„Horror erzählt von dysfunktionalen Verhältnissen, von einer Gesellschaft in Anfechtung“

Im Aufeinandertreffen von Comickunst und Horrorgenre treten einige der zentralen Themen unserer Zeit zutage: politisch aufgeladene Debatten um Zensur, der Umgang mit dem Schrecken der Welt, der Kriegsbilder auf allen Kanälen, die Deutungshoheit über Moral in Kunst und Kultur. Das Coffee-Table-Sachbuch „Horror im Comic“ (zugleich Katalog der gleichnamigen Austellung im Dortmunder schauraum: comic + cartoon) von Comic-Koryphäe Alexander Braun erzählt nun ie Geschichte dieses subversiven Genres, das den Menschen die Grausamkeit der Welt vorspiegelt und deswegen wie kaum ein anderes Popkulturgut Moralapostel gegen sich aufgebracht hat. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit Autor und Kurator Alexander Braun mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Du führst in die Geschichte der Horror-Comics mit einem Exkurs über das Wesen des Menschen ein und zitierst u. a. Immanuel Kants Aufsatz „Über das radikal Böse in der menschlichen Natur“ von 1781. Ist der Mensch im Kern böse? Und welche Rolle spielen Horrorgeschichten in der täglichen Auseinandersetzung des Menschen mit seinen dunklen Seiten?

Zumindest war Kant gegen Ende seiner philosophischen Karriere der Ansicht, dass es einen Anteil im Menschen gibt, der per se böse ist. Das war ein Schock für alle Vertreter der Aufklärung, die dergleichen von Kant nicht erwartet hatten. Sie hatten vielmehr zusammen mit ihm jahrelang postuliert, dass der Mensch nicht von Geburt an böse sei, sondern nur durch sein Umfeld böse gemacht wird. Man glaubte durch Hinwendung, Fürsorge und Zugang zu Bildung wäre das Problem für alle Zeit gelöst. War es aber nicht. Das hatte Kant geahnt, und die Geschichte gab ihm recht. Horror, egal in welchem Medium, legt quasi den Finger in diese Wunde und erzählt von dysfunktionalen Verhältnissen, von einer Gesellschaft in Anfechtung, egal ob der Schrecken von einem Individuum ausgeht (Serienkiller), einem Virus (Zombies) oder etwas Übernatürlichem (Vampire etc.). Immer sind die Gesellschaft und ihre Protagonisten gezwungen, ihr Leben, ihre Ideale, ihre Lebensweise zu verteidigen – oder unterzugehen.

Seite aus „Horror im Comic“ (Avant-Verlag)

Horror, ob in Film, Comic oder Literatur war immer schon Gegenstand von Zensur und Ausschlussmechanismen. Du sprichst in deiner Einleitung auch über „realen Horror“ wie Kriegsverbrechen, etwa in Vietnam, die von einem Großteil der Bevölkerung mit einem Achselzucken hingenommen werden, während fiktionale Gewalt vehement von Staatsmacht und Moralaposteln quer durch die Kulturgeschichte bekämpft worden ist. Woher kommt die Angst vor dem Horrorbild, und was sagt das über die Gesellschaft aus, die die Zensur ausübt?

Roger Willemsen hat in einem klugen Aufsatz von 1985 – in dem er das Horror-Genre in Schutz nimmt – völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass an einem Mord die Absicht zu töten verwerflich ist und nicht der Anblick der Leiche. So verhält es sich auch mit Horror und der Zensur: ein gewaltiger Popanz, um die Meute bzw. die öffentliche Aufmerksamkeit auf die falsche Spur zu locken. Man stelle sich das vor: Eine demokratische Gesellschaft wie die USA führte während der 1950er- und 1960er-Jahre, mit glühender Inbrunst einen Krieg gegen Comic-Hefte, während sie zur gleichen Zeit in Korea und dann in Vietnam zu Felde zieht und den tausendfachen Tod von Zivilisten als Kollateralschaden in Kauf nimmt, sowie dioxinhaltiges Gift über Wälder und Dörfer versprüht. Das ist an Zynismus und Doppelmoral kaum zu übertreffen, weil es doch sagt: Eine Gräueltat zu zeichnen (oder im Film mithilfe eines Special Effects darzustellen), ist böse, ein vergleichbares Grauen aber real zu begehen – jedoch am besten nicht zu zeigen –, ist okay. Durch die Verfolgung der künstlerischen Darstellung feiert man eine vermeintliche Sittlichkeit und einen „guten Geschmack“, der dann im wirklichen Leben ad absurdum geführt wird.

Bleiben wir bei der „Zensurschere“, die den einflussreichste Horrorverlag in der Comicgeschichte, den EC Verlag, nach 1954 beinahe in den Ruin getrieben hätte. Könntest Du uns ein bisschen über die Geschichte und die Bedeutung von EC erzählen?

