Die fremden Staaten von Amerika

© Image Comics / Cross Cult

Wenn die Pandemiekatastrophe täglich vor der eigenen Haustür stattfindet, könnte man auf Comic-Dystopien doch glatt verzichten, oder? Von wegen. Scott Snyder und Charles Soule entwerfen in „Undiscovered Country“ eine sehr lesenswerte Zukunftsvision der USA.

Auch ohne einen narzisstischen Isolationisten wie Trump ist es den USA in einer unbestimmten Zukunft gelungen, sich aus der Weltgemeinschaft zu verabschieden. Nach jahrelangen Vorbereitungen im Stillen brechen die Vereinigten Staaten rätselhafterweise alle Handels- sowie diplomatischen Beziehungen zur Außenwelt ab. Dreißig Jahre sind seit der Abschottung vergangen, und die Welt ist im Unklaren darüber, ob die USA in Wohlstand aufgeblüht oder im Chaos versunken sind.

Scott Snyder, Charles Soule (Autoren), Giuseppe Camuncoli, Daniele Orlandini & Leonardo Marcello Grassi (Zeichner): „Undiscovered Country 1: Schicksal“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Heiss. Cross Cult, Ludwigsburg 2021. 176 Seiten. 22 Euro

Eine europäisch-afrikanisch-asiatische Delegation macht sich nun auf den Weg, den Kontakt wiederherzustellen. Nicht ganz uneigennützig, denn eine globale Virus-Pandemie rafft mit unglaublicher Geschwindigkeit die Weltbevölkerung dahin. Die Amerikaner versprechen einen Impfstoff, der den drohenden Kollaps verhindern soll. „Die Inzidenzzahlen sind viel zu hoch. Sie können Quarantäne und Lockdowns anordnen, wie sie wollen…“ Kommt einem sehr bekannt vor. Als die nach üblichen Genre-Konventionen zusammengewürfelte Truppe die USA erreicht, verläuft der Empfang nicht sonderlich gastlich. In der Einöde des Südwestens geraten sie in einen bewaffneten Konflikt zwischen dem Warlord „Destiny Man“ und dem Widerständler Samuel Elgin (aka Uncle Sam). Ein wenig „Mad Max“ liegt in der staubtrockenen Luft.

Das Amerika der Zukunft ist nicht mehr in Bundesstaaten unterteilt, sondern in spiralförmig um ein Zentrum angeordnete Zonen, die durch imposante Wälle voneinander getrennt werden. Destiny Man und Uncle Sam möchten ihre Zone verlassen, allerdings müssen sie dafür erstens wissen, wo der Übergang möglich ist, und zweitens über den richtigen Schlüssel verfügen. Natürlich liegt beides nicht in den gleichen Händen, und damit beginnt das Abenteuer. Zudem hat irgendwer an der Uhr gedreht: Ein Expeditionsmitglied vermutet, dass die Zeit in den USA schneller vergeht als im Rest der Welt. Diese These zu beweisen, ist seine Motivation für dieses Unterfangen. Aber natürlich hat jeder und jede ganz eigene Gründe für diese Mission.

Es überrascht nicht, dass „Undiscovered Country“ so unglaublich routiniert wie einfallsreich erzählt ist. Scott Snyder gehört seit seinem legendären Batman-Run zu den Stars der Branche, und gemeinsam mit Charles Soule ist ihm nun eine beeindruckende Serie gelungen, die zugleich als entrückte Dystopie daherkommt und dennoch voll und ganz in der amerikanischen Gegenwart verankert ist. Snyder und Soule haben die Zonen als soziale und ökologische Laboratorien angelegt, mit je eigenen Versuchsanordnungen – und verdammt viel Phantasie. Auch die Zeichnungen von Giuseppe Camuncoli beeindrucken nicht nur wegen der originellen Motive: Oft entfalten sich die visuellen Panoramen über ganze Doppelseiten, übrigens wundervoll koloriert von Matt Wilson („Paper Girls“, „Fire Power“).

Als actiongeladene Gesellschaftsanalyse steht „Undiscovered Country“ in direkter Nachbarschaft zu Robert Kirkmans abgeschlossenem Zombie-Longseller „The Walking Dead“. Es wird sich zeigen, ob „Undiscovered Country“ an dessen internationalen Erfolg anknüpfen könnte. Die Serie erscheint seit November 2019 im Monatsrhythmus bei Image Comics. Der erste Band umfasst die ersten sechs Hefte, der zweite Band der deutschen Ausgabe ist bei Cross Cult für August angekündigt.

Dieser Text erschien zuerst in: Multimania #83 (Mai/Juni 2021).

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

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