Bong Joon-Hos Verfilmung und eine Netflix-Serie haben „Snowpiercer“ bemerkenswerte Updates verpasst. Aber auch Jean-Marc Rochettes und Jacques Lobs Comicvorlage aus den 80ern und 90ern hat sich ihre Intensität bewahrt.
„Das ist der Schneekreuzer mit seinen tausend Wagen, die letzte Zuflucht der Zivilisation.“ Dieser Satz ist das Vexierbild, die zentrale Metapher, der Refrain, das Mantra und eigentlich die im nachdrücklichen Sinn ganze Geschichte, die diese dreiteilige und in einem prächtigen Einzelband gesammelte, schwarzweiße Comic-Dystopie namens „Snowpiercer“ erzählt.
Nach einem globalen und nicht von natürlich-elementaren, sondern technisch-gesellschaftlichen Katastrophen verursachten Klimakollaps ist der Planet Erde in einer neuen Eiszeit erstarrt. Ein gigantischer ehemaliger Kreuzfahrt-Luxus-Zug befindet sich als Perpetuum mobile auf Dauerfahrt durch den ewigen arktischen Winter und beherbergt den Rest der Menschheit. Es gibt kein Ziel, keine Stopps, keine Außenwelt, kein Reisen, nur das unendliche Dahingleiten auf endlosen Schienen und ein Miteinander in einem Raum ohne Raum.
Die Wagenklassen entsprechen den sozialen und sind strengstens voneinander getrennt: In den vorderen Waggons leben die Reichen, Mächtigen, Besitzenden; die zweite, mittig gekoppelte Klasse gehört den Kleinbürgern; und im rollenden Ghetto der hintersten Wagen (dem „Arsch“) vegetiert das Lumpenproletariat. Doch die Ordnung dieser negativutopischen mobilen Welt ist, als in klaustrophober Räumlichkeit verdichtetes Positiv nahezu sämtlicher das 20. Jahrhundert formenden bösen Wirkkräfte, so instabil und gewalttätig wie die der realen Welt. Es herrschen Machtwillkür, Militarismus, Aberglauben, Intrigen, Grausamkeiten und Lügen, kurz: all die Barbareien, die gerne mal als menschliche Zivilisation bezeichnet werden. Der Zug wird langsamer, in der dritten Klasse scheint der Widerstand hochzukochen, das Gerücht eines zweiten Schneekreuzers und einer drohenden Kollision verbreitet sich, und am Ende keimt Hoffnung auf, die ewige Fahrt könnte vielleicht doch ein Ziel und damit… ein Ende finden.
„Snowpiercer“ war ein Herzensprojekt des vielbeschäftigten französischen Comic-Szenaristen Jacques Lob, der in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Leuten wie Jean-Claude Mézières, Jijé, Philippe Druillet, Marcel Gotlieb und Jo-El Azara (also der Crème de la Crème der frankobelgischen Comicszene) zusammenarbeitete. Für „Snowpiercer“ waren zunächst Régis Loisel („Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“) oder François Schuiten („Die geheimnisvollen Städte“) als Zeichner vorgesehen, doch dann entschied Lob sich für den jungen Nachwuchskünstler Jean-Marc Rochette („Edmund das Schwein“).
Der erste Teil, in der deutschen Ausgabe „Der Entflohene“ betitelt, erschien ursprünglich in Fortsetzungen zwischen 1982 und 1983 in dem belgischen Comic-Magazin „À Suivre“. Die über 100 Seiten lange und als abgeschlossene Erzählung gedachte Buchausgabe verlegte dann der renommierte Verlag Casterman. 1999 und damit neun Jahre nach Lobs Tod konzipierte Rochette, motiviert durch das (entschieden) offene Ende des Originals sowie den Wunsch, diesem neue Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, zusammen mit dem Romancier und Regisseur Benjamin Legrand die erste („Der Landvermesser“), 2000 eine weitere Fortsetzung („Die Überquerung“). (2015 folgte überdies das von Olivier Bocquet gezeichnete Sequel „Terminus“, das bei Egmont 2022 als deutsche Erstveröffentlichung erschienen ist, Anm. d. Red.)
Der ursprüngliche Comic bzw. erste Teil ist ganz ein Werk seiner Zeit, in der französische und belgische Comics drängend kritische Stoffe und Anliegen mit genretypischen Motiv- und Erzählmustern verbanden, dies oft und gern in Form von Dystopien und (post-)apokalyptischen Katastrophenfantasien. Die Grundidee von „Snowpiercer“ ist so originell wie plausibel-zeitlos, und trotz einer gewissen, leicht anachronistisch wirkenden Dialoglastigkeit gelingt es Lob auf buchstäblich engstem Raum (der Geburtstagswunsch eines alten Mannes der Unterklasse lautet: „Ich wünsche mir, dass ihr mich für eine Stunde ganz allein lasst, nur eine Stunde lang, damit ich ein wenig durchatmen und ich selbst sein kann. Versteht ihr?“), dynamisch zu erzählen und ein so komplex-komplettes wie begründet düsteres Gesellschaftsbild zu zeichnen.
Rochette – von Haus aus eher Maler als Comic-Zeichner – treibt seinerseits ein variantenreiches Spiel mit atmosphärischer Kälte sowie den perspektivischen und szenischen Gestaltungsmöglichkeiten, nach denen der Topos verlangt, auch wenn seine Grafik bezüglich der Darstellung menschlicher Körper eine leichte Steifheit aufweist. Der spätere Rochette ersetzt in den beiden Fortsetzungen die Zeichnungen durch Gouachen, was dem Atmosphärischen guttut, dem bevorzugten, dem Zug-Leitmotiv geschuldeten Widescreen-Panel-Format jedoch unverbindlich-illustrativen Charakter verleiht.
Das Wesentliche der Geschichte wird von Lob (aus-)erzählt, aber Legrands Szenarien sind souverän und wendungsreich genug, um sich bis ganz zum Schluss mit inspirierter (und leicht deprimierter) Wonne in der kalten und unfreien Welt von „Snowpiercer“ aufhalten zu wollen. Hier liegt, in vorbildlicher Buchgestaltung, einer der Comics vor, die belegen, dass es in jeder Hinsicht anspruchsvolle Comics schon lange vor ihrem Umtaufen in Graphic Novels gab.
Diese Kritik erschien zuerst am 31.03.2014 auf: DieZukunft.de
Jacques Lob, Jean-Marc Rochette, Benjamin Legrand: Snowpiercer • Egmont Comic Collection, Berlin 2021 • 280 Seiten • 34,00 Euro
Sven-Eric Wehmeyer ist Übersetzer, freier Redakteur, Autor und Comic-Experte. Für Random House hat er u. a. mehrere Romane Stephen Kings und Richard Laymons ins Deutsche übertragen.