Gebt den Kindern das Kommando

Was Grönemeyer in den 80er Jahren postulierte, ist auch heute noch immer diskussionswürdig. Der sogenannte Generationenkonflikt, also die Auseinandersetzung zwischen „den Jungen“ und „den Alten“, ist so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte“, hieß es schon auf einer Tontafel der Summerer ca. 3000 v. Chr. Auch der italienische Comickünstler Manuele Fior stellt in seinem neuen Comic „Celestia“ die Generationenfrage.

„Langsam gleitet das Vaporetto [= ein venezianischer Wasserbus] durch die Nacht, wie ein schlüssiger Gedanke durch das Unterbewusstsein.“ Mit diesem Zitat von Josef Brodsky beginnt Fiors achter Comic, der in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung geworden ist. Wer dank des Klappentextes eine typische Invasions-Science-Fiction-Geschichte erwartet, sei gewarnt. Nichts ist, wie es scheint, geschweige denn, wie es sein sollte. Fiors Erzählung entführt die Leser:innen ins schwer Fassbare, und irgendwo dort behandelt er ebenjenen Konflikt, der uns alle betrifft. Dabei spielt er mit den verschiedenen Künsten und kreiert, zum Leidwesen der Lesbarkeit, ein formschönes Sammelsurium aus Motiven des Theaters, der Literatur, der Architektur und der bildenden Künste.

Bild aus „Celestia“ (Avant-Verlag)

Die Geschichte beginnt mit Pierrots – klassisch im Clownanzug und mit Träne – Besuch bei seinem Vater, Mentor einer kleinen Telepathengruppe. Sie alle haben die „große Invasion“ überlebt und sich auf der stark an Venedig erinnernde Insel Celestia verschanzt. Während des Besuchs wird deutlich, dass Dora vermisst wird. Auf dem Heimweg kommt Pierrot an einem venezianischen Maskenball vorbei, auf dem sich seine alten „Freunde“ damit vergnügen, das Personal zu belästigen. Mit ihnen trinken will er nicht. Bedrückende Visionen reißen ihn fort. Es ist Dora (= Geschenk Gottes), die diese „sendet“, weil ihre mentalen Fähigkeiten außer Kontrolle geraten sind. Im Bann der Traumbilder findet er sie schließlich versteckt in einer Gondel, unterbricht den Gedankenstrom und nimmt sie mit zu sich nach Hause, wo sie sich ausruhen kann. Als sie einen Tag später gemeinsam ein Bordell besuchen, in dem Dora in Bedrängnis gerät, telepathiert sie erneut düstere Bilder von einer explodierenden Brücke in Pierrots Kopf. Der möchte sich gerade viel lieber vergnügen, kommt dadurch aber nicht zum Zug. Wutentbrannt geht er auf Dora los. Sie flüchtet. Die Flucht endet abrupt, als sie auf Honk stoßen. Honk war einer der maskierten Belästiger, der nun von Pierrot für sein Fehlverhalten brutal bestraft wird. Pierrots Tat bleibt nicht ohne Konsequenzen, sodass er und Dora, die alles mitansehen musste, von der Insel aufs Festland flüchten. Die Reise erweist sich als Parcours voller Rätsel, eine Art Schnitzeljagd aus Bruchstücken der schönen Künste. Sie gelangen zu einer Festung, deren Architektur einer Konstruktion aus minimalistischen und kubistischen Elementen gleicht. Aus den Bildern der Städte und Gebäude spricht Fiors Leidenschaft für moderne Architektur. Gleichermaßen huldigt er z. B. David Hockney, indem er dessen Swimmigpoolbilderserie fortsetzt. Und dann ist da noch der Generationenkonflikt.

Kinder und Erwachsene tauschen in „Celestia“ die Rollen: Die Kinder übernehmen die Verantwortung für die Menschheit. Man mag hierin eine tagesaktuelle Spur zur Klimakrise und die damit einhergehenden Proteste der Jugend identifizieren. Nur gibt „Celestia“ das nicht her. Jede konkrete Anbindung bleibt nebulös: Die Katastrophe kam über das Meer, Telepathie existiert wirklich, Kinder sind die besseren Erwachsenen.

Manuele Fior hat zwar ein spannendes Setting entwickelt und eine postapokalypse Welt in leuchtenden, wunderschönen Bildern geschaffen, leider ist es ihm nicht gelungen, die Geschichte mit den grafischen Glanzleistungen engzuführen. Wer dennoch die Muße verspürt, auf eine intermediale Zitatenschatzsuche zu gehen, exemplarisch seien hier nur die „sprechenden“ Namen genannt, könnte dennoch Spaß mit „Celestia“ haben.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Celestia“.

Tom Patty ist das gemeinsame Pseudonym der beiden leidenschaftlichen Comicleser Thomas (Tom) und Patrick (Patty).

Manuele Fior: „Celestia“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant-Verlag, Berlin 2021. 272 Seiten. 29 Euro