In Moe Feis preisgekrönter Mystery-Serie „The Last Dynasty“ kriegt es ein junger Studienanfänger in einem heruntergekommenen Hotel mit allerlei Geistern der chinesischen Folkore zu tun.
„Habe ich mit meiner krassen Aura etwa die Sicherung rausgehauen?“, fragt sich der angehende Kunststudent Gao Ying. Er kann das Licht in seinem Hotelzimmer nicht mehr anknipsen. Dort schleicht im Dunkeln außerdem ein Schemen umher, den Gao Ying zunächst für eine „Wanderleiche“ hält. (Die kommen in der chinesischen Mythologie und Folklore vor, merkt der Übersetzer an: „Sind Zombies nicht ganz unähnlich, wenn auch etwas weniger bedrohlich.“) Doch es handelt sich offenbar um einen Schlafwandler. Dunkelhäutig, mit Zottellocken, in kurzen Pyjamahosen. Reichlich exotisch für die Gegend – für Guangzhou, die chinesische Hafenstadt am Perlfluss.
„The Last Dynasty“ von Mo Fei lässt sich wohl am besten als Mythologie-Fantasy-Thriller beschreiben. Seine Geschichte zieht der chinesische Autor einerseits spannend auf. Mehr aber bestechen die Aufmachung des Bandes und Mo Feis saubere Grafik. Äußerlich erinnert „The Last Dynasty“ an einen Hochformat-Manga: die Breite normal, die Höhe verdoppelt. Über das gestreckte Titelbild zieht sich eine ernst dreinblickende Figur in Kampfpose. „The Last Dynasty“ liegt für einen üblichen Doppelmanga zu schwer in der Hand. Der Blick ins Innere zeigt: Das Papier ist dick, der Druck glänzt, die Zeichnungen sind farbig. Dunkle Töne und klare Linien dominieren. Egal, ob klein oder groß, ob rechtwinklig oder verzogen – die Panels wirken immer aufgeräumt, übersichtlich. Einige beeindrucken zudem grafisch, beispielsweise das imposante abendliche Stadtpanorama, das Gao Ying aus dem Fenster seines Hotelzimmers sieht.
Dieser Ausblick bewegt ihn dazu, überhaupt ins Hotel „Zur Glorreichen Quing-Dynasty“ einzuchecken. Und die Not: Gao Ying ist zu früh nach Guangzhou angereist, wo er studieren will. Sein Wohnheim hat noch zu, und „Zur Glorreichen Quing-Dynasty“ liegt nur um die Ecke. Das Hotel, das sich mit dem Beinamen „Das beste Haus am Platze“ schmückt, hat allerdings schon bessere Tage gesehen. „Vergilbte Wände! Verschimmelte Tapeten! Spinnweben überall!“, empört sich Gao Ying, als ihm Hotelchef Onkel Gua seine angeblich „allerbeste Suite“ präsentiert. Nicht ein Minute, schwört der angehende Student, werde er in dem schäbigen „Loch“ verbringen – um dann doch zu bleiben. Eben wegen der atemberaubenden Aussicht. Womöglich wäre er er besser seinem Fluchtimpuls gefolgt. Schon Onkel Gua ist ein schräger Kauz. Dann häufen sich seltsame Begegnungen, düstere Vorfälle und rätselhafte Visionen. Onkel Gua und sein Hotel reißen Gao Ying tief hinein in einen jahrhundertealten Strudel aus Schuld und Sühne.
Laut Klappentext hat „The Last Dynasty“ mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter eine Bronzemedaille beim 15. International Manga Award im Manga-Mutterland Japan. Mo Fei selbst findet seine Comics „altmodisch“. Vielleicht bezieht er sich damit auf das wohltuend Übersichtliche an seiner Grafik? Ihr und der schönen Aufmachung zuliebe lohnt es sich, in „The Last Dynasty“ reinzuschauen. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht um hohe Comic-Literatur, sondern um einen Band aus dem Manga-Horror-Mystik-Universum, aber um einen ansprechenden.
Der Kern der Geschichte geht auf ein blutiges Ereignis aus dem Jahr 1655 zurück – und auf das „sehende Fleisch“: „Es vermag Tote ins Reich der Lebende zurückzubringen.“ Figuren aus der Vergangenheit treten hinüber ins Heute. Auf der einen Seite kämpft ein dämonischer „Halbunsterblicher“, den es nach Gao Yings Lebensenergie dürstet. Als Gegenspieler tritt der edle „König des Südens“ auf, ein Urahn von Onkel Gua. Ihre Auseinandersetzung führt später zu reichlich Action. Fäuste, Messer, Pflöcke werden als Waffen eingesetzt, Blut wird fließen und Köpfe werden rollen. Was dabei ganz interessant ist: Nebenbei unterfüttern Mo Fei und Übersetzer Johannes Fiederling die Story mit Verweisen auf die chinesische Mythologie.
Mo Fei: The Last Dynasty. Band 1 • Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling • Chinabooks, Uitikon-Waldegg, Schweiz 2025 • 274 Seiten • 19,90 Euro
Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg als freier Autor unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.