„Ohne Will Eisner würden wir heute nicht im Feuilleton über Comics sprechen“

Es gibt kaum einen Künstler, dem unser Medium – der Comic – so viel zu verdanken hat wie dem US-Zeichner und Autor Will Eisner (1917-2005), der den Begriff Graphic Novel geprägt und die Comickunst in seiner 70-jährigen Zeichnerlaufbahn mehrfach erneuert und nach vorne katapultiert hat. In Dortmund ist nun die erste deutsche Werkschau Will Eisners mit zahlreichen Originalen und Fotos aus dem Nachlass der Comiclegende zu sehen, und im Avant-Verlag erscheint passend dazu eine fast 400-seitige Monographie.

© Torsten Tullius, Dortmund Agentur

Der promovierte Kunsthistoriker Alexander Braun hat sich in den vergangenen Jahren als Kurator und Experte für Comickunst auch international einen Namen gemacht. Er hat eine umfassende Retrospektive über Winsor McCay („Little Nemo“) zusammengestellt, 2016 für die Schirn Kunsthalle Frankfurt die viel beachtete Ausstellung „Pioniere des Comic“ kuratiert und für die Bundeskunsthalle Bonn 2017 die Schau „Comics!, Mangas!, Graphic Novels!“ auf die Beine gestellt. Gleich zweimal wurde er mit dem renommierten Eisner-Award ausgezeichnet, zuletzt 2020 für seine Arbeit an der Gesamtausgabe des Comicklassikers „Krazy Kat“ (Taschen). Und jetzt – so schließt sich der Kreis – nimmt sich der Eisner-Preisträger des Namensgebers der weltweit wichtigsten Comicehrung an: Will Eisner. In langjähriger Zusammenarbeit mit der Familie von Will Eisner, dem Will Eisner Estate und vielen weiteren Insituten hat Braun eine beachtliche Anzahl von Originalen und Fotografien mit Leihgaben aus Deutschland, Belgien, Österreich, Italien und den USA zusammengestellt. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Lieber Herr Braun, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns über die überbordende Will-Eisner-Monographie, die dieser Tage im Avant-Verlag erscheint, und die die dazugehörige Ausstellung im schauraum: comic + cartoon in Dortmund zu sprechen. Könnten Sie uns eingangs kurz erzählen, wie Sie selbst auf den Comic kamen? Wie lange beschäftigen Sie sich schon privat und beruflich mit dem Medium? Und was fasziniert Sie an der Kunstform?

Ich habe wie viele andere auch in meiner Kindheit und Jugend Comics gelesen. Ich war auch immer sehr filmbegeistert, sodass sich das kongenial ergänzte. Dann bin ich nach dem Abitur zunächst an die zeitgenössische Kunst „verloren” gegangen und habe Kunst und Kunstgeschichte studiert. Irgendwie bin ich aber immer wieder zu meiner alten Leidenschaft Comic zurückgekehrt und wurde zunehmend ungehalten über die geringe Wertschätzung, die dem Comic im Kanon der bildenden Künste entgegengebracht wird. Es kann nicht sein, dass das Comicmedium so unfassbar gute Zeichner hat und in vielen Aspekten schon sehr früh Avantgarde gewesen ist, aber niemand das zur Kenntnis nehmen will. Das wollte ich ändern.

Alexander Braun: „Will Eisner. Graphic Novel Godfather“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 384 Seiten. 39 Euro

In den letzten Jahren haben Sie als Kurator einige Ausstellungen zu comicgeschichtlichen Themen organisiert, die auch international für Aufsehen gesorgt haben, darunter die Ausstellung „Pioniere des Comic“ in der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt am Main. Fühlen Sie sich als Kurator für Comics manchmal selbst als Pionier? Welchen Stellenwert haben das Comicmedium und seine Geschichte im Kunstdiskurs in Deutschland?

