Er gilt als Erneuerer des franko-belgischen Comics: Im Cartoonmuseum Basel ist bis zum 15. März 2026 eine große Retrospektive von Christophe Blain zu sehen.
Eine weitere politische Krise erschüttert die Welt. „Das ist eine wachsweiche Sache“, zürnt der französische Außenminister, während seine Mitarbeiter bedröppelt vor seinem Schreibtisch stehen. „Aber wir machen Nägel mit Köpfen“, bläut ihnen der Politiker ein. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wedelt er im Sitzen mit den Händen und legt nach: „Legitimität – ta ka ta ka tack. Einheit – ta ka ta ka tack. Effizienz – Tschak tschak tschak.“
Die Originalseite mit dieser Szene aus der preisgekrönten Graphic Novel „Quai d’Orsay“ (2010/11) hängt derzeit im Basler Cartoonmuseum. Dort läuft die große Retrospektive „Paradis Perdu“ zum Werk des französischen Künstlers Christophe Blain, der seit den 1990ern als ein Erneuerer des klassischen franko-belgischen Comics gilt. Damals bewegte sich die Grafik weg vom Realismus, hin zum künstlerischen Ausdruck. Blains Minister sieht aus wie zorniger Vogel. Der Haarschopf an seinem Hinterkopf erinnert an die Federhaube eines Wiedehopfs, und seine lange, dünne Nase ähnelt dem Spitzschnabel einer Amsel. Die Mundwinkel ziehen sich bis an die Ohren, wenn er spricht. Vier Panels lang fuchtelt er bei seinem Wortstakkato mit den Händen wie ein Karateka. Er stapelt sie übereinander, richtet sie gegeneinander, haut seine Handkanten auf die Tischplatte. Tschak, tschak!

So füllt Blain diese Szene, eigentlich eine statische Angelegenheit, mit Witz und Leben. Überhaupt, meint der Künstler bei der Presseführung, sei das die größte Herausforderung an „Quai d’Orsay“ gewesen: dem Politikbetrieb, in dem fast nur geredet und gesessen wird, Action zu verleihen. Das ist bravourös gelungen. Der Abschlussband der zweiteiligen französischen Ausgabe wurde 2013 auf dem Comicfestival von Angoulême als bestes Album des Jahres ausgezeichnet. Selbst in Deutschland, wo französische Politik kaum als Quotenbringer taugt, war der Comic, der auf Notizen eines Redenschreibers des ehemaligen französischen Außenministers Dominique de Villepin basiert, ein Erfolg. Das lag nicht allein an der Qualität und dem hohen Unterhaltungswert der Satire von Blain und Szenarist Abel Lanzac. Für die Übertragung von „Quai d’Orsay“ ins Deutsche erhielt Übersetzer Ulrich Pröfrock 2015 den Christoph Martin Wieland-Übersetzerpreis. Die mit 12.000 Euro hoch dotierte Auszeichnungen befeuerte das Medienecho und öffentliche Interesse.
Blain findet auch woanders in seinen Comics großartige visuelle Entsprechungen: Überstilisierte Körperteile wie Gummibeine und Pinocchio-Nasen, verschobene Proportionen und perspektivische Verzerrungen betonen die Komik oder Absurdität vieler Situationen. Flinke Striche, die oft vor Ironie oder Spott triefen, enthüllen die Seele seiner Charaktere. Bild und Text sind so harmonisch getaktet, dass Blains Comics geradezu rhythmisch fließen. Entspannter als „Quai d’Orsay“ rinnt „In der Küche mit Alain Passard“ (2011) dahin. Für den philosophisch-kulinarischen Comic hat Blain dem Pariser Sternekoch mehr als zwei Jahre über die Schulter geschaut. Vordergründig trennen Welten die Arbeit in der Edelgastronomie von der am Zeichentisch. Hinter der Fassade entdecken Passard und Blain jedoch interessante Gemeinsamkeiten. Der Sachcomic „Welt ohne Ende“ (2022) wiederum veranschaulicht witzig und clever viele Sachverhalte aus den Bereichen Umwelt und Klima. Speziell der vordere Teil begeistert mit einfachen bildhaften Vergleichen für komplexe Zusammenhänge. Die meisten stammen laut Blain von seinem Szenaristen, dem guten Erklärer und Klimaexperten Jean-Marc Jancovici. Der steht voll hinter der Atomkraft, beäugt dafür umso skeptischer viele regenerative Energien wie die Windkraft. Diese Positionen übernimmt Blain blind. „Welt ohne Ende“ erklärt hinten oft nur noch einseitig den französischen Blickwinkel.
Diese drei Bände mit Realitätsbezug – „Quai d’Orsay“, „In der Küche mit Alain Passard“ und „Welt ohne Ende“ – nehmen je einen Raum auf der Ausstellung ein. Sie beginnt aber mit Blains Lieblingsgenre, das ihr auch den Namen „Paradis Perdu“ gab: So, als verlorenes Paradies, hat Blain schon Western und den Wilden Westen bezeichnet. Vorgeschaltet ist lediglich noch ein kurzer Lebenslauf, den Blain eigens für die Retrospektive gezeichnet hat. Gegenüber im selben Raum hängen Originalseiten aus seinem anarchischen Western „Gus“. Darin rauben drei Halunken Postkutschen, Züge und Banken aus, um ihre Beute mit Luxus und schönen Frauen zu verjubeln. In Deutschland lief die Serie schlecht. Ein vierter Band, der in Frankreich erschienen ist, kam hier nicht mehr in die Läden. Der hat der Reihe allerdings inhaltlich kein echtes Ende gesetzt. Ebenso unvollendet, aber nur bei uns, ist aktuell noch Blains jüngster Western. Auf Deutsch liegt bisher nur Band 1 seiner zweiteiligen Hommage an die Comic-Legende Leutnant Blueberry (2019/2025, Szenario Joann Sfar) vor. Angelehnt an das Original von Jean Giraud zeichnet Blain seinen Bueberry ebenfalls vergleichsweise realistisch.