Das ist eigentlich eine lange Geschichte, aber wenn ich es kurz machen soll: EC löste den Horror-Boom 1950 mit einer Handvoll Heft-Serien aus. EC hatte die besten Zeichner unter Vertrag und die ambitioniertesten Erzählungen. EC verstand sich in der Tradition der amerikanischen Kurzgeschichte und übte sich in der Kunst von verblüffenden Schlusspointen, wie sie sonst nur der Schriftsteller O. Henry beherrschte. EC schuf eine atemberaubende Qualität von Comic-Kultur, die als Leuchtfeuer bis heute ausstrahlt. Die Hefte wurden zwar vornehmlich von Kids am Kiosk gekauft, aber eigentlich sprach man zu den Lesern auf Augenhöhe. EC sagte, was es zu sagen hatte, und brach es nicht auf ein vermeintliches Zielpublikum herunter. Und der Erfolg gab dem jungen Verlag um Bill Gaines recht. So waren sie auch Primus, was die Verkaufszahlen betraf. EC publizierte dunkle Moritaten. Mitunter erschreckend grausam, aber immer mit einem zutiefst moralischen Kern, der auf dem Boden der Verfassung stand. Die Geschichten von EC prangerten Rassismus, Antisemitismus, Militarismus, die Dummheit des Hinterwäldler-Patriotismus, die Bigotterie der Vorstädte und dysfunktionale Familienverhältnisse an. Heute würden wir sagen: EC positionierte sich gegen die gefährliche Dumpfheit des Trumpismus. Und das zu einer Zeit als Senator McCarthy Kommunisten jagte, die evangelikalen Gemeinden erstarkten und im Süden schwarze Mitbürger gelyncht wurden, ohne dass das juristisch geahndet wurde. Der Fehler von EC war, dass sie ihre Gegner unterschätzten. Verleger Bill Gaines und seine Redakteure dachten: Uns kann keiner was. Wir sind in Amerika. Da gibt es keine Zensur. Das war ein Irrtum.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (Avant-Verlag)

Was bedeutete der Kampf (und die Niederlage) von EC gegen die Zensur für den Comic-Markt und die Entwicklung des Comics (speziell des Horror-Comics) in den Folgejahren?

Der Zensur-Code, den sich die versammelten Comic-Verlage (mit Ausnahme von EC) ab 1954 auferlegten, zerstörte schlichtweg alle Möglichkeiten der eigenen Kunstform. Nicht nur, dass man Horror und Crime ächtete, man verbot gleich alles mit, von dem man glaubte, dass es das konservative Amerika erzürnen könnte: Comics durften fortan keine politischen Themen mehr aufgreifen, ebenso wenig Religion oder Familienwerte in Frage stellen. Auch Scheidungen wurden so z. B. zu einem Tabuthema. Übrig blieben am Ende nur aseptische Superhelden bei DC und Marvel sowie lustige Tier-Comics à la Disney.

Aus den Trümmern von EC erhob sich in den 1960ern der Verlag Warren Publishing, der heute noch bekannte Magazine wie „Creepy“, „Eerie“ und „Vampirella“ veröffentlichte. Vor allem Richard Corben und Bernie Wrightson fanden hier ein Zuhause. Was zeichnete Warren im Vergleich zu EC aus? Und was machte Corben und Wrightson so populär?

James Warren war eine andere Generation. Er war mit den EC-Heften aufgewachsen und wollte diesen Geist ab 1964 reanimieren. Er wich – wie auch „MAD“ – in den Bereich der Magazine aus, damit er nicht dem Code unterworfen war, der nur für Comic-Hefte galt. Und Warren veröffentlichte in Schwarz-Weiß. Das machte den Verlag zu einem Magneten für alle ambitionierten Zeichner, die ihr Artwork rein und pur und nicht ersoffen in liebloser Kolorierung gedruckt sehen wollten. Richard Corben kam 1970 vom Underground-Comix zu Warren (mit reichlich Schulden im Gepäck). Wrightson folgte 1974, nachdem er ab 1972 sehr erfolgreich für DC „Swamp Thing“ gezeichnet hatte. Wrightson war extrem genervt von DC und den vielen kreativen Restriktionen. Wrightson wollte wie seine großen Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert zeichnen. Das war bei DC unmöglich. Bei Warren hatte er freie Hand. Das machte ihn neben Frank Frazetta und Corben zu einem Star der Generation von 1968.

Wie entwickelte sich der Horrorcomic in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa im Vergleich zu den USA? Was passierte denn so Gruseliges in der Zeit in Deutschland?

Horror war zunächst kein besonders großes Thema in Europa. Das änderte sich erst in Kombination mit Science Fiction und der Gründung des Magazins „Métal Hurlant“ 1975, das mit „Heavy Metal“ sofort auch einen Ableger in den USA erlebte. Die wilden jungen Franzosen, Moebius, Druillet und Co., wurde zu einer ernsten Konkurrenz für Warren, der ebenfalls begann, den Science-Fiction-Boom in seinen Magazinen Rechnung zu tragen. Sci-Fi-Horror war sehr en vogue. Und Deutschland? Da passierte in der Tat viel Gruseliges: Irgendwie hatte die deutsche Nachkriegsgesellschaft etwas von Zensur und Comic mitbekommen und führte einen eigenen Feldzug, allerdings gleich gegen das gesamte Medium. Ein komplettes Missverständnis im Geiste eines amorphen Anti-Amerikanismus und in völliger Unkenntnis dessen, um was es ging. In den USA waren etwa die Comic-Strips in den Zeitungen nie Gegenstand der Kontroversen gewesen. Solche Differenzierungen kannte Comic-Deutschland aber schlichtweg nicht. Hier galt Comic per se als Schund. 1972 gab dann der Williams Verlag ein Heft namens „Horror“ heraus, das vornehmlich Gruselgeschichten von DC nachdruckte. 1974 folgten dann bei Bastei die „Gespenster Geschichten“, vornehmlich in Spanien gezeichnete Massenware. Hauptsache billig. Nichts davon konnte nur annährend EC oder Warren das Wasser reichen.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (Avant-Verlag)

