O Schreck. O Graus. Horror im Comic

Der Dortmunder Comic-Streit, eine Diskussion von Comic-Expert*innen vor Publikum, deren Aufzeichnungen auch digital zur Verfügung stehen, ist dank des Engagements des Kunsthistorikers Alexander Braun in kurzer Zeit zu einer festen Institution für die Comic-Szene geworden. Ebenso hat sich der Dortmunder Schauraum rasch zu einem regelmäßig bespielten Ausstellungsort für Comics entwickelt, immer begleitet von einem großen medialen Echo. Die bisherigen Ausstellungen widmeten sich Carl Barks, Animes, Weltkriegs-Comics, Will Eisner und zuletzt Horror-Comics. Derzeit werden die Comics des schleswig-holsteinischen Geschwisterpaars Rudolph und Gus Dirks präsentiert („Katzenjammer Kids“). Jede Ausstellung wird – das ist für den Kurator Alexander Braun essentiell, damit das gewonnene Wissen auch nach Ausstellungsende noch verfügbar bleibt – von einer Buchpublikation begleitet, die stets mehr ist als ‚nur‘ ein Buch mit den Abbildungen der Exponate. Der großformatige Band „Horror im Comic“ (avant-verlag, 2022) umfasst 456 Seiten mit zahllosen Abbildungen aus der Comic-, Film-, Kunst- und Literaturgeschichte und richtet sich längst nicht nur an die Besucher*innen.

Im ersten der 15 Kapitel („Saturns Enkel“, S. 7-35) müssen Comicfans etwas Geduld aufbringen, denn Braun führt die Leser*innen weit in die Kunstgeschichte zurück, um zu ergründen, warum Menschen sich überhaupt mit Kunst, die Angst oder Ekel hervorruft, auseinandersetzen. Das Kapitel zeigt Beispiele aus der europäischen Kunstgeschichte (Rembrandt, Gentileschi, Caravaggio, Goya), um zu belegen, dass drastische Gewaltdarstellungen keine Erfindung des 20. Jahrhunderts sind, und im Übrigen merkt Braun auch an, dass diese Bilder in Museen auch Familien mit Kindern frei zugänglich seien, wohingegen wir im Falle anderer Medien ständig um die Verrohung der Jugend bangen. Das ist aber nichts Neues: Die Sorge vor spezifischen Medien (oder Genres) ist dem Comicfan, Wertham sei Dank, sehr bewusst, und diese Ängste wiederholen sich ständig in der Mediengeschichte, vom Buchdruck über den Walkman bis hin zum Killerspiel. Diese Perspektive soll gar nicht sämtliche pädagogischen Bedenken vom Tisch wischen, kann aber helfen, die Diskussion etwas zu beruhigen. Braun spannt nun einen Bogen bis hin zum berüchtigten Splatterfilm „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974), den er noch sorgsamer seziert als Leatherface darin seine Opfer.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (avant-verlag)

