nicht), ist auf wundersame Weise verschwunden.

Außerdem geht es natürlich um einen Schatz. Identität ist noch allemal eine Frage des Einkommens. Und was kann Tim gewinnen? Kapitän Haddock verspricht es ihm: eine Story. Logisch, er ist ja Reporter, oder? Aber die Story interessiert Tim offensichtlich auf ganz andere Weise. Darum ist er es, der am Ende seinen neuen Freund, der eigentlich mit dem alten Familienschloss und einem Hut voller Juwelen ganz zufrieden wäre, zu neuerlichem Aufbruch drängt. Da ist immer noch ein größerer Schatz! Und da ist für Tim die Story seines Lebens. Wie Indiana Jones zieht es ihn zum Abenteuer, weil er in einer bürgerlichen „Identität“ ganz einfach wieder nichts wäre. So wie der Mensch mit seinem digitalen Abbild verschmilzt, so verschmelzen im postidentischen Helden das Sein und das Nichts. Pusteblume!

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Die Zeit 44/2011

Die Abenteuer von Tim und Struppi – Das Geheimnis der Einhorn
Originaltitel: The Adventures of Tintin
USA / Neuseeland / Belgien 2010

Regie: Steven Spielberg – Darsteller: (Motion Capture) Jamie Bell, Andy Serkis, Daniel Craig, Simon Pegg, Nick Frost, Cary Elwes, Toby Jones – FSK: ab 6 – Länge: 107 min. – Start: 27.10.2011

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien im Bertz+Fischer Verlag Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur.