„Der Herrgott wird’s schon richten“

In seiner dokumentarischen Graphic Novel „Columbusstraße“ beleuchtet Comiczeichner Tobi Dahmen die Rolle seiner Familie im Nationalsozialismus.

Nazideutschland 1938, Stadtmitte Düsseldorf, Kreuzstraße. Ein Mann winkt verschämt Karl Dahmen zu. Der Rechtsanwalt begrüßt den Winkenden: „Ah, Herr Nachbar, wie geht es Ihnen? Was kann ich für Sie tun?“ Dahmen weiß, die Zeiten sind hart, besonders für Leute wie seinen Nachbarn, Herrn Herrmann. Der ist Jude. Er befürchtet, dass die Nazis bald alle Juden enteignen werden. Herrmann will dem Anwalt sein Haus verkaufen, um es später – „wenn das alles vorbei ist“ – zurückkaufen zu können. Dahmen lehnt ab. „Haben Sie Vertrauen. Der Herrgott wird’s schon richten“, sagt er und verabschiedet sich. Eine Sekunde später blickt Dahmen zurück: Die Straße ist verwaist, der Nachbar spurlos verschwunden. Am unteren Rand des Panels teilt ein Ausschnitt aus einem Schreiben mit: „Leider ist Herr Herrmann verschollen.“

Tobi Dahmens dokumentarische Comicsaga „Columbusstraße – Eine Familiengeschichte 1935-1945“ zeichnet ein beeindruckendes Zeitbild: informativ, beklemmend und spannend. Dahmen verwebt geschickt Fakten mit ein bisschen Fiktion: Das Geschehen der Eingangsszene basiert auf Erinnerungen, überliefert durch Erzählungen, Briefe oder ein Tagebuch. Das Zitat im Schlusspanel stammt aus einer Spruchkammerakte. Die Dialoge sind erfunden, und dass sich der jüdische Nachbar in Luft auflöst, ist ein Kunstgriff. Er deutet die nahe Zukunft an, erzeugt unheilvolle Stimmung.

So bringt Tobi Dahmen Leben in die Sachlichkeit der Saga, die sich um die Dahmens dreht, um seine Vorfahren. Ihr Haus in der Düsseldorfer Columbusstraße übersteht den Zweiten Weltkrieg unbeschadet. Nach dem Tod seines Vaters Karl-Leo, einem Sohn von Anwalt Karl Dahmen, findet Tobi Dahmen dort 2015 auf dem Dachboden eine Kiste mit Briefen und amtlichen Dokumenten. Er wendet sich an die fernere Verwandtschaft, die weitere Briefe, Schreiben, Fotos und Erinnerungen beisteuert. Um die Überlieferungen mit Fakten zu untermauern, erkundigt sich Dahmen bei Historikern, in Archiven und Gedenkstätten. Wenn der strapazierte Ausdruck „akribisch recherchiert“ eine Berechtigung hat, dann hier.

Als reine Dokumentation wäre „Columbusstraße“ aufschlussreich, aber halt trocken. Das verhindert schon Dahmens Grafik. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern ist einfach, übersichtlich und angemessen zurückhaltend. Die Emotionen, die Dahmen den Figuren ins Gesicht malt, die Dialoge in wörtlicher Rede, ein paar symbolische und metaphorische Zeichnungen schmieren den Lauf der Faktenfülle. Dahmens 500-Seiten-Zeitbild wird zur erzählenden, fast romanhaften Chronik. Wenn sie eine kleine Schwäche hat, dann vielleicht die, dass verzichtbare Schlenker wie über eine angedeutete Bruder-Schwester-Liebe und der zweite Handlungsstrang zur Chemnitzer Familie Funcke den Lesefluss eher bremsen. Das schmälert den Wert und die sanfte Wucht der wichtigen Erzählung jedoch kaum.

Die enthält zunächst noch heitere Momente: Anekdoten aus der Schule, ein Besuch im Kino, Tanzabend, Geburt, Biergarten… Zunehmend sickert aber der Nationalsozialismus in sämtliche Bereiche der deutschen Gesellschaft ein, in die Schulen, die Behörden, die Gerichte, die Familien. Nichts bleibt unberührt. „Columbusstraße“ führt eindringlich vor Augen, wie sich der eisige Schrecken des Faschismus schleichend breitmacht und alles vereinnahmt, bis er zur hässlichen Normalität wird. Dann beginnt der Ausnahmezustand – der Krieg. Mai 1940 fallen erstmals Bomben auf Düsseldorf. Im selben Jahr zieht Peter, Karls zweitältester Sohn, freiwillig in den Krieg. Das Sorgenkind der Familie hat zuhause dauernd Ärger wegen seiner Lernschwäche. Ihm erscheint es besser, die Schule gegen das Schlachtfeld einzutauschen! Der jüngste Sohn Karl-Leo landet per Kinderlandverschickung in entfernten, kleinen und weniger von Bomben bedrohten Orten. Eberhard, der älteste, wird im April 1941 eingezogen. Seine Feldpostbriefe von der Ostfront lesen sich teils wie Urlaubsberichte. Doch die Zeichnungen, mit denen Tobin Dahmen die Brieftexte begleitet, sprechen für eine andere Realität: Sturzregen, Stechmückenschwärme, Explosionen, Hinterhalte, Hinrichtungen, Massengräber…

Der Rest der Familie – Karl, seine Frau Lissy und Tochter Marlies – durchleidet den Krieg in Düsseldorf, im Haus in der Columbusstraße. Dort bekommt Rechtsanwalt Karl den frostigen Atem des Nazi-Regiomes früh zu spüren. 1937, ein Jahr vor seiner Begegnung mit Nachbar Herrmann, beordert ihn die Gestapo zum Verhör. Dahmen sind in der Kneipe unbedachte Äußerungen rausgerutscht, was ein Spitzel gleich meldet. Der Anwalt kommt mit einem einschüchternden Rat davon: „Seien Sie in Zukunft vorsichtiger.“ Trotzdem verwundert das Gottvertrauen, mit dem er ein Jahr später den jüdischen Nachbarn zu beschwichtigen versucht. Steckt Angst dahinter, Naivität oder bewusstes Wegschauen? Warum hat sich fast niemand gewehrt? Diese Fragen bewegen auch Tobi Dahmen, und er stellt sie 2005 auf einer Zugfahrt seinem Vater. Der windet sich. Damals hätten sich die Leute irgendwie selbst beruhigt. So habe man „gemunkelt“, dass „untergeordnete“ Einzeltäter für alle Gräuel verantwortlich seien. Der Führer wisse davon nichts, habe aber nach wie vor das „große Ganze“ fest im Blick. „Aber das hast du doch nicht geglaubt?“, hakt Sohn Tobi nach. „Ich weiß es nicht…“, antwortet der Vater ausweichend. Tobi Dahmen weiß, dass er nie alle Fragen beantworten können wird. Er versucht es auch nicht. Das Wie ist zwar wichtig, aber noch wichtiger ist, dass es nie mehr so weit kommt wie damals. Stille und Lücken an den richtigen Stellen bieten keinerlei Halt, sondern verstören. Sie wirken stark und hoffentlich nachhaltig.

Tobi Dahmen: Columbusstraße • Carlsen, Hamburg 2024 • 528 Seiten • Hardcover • 40,00 Euro

Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.