Im zweiten Kapitel („EC – Amerikas Weg in die Zensur“, S. 37-97) wendet Braun sich sehr eindringlich dem Comic-Verlag zu, der geradezu synonym für die Geschichte von Horrorcomics steht, obwohl dieser zu seinen Anfangszeiten ganz andere Themen besetzte. Nachdem William Gaines, der Sohn des Verlagsgründers Max Gaines, das Familienunternehmen 1947 übernahm, veränderte er allmählich die Ausrichtung des Verlags und verabschiedete sich von den lehrreichen Comics, für die EC in den frühen Jahren stand: Aus den „Educational Comics“ wurden „Entertaining Comics“. Im Rahmen des „New Trend“, wie EC die inhaltliche Neufokussierung nannte, setzte das Kreativteam um Al Feldstein, Johnny Craig, Wally Wood, Harvey Kurtzman und Graham Ingels voll und ganz auf Horror: 1950 entstanden die Serien „The Crypt of Terror“, „The Vault of Horror“ und „The Haunt of Fear“ und sorgten für ungeahnte Absatzzahlen. Der Boom endete allerdings abrupt 1954 mit der Etablierung des Comics Code und den damit einhergehenden massiven Einschränkungen von Horrortiteln – zum vermeintlichen Wohle der Jugend. Ein Höhepunkt des Kapitels ist eine Wiedergabe von Bill Gaines‘ Aussage vor dem US-amerikanischen Senatsausschuss am 21. April 1954, der dazu dienen sollte, die Gefährdung von Jugendlichen und Kindern durch Comics einzuschätzen. Diese sechs engbedruckten Seiten sind so unterhaltsam wie manche EC-Comics, wenn Gaines auf die wiederholten Fragen „Halten Sie das für guten Geschmack?“ seine Cover mit großer Beharrlichkeit verteidigt: „Ja, Sir.“ Gruselig wiederum ist das Unvermögen der Verhörenden, Gaines‘ Aussagen in den jeweiligen Zusammenhängen richtig einzuordnen. Gaines selbstbewusstes Auftreten war zwar höchst unterhaltsam, er erwies aber der Branche mit seinem Aussageverhalten einen Bärendienst. Die neu gegründete Comics Magazin Association of America (CMAA) formulierte strikte inhaltliche wie formale Sittenregeln für die Comicindustrie, darunter auch Anweisungen, die EC ins Mark trafen: „No comic magazine shall use the word horror or terror in its title. All scenes of horror, excessive bloodshed, gory or gruesome crimes, depravity, lust, sadism, masochism shall not be permitted.“ Das war das Ende von ECs Erfolgsjahren.

Das dritte Kapitel („Im Schatten … die anderen“, S. 99-109) stellt eher eine Ergänzung zum umfangreichen EC-Kapitel dar, in dem Braun sich den Horror-Comics der frühen 1950er-Jahre widmet, die im Schatten von EC-Comics kaum mehr bekannt sind und auch damals in weitaus kleineren Auflagen als die EC-Bestseller gedruckt wurden, aber an den damaligen Kiosken dennoch präsent waren, allein angesichts ihrer Masse, denn neben den drei EC-Titel wurden über hundert weitere Serien mit expliziten Horror-Inhalten angeboten. Braun präsentiert einige Cover etwa von Wally Wood, Basil Wolverton und Bernard Baily, schreitet aber rasch voran zum nächsten Schwertpunkt.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (avant-verlag)

Im vierten Kapitel („Die Warren-Jahre – Von Frazetta bis Wrightson“, S. 111-153) richtet Braun seinen Blick auf die Magazinproduktion des Warren-Verlags zwischen 1960 und 1983. In den 1970ern ermöglichte eine Lockerung des Comics Code den Künstlern, den Horror wieder aufleben zu lassen. Während Marvel vor allem mit mehreren Literaturadaptionen von Mary Shelleys „Frankenstein“ und Bram Stokers „Dracula“ aufwartete, nutzten Künstler wie Frank Frazetta, Bernie Wrightson und Richard Corben die neu gewonnenen Freiheiten, um für die Warren-Magazine „Creepy“ und „Eerie“ zu arbeiten. Braun schildert im Detail die bis heute faszinierende Technik Richard Corbens, dessen Kolorierung damals wie heute hervorsticht – einen Einblick in dessen „Mutantenwelt“ können Neugierige in der 2020 bei Splitter aufgelegten Neuausgabe gewinnen.

Es folgt ein Schweinsgalopp durch Darstellungen von Teufeln und Hexen (Kap. 5 „Tod und Teufel – Von Beelzebub bis Hellboy“, S. 155-197), der bei Druckgrafiken des 18. Jahrhunderts beginnt und über eine ausführliche Herleitung der Geschichte der Hexenverfolgungen schließlich in Salem landet und von dort eine Brücke zu der Red Scare im 20. Jahrhundert schlägt. Ob Hexen oder Kommunisten – das ist dem hysterischen Mob sowieso fast einerlei, solange man einen Sündenbock findet. Nun erst kommen die Comics ins Spiel, und nach kurzen Exkursen über Hexen bei Carl Barks oder Will Eisner (über beide hat Alexander Braun vor kurzem Bücher veröffentlicht) landen wir bei „Hellblazer“, „Spawn“ und Mike Mignolas „Hellboy“ – und ganz nebenbei lernen die Leser*innen etwas über die Entwicklung der Nutzungsrechte, die sich die Künstler*innen erst mühsam von den Verlagen erkämpfen mussten. Image Comics und Dark Horse ermöglichten den Künstler*innen, die Rechte an den von ihnen geschaffenen Figuren zu behalten – im Gegensatz zu den Branchenriesen Marvel und DC (man frage hierzu einmal Alan Moore …).

