Der Architekt, der Archivar und sein Analytiker: Schuitens und Peeters‘ „Die Geheimnisvollen Städte“

„Irgendwann musste es ja so kommen. Kaum hatte ich mal etwas Luft, da klopfte es schon an meine Tür: ‚Hätten Sie Zeit, Monsieur Louis? Ich würde Ihnen gern eine wichtige Akte übergeben, eine heikle Sache …‘“ Isidor Louis ist Forschungsbeauftragter im Zentralinstitut der Archive, Abteilung Mythen und Sagen, und wenig angetan von seiner Tätigkeit: „Ein untergeordneter Bereich, ein würdeloser.“ Seine Aufgabe, übertragen von einer ubiquitären und gesichtslosen Bürokratie, wie Kafka sie schon in seinen Romanen „Der Prozess“ und „Das Schloss“ inszeniert hat, besteht darin, die Akten über die Geheimnisvollen Städte zu sichten und aufzubereiten.

Isidor Louis, eine offensichtliche Anspielung auf den argentinischen Autor Jorge Luis Borges („Die Bibliothek von Babel“) beschreibt seinen Arbeitsprozess anhand von zwanzig vorgefundenen Dokumenten, deren Rückseiten beschriftet seien. Wir lernen diese seltsame Welt nun anhand dieser zwanzig ganzseitigen Farbabbildungen kennen, und zugleich kommen wir dem Archivar näher, den wir in kleinen Schwarz-weiß-Bildern oberhalb seiner Berichtspassagen sehen können. Als Anhang ist ein „Geheimdossier“ beigefügt, das sieben weitere Abbildungen umfasst.

François Schuiten und Benoît Peeters: „Der Archivar“.
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch. Schreiber & Leser, München 2021. 64 Seiten. 22,80 Euro

Wir lernen in den zwanzig sogenannten Schaustücken mit Xhystos, Brüsel und Mylos u. a. drei der Geheimnisvollen Städte kennen, die Schuiten und Peeters zum Veröffentlichungszeitpunkt des „Archivar“ erst ansatzweise skizziert hatten. Zuvor waren erst „Der Turm“, „Die Mauern von Samaris“ und „Das Fieber des Stadtplaners“ erschienen, allesamt als Comics konzipiert und zuerst in der Zeitschrift „(A Suivre)“ erschienen, wohingegen der „Archivar“ erstmals dem Prinzip der Bildergeschichte folgt und 1987 direkt als großformatige Einzelveröffentlichung publiziert wurde.

Die Enzyklopädie und die Wirklichkeit

„Der Archivar“ ist der erste Versuch von Schuiten und Peeters, die Welt der Geheimnisvollen Städte in großen Sprüngen abzuschreiten. Roland Mietz und Volker Hamann bezeichnen den Band in der „Reddition“ #65 (2017) als „erste Gesamtkonsolidierung des Projektes Les Cités Obscures“. Demselben pseudo-enzyklopädischen Prinzip verpflichteten sich später „Das Stadtecho“ (1991-92, erneut 1993) und der „Führer durch die Geheimnisvollen Städte“ (1990-91, erneut 1996).

Es stellt ein reizvolles Paradox dar, dass die enzyklopädische Struktur zwar nur Fragmente einer fiktiven Welt präsentiert, durch die Form aber ein „Großes Ganzes“ suggeriert. Die „andere Welt“ ist uns nicht vollständig zugänglich, aber Schuiten und Peeters sei Dank können wir immer mal wieder einen Blick hinter den Schleier erhaschen.

Isidor Louis untersucht die Geheimnisvollen Städte als einen „Mythos“, als „Hirngespinst“, für die er amtsgemäß zuständig ist, und immer wieder distanziert er sich: „Ich persönlich glaube das allerdings nicht.“ Als Mythen, Märchen und Legenden bezeichnet er die Dokumente und Erzählungen, als Lügen, Träume und Fantasie. Aber zunehmend wird er in ihren Bann gezogen, richtet sich in den Bücherstapeln ein und wird letztlich sogar ein Teil davon: Am Ende des Geheimdossiers, das er nach seinem Rauswurf aus dem Institut verfasst hat, sehen wir den Archivar selbst. Nun nicht mehr in der gewohnten Schwarz-weiß- und Kleinformatoptik, sondern im Stil der Dokumente der Geheimnisvollen Städte.

Seite aus „Der Archivar“ (Schreiber & Leser)

Isidor Louis ist zu einem Gläubigen geworden: „Es lässt sich nicht länger leugnen. Aus der Fülle von Regeln und Ausnahmen, von Blütenträumen und Tragödien, von Plänen und Fehlschlägen im Geheimnisvollen Universum schält sich eine Erkenntnis unabweisbar heraus: Es ist real.“

Die Welt der Geheimnisvollen Städte erscheint unnahbar, ist zugleich entrückt wie auch unserer Welt ähnlich. Überhaupt ist das Prinzip der Hybridisierung bestimmend für die Serie: Innen und Außen, Zukunft und Vergangenheit, Schöpfer und Schöpfung, Natur und Architektur, Echtes und Falsches, Ursache und Wirkung. Alles trifft aufeinander, geht ineinander über oder überlagert einander.

Stefan Pannor kann man nur zustimmen, wenn er für den Tagesspiegel anlässlich der deutschen Ausgabe der „Sandkorntheorie“ (2010) resümiert: „Die Comics aus dem Zyklus der ‚Geheimnisvollen Städte‘ zählten schon immer zu den rätselhaftesten Erzählungen überhaupt.“

Das Original und das andere Original

Die erste Ausgabe des „Archivar“ erschien 1987 bei Casterman und kurz darauf (1990) auf Deutsch bei Egmont-Ehapa (noch unter dem Label des gerade übernommenen Rainer Feest Verlags) im unhandlichen Monumentalformat von 30×40 cm. Während der Band in Frankreich noch zwei weitere Male aufgelegt wurde, inhaltlich erweitert, aber im Format verkleinert, können deutsche Leser*innen diese aktualisierte Ausgabe erst seit diesem Januar lesen.

