Matt Murdocks „Year One“

Durch einen Unfall mit chemischen Abfällen wurde der Anwalt Matt Murdock zwar bereits als kleiner Junge seiner Sehfähigkeit beraubt, der Rest seiner Sinne wuchs jedoch auf ein übermenschliches Niveau heran. Während er bei Tag im Rahmen des Gesetzes versucht, die entrechteten Bürger seines Stadtteils Hell’s Kitchen in New York zu vertreten, regelt er in der Nacht jene Angelegenheiten als „Daredevil“, bei denen das Rechtssystem versagte. Ohne Kompromisse.

Nach der erfolgreichen Netflix-Serie erreicht das öffentliche Interesse an Marvels blindem Superhelden Daredevil derzeit natürlich ungeahnte, neue Höhen. Bereits mit seinem ersten Auftritt 1964 stand Matt Murdock für einen düsteren, realistischeren Teil des Marvel-Universums, der sich mit Straßenbanden und Mafiosi befasste, anstatt der im Verlag deutlich stärker vertretenen, überzeichneten Superschurken. Diese Abweichung vom fantastischen und bunten Tenor der Marvel-Superhelden fand ihren damaligen Höhepunkt durch den neuen Zeichner (und späteren Autoren) Frank Miller (Sin City, 300, The Dark Knight Returns) der durch seinen kontrastreichen Noir-Stil und rauhere, dunklere Geschichten nicht nur Daredevil selbst weiterentwickelte, sondern eine der treibenden Kräfte für ernstere und düstere Szenarien ebnete.

Miller sollte 1993 nach jahrelanger Abstinenz zu dieser Reihe, die ein wichtiger Meilenstein seiner Karriere war zurückkehren. Und zwar in Form der nun als Paperback bei Panini wiederveröffentlichten Miniserie „Der Mann ohne Furcht“. Unterstützt durch das extrem dynamische und lebendige Artwork von John Romita Jr. (Kick-Ass) wurde hier ein neues, härteres und schonungsloseres Bild von Hell’s Kitchen gezeigt, als je zuvor. Nicht umsonst gilt „Man without Fear“ (so der Originaltitel, der fünfteiligen Miniserie) neben Millers frühen Daredevil-Werken als eine der größten Inspirationen für die düstere und beliebte Netflix-Adaption.

Eine Art „Daredevil – Year One“ wollte Frank Miller mit dem „Mann ohne Furcht“ erschaffen, schrieb er einst Romita Jr. in einem Briefwechsel. Und der Plan ist voll aufgegangen. Stimmungsvolle, innere Monologe beschreiben die bedrückende, feindselige Stimmung, die immer wieder von Foggy Nelsons tolpatschiger Liebenswürdigkeit aufgelockert wird. Auch die Inszenierung von Attentäterin Elektra ist sowohl visuell als auch inhaltlich sicher eine der aufregendsten, die es jemals in einem Marvel-Comic gab. Bleibt zu hoffen, dass die wilde, adrenalinsüchtige und kokette Version der Femme Fatale ebenfalls die Grundlage für ihre TV-Wiedergeburt sein wird.

„Daredevil – Der Mann ohne Furcht“ ist Pflichtlektüre für jeden Marvel-Fan, der seine Freude mit dem Bildschirm-Matt-Murdock hatte und nun seine Wurzeln in der Welt der Comics erkunden will. Und eigentlich auch für jeden, der keine attestierte Superhelden-Allergie hat.

Frank Miller, John Romita Jr.: Daredevil – Der Mann ohne Furcht. Panini, Stuttgart 2015. 180 Seiten, € 16,99