In den folgenden Kapiteln werden wir durch die Motivwelt des Horrorcomics geführt, angefangen bei lebenden Skeletten (Kap. 6, „Vanitas und Totentanz“, S. 199-207) vor allem in einem titellosen Comic des norwegischen Künstlers Jason über Vampire und Werwölfe bis hin zu Geistern und Zombies (Kap. 7-10). Fans der kaum enden wollenden Endzeitserie „The Walking Dead“ werden nun auch auf ihre Kosten kommen, aber Thomas Ott, Steve Niles sowie diverse Superhelden-Comics von Marvel und DC finden ihren Platz.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (avant-verlag)

Die letzten Kapitel widmen sich spezielleren Zusammenhängen, etwa den Gefahren, die in der Tiefsee (Kap. 11), im Weltraum (Kap. 12) oder in der eigenen Psyche (Kap. 13) lauern. In diesen kürzeren Abschnitten setzt Braun sich u. a. mit der Sub-Mariner-Miniserie „Die Tiefe“ auseinander, deren deutsche Ausgabe lange vergriffen war und im November 2022 in der Reihe Marvel Must-Have bei Panini neu aufgelegt worden ist. Die ungewöhnliche Story von Peter Milligan („Enigma“) und insbesondere die fotorealistischen Aquarellzeichnungen von Esad Ribic lassen diesen Band aus der Masse von Tiefseeabenteuern hervorstechen.

Zum Abschluss richtet Braun seinen Blick wiederum ausführlicher auf Horrorcomics aus Italien (Kap. 14) und Japan (Kap. 15) – hinsichtlich der Drastik das Darstellungen sicher der Höhepunkt des Buches, denn vor allem die sehr expliziten Comics aus Nippon sind für unsere Sehgewohnheiten allzu deftig, was Braun in seiner Einleitung mit einem Rückblick auf gesellschaftliche Strukturen und Traditionen, aber auch mit der Erfahrung der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki begründet – Keiji Nakazawas „Barfuß durch Hiroshima“ ist eines von vielen Zeugnissen dafür.

Der Band ist unglaublich reich illustriert, nicht nur mit den Vorstufen der fertigen Druckseiten, sondern auch mit sorgsam annotiertem Fotomaterial, das den Entstehungsprozess oder die kulturellen Kontexte der Comics sichtbar macht. So dokumentiert er die Exponate nicht nur, sondern stellt einen eigenen Beitrag zur Geschichte des Horrorcomics dar. Wer die Ausstellung nacherleben möchte, kann dies übrigens digital weiterhin tun.

Wie die vergangenen von Alexander Braun veröffentlichten Ausstellungsbände ist „Horror im Comic“ ein Sekundärliteratur-Highlight des vergangenen Jahres. Natürlich hätten Lovecraft- oder Steve-Niles-Fans sich ein entsprechendes Kapitel gewünscht, aber das Buch möchte schließlich kein Lexikon sein und darf bzw. muss sich Schwerpunktsetzungen erlauben. Der Fokus ist auf die US-amerikanischen Comics der 1950er Jahre gerichtet, und insbesondere die Kapitel über die italienischen „Fumetti Neri“ sowie die japanischen Gore-Comics werden vielen Comic-Fans bisher unbekannte Szenen präsentieren. Freilich: Angesichts des Umfangs wäre ein Stichwort- oder Namensverzeichnis natürlich eine sinnvolle Ergänzung gewesen, aber das ist eine Kritik, die man dann anbringt, wenn sonst nichts zu finden ist, worüber man sich beschweren möchte.

Hier gibt es ein Interview mit Autor und Kurator Alexander Braun, hier eine weitere Kritik zum Ausstellungskatalog.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Alexander Braun: „Horror im Comic“. avant-verlag, Berlin 2022. 456 Seiten. 49 Euro