Unbedingt. Das ist wirklich eine der schönsten Erfahrungen, wenn man den Comic quasi in die Mitte der bürgerlichen, kunstinteressierten Gesellschaft trägt, und das Publikum, das zuvor immer nur Vorbehalte hatte oder die Nase rümpfte, plötzlich von einem Ah- und Oh-Effekt in den nächsten fällt. In Frankfurt war das besonders frappant: zum einen, weil die Schirn sich vorher noch nie dem Comic geöffnet hatte – also astreine „Hochkultur” repräsentierte –, und zum anderen, weil wir Künstler zeigten, die im Vergleich zu den Positionen der Moderne mehr als bestehen können: Winsor McCay, der Surrealismus vor dem Surrealismus gemacht hat; George Herriman, der zu einer Zeit absurdes Theater und Dada präsentierte, als Samuel Beckett noch zur Schule ging; und Lyonel Feininger, dessen Comics schon all die Themen enthalten, die seine spätere Bauhaus-Zeit und Malerkarriere ausmachen sollten: Meerstücke, Schiffe, Kirchtürme, altdeutsche Städte. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.

In Dortmund haben Sie für den schauraum: comic + cartoon in den vergangenen Jahren Ihre Ausstellungen kuratiert, darunter „Nimm das, Adolf!“ über Comics zum Thema Zweiter Weltkrieg. Der schauraum ist dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte angegliedert. Können Sie uns ein bisschen zu dem Ort und Ihre Arbeit dort erzählen?

Die Idee entstand, weil es gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof ein leerstehendes Ladenlokal gab und sich die Stadt Dortmund eine andere Nutzung wünschte, als nur wieder die nächste Döner-Bude zu eröffnen oder die Immobilie an einen Wasserpfeifen-Shop zu verpachten. Es sollte etwas Kulturelles sein und niederschwellig. Ich bin ja nicht nur gebürtiger Dortmunder und habe viele Jahrzehnte in der Stadt gelebt, sondern hatte zuvor auch drei meiner großen Comic-Wanderausstellungen in Dortmund im Museum gezeigt. So kam die Idee auf, das Projekt schauraum gemeinsam auf die Füße zu stellen. Der Ausstellungsraum ist knapp 200 qm groß, liegt zwischen Stadt- und Landesbibliothek und Deutschem Fußballmuseum. Am Tag gehen dort, auf dem Weg in die Fußgängerzone oder zum Bahnhof, ein paar tausend Menschen vorbei.

Die Idee war, Ausstellungen zu zeigen, die gleichermaßen musealen Ansprüchen genügen, wie sie aber auch Besucher abholen und für das Medium zu begeistern verstehen, die einfach mal nur so hineingeschneit kommen, weil die aktuelle Ausstellung auf ihrem Weg liegt. Der Eintritt ist kostenlos, und zu jeder Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog, der das Thema vertieft – damit nicht jede Generation in Deutschland wieder bei Null anfangen muss. Der Erfolg gibt uns recht. Die Besucherzahlen sind super. Wir erreichen sowohl Menschen, die bislang keine Einblicke ins Medium hatten, als auch Fachbesucher, die wegen der seltenen Original-Zeichnungen etwa aus Hamburg, Belgien, Wien oder Italien angereist kommen. Haben wir alles schon gehabt: Besucher aus Mailand, die nur wegen der Ausstellung geflogen gekommen sind. Total klasse. Und unsere Bücher sind am Ende der Ausstellung ebenfalls stets so gut wie ausverkauft.

Bevor wir zum aktuellen Eisner-Projekt kommen, würde ich gerne über den Eisner-Award sprechen. Als einziger Deutscher überhaupt wurden Sie mit der wichtigsten internationalen Comic-Ehrung bedacht, und das nun schon zweimal, 2015 für Ihre Gesamtausgabe von „Little Nemo“ und jüngst 2020 für Ihre Gesamtausgabe der farbigen Sonntagsseiten von „Krazy Kat“. Wobei jedes Buch auch immer eine gültige Monographie zu Leben und Werk des Künstlers darstellt. Was bedeuten die beiden Eisner-Awards für Sie und Ihre Arbeit?