Wer die Original- und die Neuausgabe gegeneinander ausspielen, ja wer überhaupt von einem Original sprechen möchte, hat die Gesetze der Geheimnisvollen Städte noch nicht verinnerlicht. Natürlich unterscheiden sich beide Ausgaben voneinander, so wie die zwei Welten der Geheimnisvollen Städte, deren „Realität“ und Anderswelt, sich ähneln, niemals aber 1:1 gleichen. Fast möchte man jede einzelne Seite der beiden Ausgaben penibel nach Abweichungen in Details untersuchen, aber was heißt „fast“: So und nicht anders erkundet man die Geheimnisvollen Städte. Auch die seriellen Erstveröffentlichungen in „(A Suivre)“ wurden für die späteren Albenpublikationen noch verändert. Und dass die neue Übersetzung von Resel Rebiersch sich von der alten Übertragung durch Marcus Reinfried erheblich unterscheidet, versteht sich von selbst.

Seite aus „Der Archivar“ (Schreiber & Leser)

Neu sind etwa der kurze Pro- und Epilog, die der Beschreibung des Archivars einen narrativen Rahmen verleihen. Einige der Abbildungen sind zudem neu zugeordnet und ausgetauscht worden. Leicht entrückt und fast unmerklich verschoben, wie es typisch ist für die Anderswelt. Die Geheimnisvollen Städte sind kein Objekt, sondern ein Prozess. Die Architektur der Geschichten ist durchsetzt von Ruinen, Fragmenten und Spolien, also von Relikten anderer Bauwerke, die in die Baukunst der Geheimnisvollen Städte integriert sind. Die Ruinen wie auch die noch unfertigen Kulissen symbolisieren das Werden und Vergehen, so wie viele der Gebäude den Anschein erwecken, Teil eines vegetabilen Kreislaufes zu sein: Die florale Jugendstilornamentik ist alles andere als reiner Selbstzweck.

Dass es so etwas wie die Geheimnisvollen Städte gibt, ist wirklich ein kosmischer Unfall, hervorgerufen durch die Kollision einfallsreicher Autoren, mutiger Verleger und resilienter Leser*innen. Mehr noch: ein Glücksfall.

Jan Baetens – der Analytiker

Der belgische Comicwissenschaftler Jan Baetens von der Katholieke Universiteit Leuven (University of Leuven) hat mit „Rebuilding Storyworlds“ (Rutgers University Press) im vergangenen Jahr ein sehr lesenswertes Buch über die Geheimnisvollen Städte herausgegeben. Kein Reiseführer, sondern eine akademische Begehung des verwickelten Erzählkosmos.

Fast könnte man Baetens für eine Erfindung des belgisch-französischen Comic-Duos halten, wie den fiktiven Autor Régis De Brok, dem wir in den Geheimnisvollen Städten begegnen. Aber Baetens ist echt. Versprochen. In acht Kapiteln führt er verschiedene Aspekte der Serie aus und fügt noch ein Interview mit Benoît Peeters sowie eine Skizzensammlung Schuitens zu „Die Sandkorntheorie“ an.

Jan Baetens: „Rebuilding Story Worlds. The Obscure Cities by Schuiten and Peeters“.
Rutgers University Press. New Brunswick, New Jersey 2020. 198 Seiten. 29,95 USD (englisch)

Baetens erläutert die ursprünglichen Publikationszusammenhänge der Serie und verortet die Geheimnisvollen Städte zwischen Tradition und Avantgarde, als ein Patchwork verschiedener Stile und Genres. Die Storyworld, die Schuiten und Peeters gemeinsam entwerfen, ist von dem Gegensatz zwischen „Earth“ und „Counter-Earth“ geprägt, aber wir sollten nicht den leichtsinnigen Fehler begehen, die „Earth“ mit unserer Wirklichkeit zu verwechseln, auch wenn die realistischen Architekturen dazu verführen mögen. Überhaupt ist Architektur, wie schon so oft festgestellt wurde, zentrales Moment der Geheimnisvollen Städte – eines mit deutlich politischer bzw. ideologischer Bedeutung, wie seine Analyse von „Das schräge Mädchen“ zeigt.

Baetens‘ Monographie widmet sich dem Gesamtkonzept einer Serie, die ursprünglich gar nicht als solche konzipiert war. Die Heterogenität der einzelnen, sich ergänzenden und widersprechenden Bände, die zugleich für sich stehen und im Kontext der anderen Bände gelesen werden können. Beides zu würdigen, erfordert eine ständige Relektüre.

Im abschließenden Interview führt Peeters aus, wie es zu der vierbändigen Integral-Ausgabe der Geheimnisvollen Städte kam. Diese erschien zuerst 2012 in Japan und wurde dann zwischen 2017 und 2019 bei Casterman auf Französisch herausgegeben. Keine ganz triviale Aufgabe, da die unterschiedlichen Formate nun vereinheitlicht werden mussten. Ob diese Ausgabe es jemals nach Deutschland schaffen wird, ist fraglich. Im Juli wird zunächst das „Stadtecho“ bei Schreiber & Leser neu aufgelegt, und der „Führer durch die Geheimnisvollen Städte“ steht bei Schreiber und Leser ebenfalls weit oben auf der Wunschliste, wenn auch noch ohne konkretes Datum. Die Geheimnisvollen Städte wachsen also weiter.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.