Stilistisch ungewöhnlich für Blain ist zudem die letzte Story mit Western-Bezug, ein frühes Werk. „Der Hop-Frog-Aufstand“ (1997, Szenario David B.) nach einer Erzählung von Edgar Allan Poe. Der Comic spielt im Wilden Westen – und mit fantastischen Elementen. Die Originalseiten dazu stechen sprichwörtlich ins Auge, nicht allein weil sie farbig sind. Die Linien sind behäbig, die düsteren Farben fast pastos aufgetragen. Wie Gemälde wirken die Hop-Frog-Exponate, die sich über eine ganze Wand im letzten Ausstellungsaal ziehen. Annähernd wuchtig aus dem Rahmen drückt dort vielleicht noch das farbige Titelbild von „Das Getriebe“ (Le réducteur de vitesse, 1999). Darin hat Blain seine ernüchternden Erfahrungen bei der französischen Marine verarbeitet.
Sonst sind die präsentierten Originalseiten von Blain wie gewohnt schwarzweiß und größer als Albenseiten. Bis ins Detail kommt die Dynamik und Luftigkeit der Zeichnungen prima zur Geltung. Skizzen demonstrieren: Blains flapsiger, federnder Strich sieht nur schnell gekritzelt aus. Er ist das Resultat sorgsamer Arbeit. Darum ergeben schräge Einzelheiten trotz physikalischer Freiheiten stimmige Kompositionen. Nennenswerte Skulpturen, Installationen oder andere raumgreifende Werke hat Blain nicht geschaffen. Damit ist „Paradis Perdu“ eine klassische Comicausstellung, bei der sich aber viel in Blains vielseitiger Grafik entdecken lässt. Exponate aus seinen Beiträgen zur irren Fanatsyserie „Donjon“ (1999-2006, mit Joann Sfar und Lewis Trondheim), aus der Mythologie-Persiflage „Sokrates der Halbhund“ (2003-2009, Szenario Joann Sfar), der Hommage an den belgischen Zeichner Guy Peellaert (1934-2008) „La Fille“ (2013), Vergrößerungen, Clips und Vorstudien runden die Retrospektive ab. Auf der Strecke bleibt höchstens, dass Blain zum Bedauern vieler Fans einige Serien abgebrochen hat. „Isaak, der Pirat“, einer seiner ersten Publikumserfolge, versackte etwa nach der fünften Folge ohne Schluss. „Dauernd lagen dringendere Projekte auf dem Tisch“, entschuldigt sich Christophe Blain. Er habe Isaak weiter auf dem Schirm und plane zwei abschließende Folgen. Für die erste davon, so sagt er, sei immerhin schon das Szenario geschrieben…
Christophe Blain: „Paradis Perdu“
Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28, Basel
Bis 15. März. 2026, Di bis So 11-17 Uhr
Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg als freier Autor unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.

Fotos oben © Cartoonmuseum Basel