Die beiden Eisner-Awards kamen völlig überraschend und sind zweifellos eine große Ehre. Ich wusste, dass ich es mit beiden Bänden auf der Shortlist geschafft hatte, aber da sind dann die besten fünf Titel des Jahres in der entsprechenden Kategorie versammelt und jeder davon hätte einen Eisner-Award verdient gehabt. Wirklich jeder. Ich hatte nicht damit gerechnet, weder 2015 noch 2020, weil ich es mir nicht vorstellen konnte, dass eine US-amerikanische Jury den Preis an einen Deutschen gibt, wenn es so starke amerikanische Kollegen in der Konkurrenz gibt, die ihrerseits eine super Arbeit geleistet haben. Es spricht für beide Jurys, dass sie offensichtlich nicht empfänglich waren für chauvinistisches Nationaldenken. Zweimal nominiert, zweimal gewonnen, das ist schon verrückt.

Haben sich dadurch international Türen geöffnet? War das für das Eisner-Projekt hilfreich?

Nein, an meiner Situation als Kurator hat das nichts geändert. 2015 hat den Gewinn so gut wie niemand zur Kenntnis genommen, nicht mal die deutschen Comicfachmagazine. 2020 war es dann ein bisschen besser. Das, was Türen öffnet, ist die Arbeit selbst und das Netzwerk, das dadurch entsteht. Sammler, die schon mal mit Leihgaben in Ausstellungen von mir vertreten waren, erzählen von dieser guten Erfahrung, vom sicheren Handling und der großen Seriosität, die wir an den Tag legen, oder reichen meine Bücher rum. Das verschafft Reputation und Vertrauen. Für das Eisner-Projekt war der Award 2020 überhaupt nicht hilfreich, eher im Gegenteil: zum einen waren die Vorbereitungen schon im vollen Gange, zum anderen war mein wichtigster Gesprächspartner, Eisners Freund und langjähriger Verleger Denis Kitchen, mit seinem wunderbaren Buch über Harrison Cady einer der anderen Nominierten. Er hat es mit Fassung getragen, gegen mich verloren zu haben.

Will Eisner gilt als einer der wichtigsten Comickünstler des 20 Jahrhunderts. Was würden Sie einem Comic-Neueinsteiger, der gerade mal den Namen Eisner gehört hat, aber kaum was über ihn weiß, über den Künstler und den Menschen Eisner sagen? Warum kommt man in der Comicwelt nicht an ihm vorbei?

Ohne Will Eisner würden wir heute nicht wie selbstverständlich im Feuilleton über Comics sprechen. Will Eisner ist derjenige gewesen, der seit den späten 1930er-Jahren fest davon überzeugt war, dass der Comic ein künstlerisches Medium ist wie jedes andere auch: viel Schund, aber auch fähig zu literarischen Höchstleistungen. Da wollte er hin. In den frühen 1950er-Jahren kam ihm das aggressive gesellschaftliche Klima und der Comics-Zensur-Code dazwischen, sodass er seine Serie „The Spirit” einstellte. In den 1970er-Jahren kam er zurück und setzte das durch, was er schon immer im Sinn hatte: einen Comic zu schaffen, der frei war von den Zwängen der Herausgeber und Verlage, der als autonomes Buch existieren konnte und befreit war von Genre-Themen: kein Horror, keine Science-Fiction, keine Superhelden, kein Zwang, lustig zu sein, einfach nur Erzählungen in Text und Bild über ganz normale Menschen. Und um damit im regulären Buchhandel überhaupt eine Chance zu haben, schrieb er „Graphic Novel” aufs Cover: „grafischer Roman”.

