„Herr der Fliegen“ im Weltraum: Hilflos treibt eine ganze Schulklasse auf dem titelgebenden Passagierschiff „Leviathan“ im All, und alles sieht danach aus, dass nur eine Person von ihnen überleben kann.
Einträchtig in Freundschaft sterben oder als Todfeinde sich gegenseitig ermorden? Darauf läuft der Manga „Leviathan“ hinaus, oder vielleicht doch nicht…? In Band eins des „spannenden Sci-Fi-Survival-Dramas“, so der Klappentext, stoßen drei Weltraumplünderer auf ein riesiges Wrack, die „Leviathan“. Das ehemalige Passagierschiff verspricht fette Beute. „Eine Fähre, die früher zwischen der Erde und dem Planetensystem um Proxima Centauri verkehrte“, findet ein Plünderer heraus, „für die Wiederentdeckung ist sogar ein Preisgeld ausgeschrieben! Jackpot, Leute!“ Er jubelt zu früh: Auf dem Weg ins Herz des Schiffs lauern tödliche Gefahren. Vorher entdecken die Plünderer allerdings ein Tagebuch, das die zweite Ebene der Handlung liefert.
In dem Tagebuch schreibt Schüler Ichinose, wie seine Klasse und zwei Lehrkräfte mit der „Leviathan“ auf dem Weg von Proxima Centauri zur Erde sind, als es auf halber Strecke mächtig rummst. Explosionen zerstören Teile des Schiffs. Nun treibt es manövrierunfähig im All. Zufällig hören Ichinose und seine Klassenkameradin Nikaido mit, was der Bordroboter einem Lehrer über die Gründe und Auswirkungen des Unglücks berichtet: Ursache unklar. Kontakt nach außen unmöglich. Selbst die anderen Sektoren des Raumschiffs sind unerreichbar. Auf dem Passagierdeck gibt es wiederum keine Funkanlage. Die Schüler und ihre Lehrer sind hilflos isoliert.
Doch es kommt noch dicker! Die Sauerstoffversorgung im Passagiersektor ist gestört. Das Gas des Lebens wird in 50 Stunden zur Neige gehen. So schnell kann keine Suchmission die „Leviathan“ erreichen, und alle an Bord werden erbärmlich ersticken – es sei denn, sie würden sich bis zu ihrer Rettung in den Kälteschlaf versetzen. Der Plan hat einen galaktischen Haken: In die einzige Kryokammer auf dem Raumschiff passt nur eine einzige Person! Schon drei wissen aktuell davon: Ichinose, Nikaido und der Lehrer. Ihre Überlebenschancen stehen somit immerhin bei 1:3, weit besser, als wenn alle anderen auch Bescheid wüssten. Wird das so bleiben?
In seiner ersten Serie, die international veröffentlicht wird, erzeugt Shiro Kuroi tatsächlich viel Spannung. Das Geschehen zieht ordentlich rein in Band eins. Auch seine Charaktere baut Kuroi im Ansatz schon gut auf und könnte sie in den Folgebänden noch weiterentwickeln. Hier liegt Potenzial zur Tiefe. Unter den Schülern sind der eher zurückhaltende, freundliche Ichinose und die undurchschaubare Nikaido mit ihrer finsteren Ausstrahlung. Darüber hinaus gibt es in der Klasse Mobbende und Gemobbte, Kräftige und Schwache, Durchtriebene und Offenherzige… Selbst Romanzen deuten sich an. Manchmal erscheinen ein paar Gesichter nicht altersgemäß und vereinzelt etwas verschoben. Grundsätzlich überzeugt aber Kurois weiche, plastische Grafik, die viel mit Schraffuren arbeitet.
Ebenfalls grundsolide ist die Story, in die Kuroi ein paar nette Rätsel einbaut. Warum etwa stoßen die Plünderer auf Todesfallen, als sie tiefer in die „Leviathan“ vordringen? Wer immer überlebt hat, müsste doch Interesse daran haben, gefunden zu werden! Überhaupt: Wie viel Zeit ist vergangen seit der Ankunft der Plünderer? Wie viele Personen haben überlebt oder, wenn nur eine, wer? Falls Kuroi die Antworten geschickt ausreizt, ist Hochspannung auch in den zwei Folgebänden garantiert. Die Frage, ob das Geheimnis um die Sauerstoffnot und die Kälteschlafkammer gewahrt bleibt, beantwortet allerdings bereits der erste Band. Klar, die Notlage kommt ans Licht. Das war zu erwarten. Eine Art „Herr der Fliegen“-Szenario mit wüstem Hauen und Stechen um den Platz in der Kälteschlafkammer bahnt sich wohl an. Die Serie ist ab 16 Jahren empfohlen! Zuerst kostet es die Leben der beiden Lehrkräfte. Alle ahnen, dass der Überlebenskampf damit nicht enden wird, was Nikaido mit den Worten kommentiert: „Ab jetzt beginnt die wahre Hölle!“
Shiro Kuroi: Leviathan Band 1 • Aus dem Japanischen von Gandalf Bartholomäus • Carlsen, Hamburg 2024 • 196 Seiten • Softcover • 12,00 Euro
Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.