Die Super- und Antihelden vom Planeten Creator

Sie tragen gleißende Kleider, extravagante Frisuren und jede Menge futuristische Gimmicks: Die drei Ober-Superhelden auf dem Planeten Creator. Sie sind zusammengekommen, um zu ergründen, ob das Universum tatsächlich aufgehört hat, sich auszudehnen. Dazu muss man wissen, dass Creator Wohnsitz unzähliger Helden ist, die mit nichts anderem beschäftigt sind, als großartige Ideen zu produzieren – und so dafür sorgen, dass das Universum stetig expandiert. Eine vom Rand der Galaxie eingetrudelte Nachricht behauptet nun, dass das ein Ende hat. Creator ist in Aufruhr.

Die drei strahlenden Superstars, die bei der Aufklärung des Rätsels helfen sollen, heißen „The Original Noveller“, „The Valuable Usefuller“ und „The Exciting Beautifuller“ und sind Allegorien für das Neue, das Wertvolle und das Schöne. Die drei Begriffe stehen im Mittelpunkt der herkömmlichen Kreativitätstheorien: Diese versuchen herauszuarbeiten, was es braucht, um neue, wertvolle und schöne Ideen hervorzubringen.

Genau diese klassischen Kreativitätstheorien hinterfragen die Sozialwissenschafter Benjamin Schiemer und Roman Duffner sowie der Künstler S. R. Ayers in einer wissenschaftlichen Arbeit, die kürzlich im Fachjournal „Sociologica“ veröffentlicht wurde – und zwar in Form einer Graphic Novel. „Wir haben schon öfter damit experimentiert, Theorien bei Präsentationen und in Lehrveranstaltungen zu visualisieren und Allegorien einzusetzen“, sagt Benjamin Schiemer vom Institut für Organisation der Johannes-Kepler-Universität Linz.

Seite aus „Theories of Creativity: The Significance of the Insignificant“ (© Schiemer / Duffner / Ayers)

In der wissenschaftlichen Graphic Novel verarbeiten Schiemer und Duffner, der am Institut für Theorie und Geschichte der Anton-Bruckner-Universität in Linz tätig ist, ihre Forschung zu Mechanismen, deren kreative Kraft nicht so offensichtlich ist und denen üblicherweise kaum Bedeutung beigemessen wird. „In unserer ethnografischen Musikforschung sind wir darauf gestoßen, dass gerade durch Unfertiges, durch ungeplante Zeitfenster oder scheinbar triviale Dinge kreative Prozesse in Gang gesetzt werden“, sagt Schiemer.

Kreativität legten auch die beiden Forscher an den Tag – und wollten ihre neuen Theorien in visuelle Metaphern gießen. Gemeinsam mit S. R. Ayers, mit dem Schiemer schon bei anderen künstlerischen Projekten zusammengearbeitet hatte, entstand schließlich die wissenschaftliche Comicarbeit „Theories of Creativity: The Significance of the Insignificant“ – auch dank der Offenheit der „Sociologica“-Redaktion gegenüber neuen Formaten.

Ideen vom Schrottplatz

Zurück zum Planeten Creator: Um herauszufinden, ob sich tatsächlich ein Fehler in die Ideenproduktion eingeschlichen hat, will ein Team aus vier Wissenschafterinnen und Wissenschaftern herausfinden, wer das Kreativitätsrad am Laufen hält. Es stellt sich heraus, dass die drei Superstars auf eine ganze Reihe von Ideengebern zurückgreifen. Da wäre zum Beispiel „Flowy, the Effortless“, der in Form eines lebendigen Surfbretts die psychologische Flow-Theorie verkörpert. Oder der „Structural Folder“, ein komplett verkabeltes Maschinenwesen, das für ein Konzept in der Netzwerktheorie steht. Der „Open Innovator“ werkt in einem Raum voller Türen, hinter denen sich Ideen verbergen, die niemandem gehören.

Bei ihrer Recherche stellt das Forscherteam fest, dass die möglicherweise produktivsten Ideengeber auf einem Schrottplatz fernab der glamourösen Hauptstadt leben. Hier kommen die von Schiemer und Duffner entwickelten Theorien ins Spiel, zum Leben erweckt als drei zerzauste, cyberpunkige Antihelden. „The Temporary Incompleter“ ist damit beschäftigt, Dinge zu zerlegen. „The Complex Trivializer“ bemalt gerade einen Rubik-Würfel mit einer einzigen Farbe. Und „The Afforded Meantimer“ nimmt sich ein bisschen Zeit für Bewegung.

Seite aus „Theories of Creativity: The Significance of the Insignificant“ (© Schiemer / Duffner / Ayers)

Die Figur des „Temporary Incompleter“ ist Ergebnis von Schiemers Beobachtung einer Online-Community, in der gemeinsam an Songs gearbeitet wird: „Hier hat sich gezeigt, dass die vorläufige Unfertigkeit eines Werks dazu führt, dass ein produktives Engagement für die Sache und die Community entsteht und gemeinsam neue Fähigkeiten entwickelt werden.“

Der „Complex Trivializer“ geht auf eine Auseinandersetzung von Roman Duffner mit offenbar banalen Dingen in der Musikproduktion zurück. So kann etwa das Drücken eines Instrumentenknopfs oder ein Mausklick das Potenzial haben, den kreativen Prozess aufzumischen. In einer anderen, noch unveröffentlichten Studie, für die Schiemer die Produktion in einem Musikstudio begleitet hat, hat sich gezeigt, dass sich in der Zwischenzeit (englisch: „meantime“), während ein Computer hochfährt oder Instrumente aufgebaut werden, einiges an Kreativität entfalten kann.

Gegenentwurf zum Genie

Die drei Comic-Freigeister sind es schließlich, die den Forschern bei der Entschlüsselung der ominösen Nachricht über die Expansion des Weltraums auf die Sprünge helfen. „Wir wollen zeigen, dass es bei Kreativität nicht nur um abgeschlossene, fokussierte Prozesse geht, sondern auch scheinbar unbedeutende Dinge Kreativität zum Vorschein bringen können“, sagt Schiemer. Er und seine Kollegen wollen damit auch einen Gegenentwurf zum diffusen Geniegedanken anbieten.

Eine vollständig gezeichnete wissenschaftliche Arbeit ist jedenfalls ein Novum – abgesehen von Nick Sousanis’ „Unflattening“, die womöglich erste Dissertation in Comicform, die 2015 bei Harvard University Press erschien. Doch was kann das Medium als wissenschaftliche Methode? „Eine Graphic Novel bedient mehr Sinne und spricht auch Emotionen an, wodurch sich komplexe Theorien leichter vermitteln lassen, sowohl in der Lehre als auch für ein fachfremdes Publikum“, sagt Schiemer. „Theorien werden dabei nicht nur übersetzt in Bilder, sondern die Bilder sprechen zu uns zurück und formen unser Verständnis einer Theorie mit.“

Die Darstellung in Comicform ermögliche so auch eine andere Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, ist Schiemer überzeugt. „Ein Comic gibt Antworten auf theoretische Fragen, an die man ursprünglich gar nicht gedacht hatte.“ Fest steht: Wenn die Comictheorien auf dem Papier lebendig werden, lässt das jede klassisch vermittelte Theorie blass aussehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.07.2021 auf dem Standard-Comicblog Pictotop.

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.

Seite aus „Theories of Creativity: The Significance of the Insignificant“ (© Schiemer / Duffner / Ayers)