In den letzten Jahren sind Zombiegeschichten enorm populär geworden, nicht nur im Comic, aber maßgeblich angeheizt vom globalen Erfolg von „The Walking Dead“. Wie kannst Du Dir diesen Erfolg erklären? Was fasziniert die Leser*innen so an den untoten Horden?

Das ist tatsächlich ein Phänomen. Gerade noch Schmuddel-Genre im Bahnhofskino und jetzt mitten in der Gesellschaft, zur Primetime im Wohnzimmer. Was Robert Kirkmans Comic betrifft, auf dem die erfolgreiche Fernsehserie beruht, ist der Schlüssel des Erfolgs wohl in der besonderen Art des horizontalen Erzählens zu suchen. Kirkman probierte als Amerikaner ab 2003 zum ersten Mal das, was die japanischen Mangas so populär machte: eine epische Dramaturgie sowie das unterlaufen von Stereotypen und tradierten Klischees. „The Walking Dead“ ist das erzählerische Gegenteil von Superhelden-Comics. Bei Kirkman kommt der Tod unerwartet und ist endgültig. Das ist beunruhigend und aufregend zugleich.

Faszinierend ist auch dein Schlusskapitel über japanische Horror-Comics, die in Sachen Ekelfaktor und Amoral im Vergleich zu den westlichen Pendants noch mal eine Schippe drauflegen. Welche Rolle spielt der Horror für die Entwicklung des Manga? Was hebt den „Nippon-Gore“ thematisch und künstlerisch von den Horrorcomics aus den USA und Europa ab?

Horror-Manga sind in Japan auch eher ein Nischenprodukt, waren aber nie – von der nationalistischen Zeit des Zweiten Weltkriegs einmal abgesehen – von Zensur bedroht. Japan hat eine sehr lange Tradition von Geistergeschichten, was auch viel mit dem Shintoismus und der Vorstellung einer Allbeseeltheit der Welt zu tun hat. Auch das Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts war in Japan bereits sehr begeistert von besonders blutig vorgetragenen Horrorgeschichten. Es gibt z. B. sehr berühmte grausame Rachegeister. Den signifikanten Unterschied in Sachen Radikalität gegenüber dem Westen macht aber wohl das Trauma der Atombomben-Abwürfe 1945 aus. Das damit verbunden Grauen hat alle anderen Kriegsgräuel in den Schatten gestellt und wirkt bis heute in der japanischen Gesellschaft nach.

Das Buch „Horror im Comic“ begleitet deine gleichnamige Ausstellung, die bis August im „schauraum: comic + cartoon“ in Dortmund zu sehen ist. Welche Originale, die auch im Buch zu sehen sind, werden gezeigt?

Das Buch zeigt alle Originale, die real für die Ausstellung in Dortmund zu Verfügung standen. Wenn die Räume in Dortmund größer wären, hätten wir dort alles gezeigt, was im Buch zu sehen ist. Aber: Die Realität hat einmal mehr bewiesen, dass Wände nicht aus Gummi sind, und so mussten wir am Ende eine Auswahl treffen. Es ist ein Mix aus den größten künstlerischen Highlights und den wichtigsten thematischen Kapiteln.

Zum Schluss noch eine nicht ganz ernst gemeinte Frage: Wir befinden uns im dritten Jahr der Corona-Pandemie und große Teile der Bevölkerung können nicht davon überzeugt werden, sich selbst und andere zu schützen. Was meinst du als Horror-Experte: Wie steht es um die Menschheit, wenn die Zombie-Apokalypse ausbricht?

Ich würde angesichts von so viel Dummheit – gerade in den wohlständischen Industrienationen – gerne sagen: Keine Chance, die Menschheit ist verloren! Aber so einfach ist es wohl nicht. Es gibt ja auch jene, die in Windeseile einen Impfstoff entwickelt haben, jene, die für ihre schwächeren Mitbürger gesorgt, gepflegt und gekocht haben. Der Mensch ist eine seltsame Kreatur: so klug und dumm zugleich. Er weiß es besser – siehe Klimawandel – und doch scheinen Macht und Gier stets zu obsiegen. Keine Ahnung. Ich denke, es steht fifty-fifty für oder gegen die Menschheit, wenn die Zombies kommen. Das ist immerhin eine reelle Chance.

Alexander Braun: „Horror im Comic“. Avant-Verlag, Berlin 2022. 456 Seiten. 49 Euro