Erzählen Sie uns doch ein bisschen über die Vorarbeit zum Buch und der Schau. Wann haben Sie mit den Vorbereitungen angefangen, welche Exponate konnten Sie sich sichern und wie kamen Sie an die Archivalien und Originalzeichnungen ran?

Das Zustandekommen einer Ausstellung verdankt sich immer ganz vielen Faktoren. Da ist das, was ich thematisch gerne machen würde, dann ist die Frage essentiell, wie sich die Leihgaben-Situation darstellt – bekomme ich genug gute Originale zusammen? – und dann müssen ja auch die Partner von dem Thema überzeugt sein, ob sie das überhaupt zeigen wollen, was ich vorschlage. Last but not least gibt es dann manchmal flankierende Daten, wie z. B. der 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, der sich 2019 aufdrängte für die Austellung „Nimm das, Adolf!“. Die Leihgaben jetzt bei Eisner stammen aus Deutschland, Belgien, Österreich, Italien und den USA. Und alles, was nicht in die Ausstellung gepasst hat, findet sich zusätzlich im Buch mit seinen mehr als 500 Abbildungen.

Im Buch und in der Schau gehen Sie auch gezielt auf die jüdischen Themen und Aspekte in Eisners Schaffen ein. Könnten Sie uns kurz erläutern, welchen Stellenwert das Jüdische in seinen Comics einnimmt und was in dem Punkt seine Verdienste waren?

Will Eisner stammt aus einer jüdischen Einwandererfamilie. Sein Vater ist 1914 aus Wien in die USA emigriert, seine Mutter hat rumänische Wurzeln. In seiner Kindheit wurde zu Hause englisch, deutsch und jiddisch gesprochen. Das heißt, das ist das Milieu, aus dem er stammte und dem er auf authentische Weise treu geblieben ist. Eisner wollte nur über etwas erzählen, das er wirklich kannte und verstand. Dazu zählt das Jüdische als sein soziokultureller Background. Religiös ist Eisner nicht gewesen. Er beschrieb sich immer als „humanistischen Atheisten”. Dass es in seinem Spätwerk verstärkt jüdische Themen gibt, hat damit zu tun, dass Eisner diesen ganzen Rassismus und Antisemitismus einfach nicht mehr ertragen konnte: Die Be- oder Verurteilung eines Menschen nur aufgrund seiner Herkunft, Hautfarbe oder Religion – Eisner war über 80 und hatte es einfach satt. So setzte er sich mit der antisemitischen Figur des Fagin in Charles Dickens „Oliver Twist“ auseinander und entlarvte in seiner letzten Graphic Novel die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ als das, was sie sind: eine antisemitische Fälschung aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Wie Sie schon erwähnten, Will Eisner hat den Begriff „Graphic Novel“ geprägt, der heute gängig, aber nicht unumstritten ist. Welche Geschichte verbindet Eisner mit dem Begriff? Und werden wir im heutigen Gebrauch des Ausdrucks der Intention Eisners gerecht?

Es gibt nichts, warum man um den Begriff „Graphic Novel“ streiten sollte. Eisner hat das klar im Vorwort zu „Ein Vertrag mit Gott“ 1978 definiert. Graphic Novel ist für ihn ein Comic, bei dem der Künstler die komplette kreative Kontrolle hat: Inhalt, Form, Umfang, Stil – alles bestimmt der Autor und Zeichner. Das war’s. Graphic Novel ist ein Emanzipationsbegriff, so wie sich der „Autorenfilm“ vom unfreien Produktionsmodell Hollywoods abgegrenzt hat. Der Künstler ist autonom und Herr seiner Schöpfung. Das impliziert keineswegs: Graphic Novel = gut; Comic = böse. Es gibt schlechte Graphic Novels und wunderbare, hochwertige Comics. Graphic Novel IST ein Comic, aber einer, bei dem die Freiheit des Künstlers die Prämisse ist. Wenn der es dann versaut, hilft ihm auch das Label Graphic Novel nicht weiter.