Höllenfeuer der Moderne – „From Hell“

„If the doors of perception were cleansed, every thing would appear to man as it is, infinite.“
William Blake

Am Strand bei Bournemouth im Jahr 1923 unterhalten sich zwei alte Männer. Einer war Polizist, der andere ein „Hellseher“. Kennengelernt haben sie sich damals, als ein Serienmörder in Whitechappel Prostituierte tötete und offensichtlich mit ärztlichem Handwerkszeug und Geschick ausweidete. „Jack the Ripper“ nannte man den Whitechappel-Mörder; so hieß es in Bekennerbriefen, die die Polizei narrten, die aber kaum von dem Täter selbst stammten. Jack the Ripper beflügelte die Fantasie merkwürdiger Menschen in einer merkwürdigen Zeit: die 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts, der brutale Vormarsch des Neuen, von Industrialisierung und Wissenschaft, Klassenkampf und brutaler Zähigkeit des Alten, des Empire, des englischen Königshauses und des Aberglaubens. Eine Welt, die durch den Fortschritt noch finsterer wurde. In den Köpfen und in den Straßen. Das Herz der Finsternis liegt in Afrika. Oder in den Slums von London.

Es geht, während die beiden Männer durch die Dünen wandern, um Karl Marx und die Unvermeidbarkeit der Revolution, und das Paradoxon des Mittelstandes, der die Revolution liebt, und der Arbeiterklasse, die konservativ bleibt. „Die Arbeiterklasse will keine Revolution, Mr. Lees. Sie will einfach nur mehr Geld“, meint Mr. Abberline. Lees dagegen kommt zu einer fatalen Geständnis: Er hat die „Visionen“, mit denen er Furore gemacht hat, schlicht erfunden. Abberline, der pensionierte Polizist, dagegen dreht schier durch, als er ein Liebespaar bei der „Hurerei“ erwischt (und dabei benutzt er beinahe das Repertoire des Jack the Ripper: „Ich mache aus deinen Därmen Strumpfhalter.“).

Alan Moore (Autor), Eddie Campbell (Zeichner): „From Hell“.
Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Cross Cult, Asperg 2008. 604 Seiten. 49 Euro

Nein, „Helden“ sind und waren diese beiden Männer wohl nicht, und besonders sympathisch sind sie auch nicht. Aber auf merkwürdige Art sind sie einem in dieser kurzen Szene vertraut geworden. Gute Erzähler und gute Zeichner können so etwas. Zum Beispiel im Medium der Graphic Novel, des „Comic-Romans“, zum Beispiel die Erzähler Alan Moore und der Zeichner Eddie Campbell, die mit dem 600-Seiten-Werk „From Hell“ den Schlüssel für das Medium vorgelegt haben. Einerseits nämlich geht es hier um Jack the Ripper und seine Zeit und andererseits auch darum, zu demonstrieren, was ein Comic kann.

Die beiden Männer sind verbunden in diesem kalten September durch das gemeinsame Wissen, das sie vertuscht haben, wofür sie sich bezahlen ließen. Das gibt den melancholischen Noir-Touch der Erzählung vor. Alles ist eine lange Rückblende, voller Abschweifungen und Doppelbödigkeiten, ein historisches Panorama, eine Beichte, eine psychoanalytische Fallstudie.

Sie beginnt im Juli 1884 in London; und sie begleitet den Lebensweg von William, dessen Vater an Cholera stirbt: Er bringt es zum Arzt; die alte Gesellschaft beginnt sich aufzulösen, seltsame Gegenwelten und informelle Machtbeziehungen auszubilden. Ist sein medizinischer Forscherdrang nichts anderes als die Sublimierung einer schon im Kind ausgebildeten sadistisch-mörderischen Ader? Die dunkle Seite der Lieblosigkeit und der Unterdrückung?

Seite aus „From Hell“ (Cross Cult)

Dr. William Gull wird in die Freimaurerloge aufgenommen, wo er James Hinton kennenlernt. Wege, die sich hier kreuzen, führen auch anderswo wieder zusammen. Eine der verrückten Frauen im Hospital verwechselt ihn mit ihrem Mann „Jack“; nachdem er den Taugenichts von Sohn der Königin Victoria gerettet hat, wird er zum außerordentlichen Leibarzt der königlichen Familie. Bei einem Herzanfall hat William die Vision des dreigesichtigen Gottes der Freimaurer, danach bittet ihn Victoria, sich um den Skandal von „Prinz Eddie“ zu kümmern, der ein Ladenmädchen geheiratet und mit ihr ein Kind hat. Die Frau wird entführt (sie weiß nichts vom königlichen Geblüt ihres Mannes) und in dem Hospital einer erzwungen Operation unterzogen. Und dann beginnt die Serie der Morde.

„From Hell“ ist kein „Wer-tat-es?“. Wir wissen von Anfang an, wer der Mörder ist, die Lösung des Falles wird streng wissenschaftlich aus dem Stand der JtR-Forschung entwickelt, und im Anhang erklärt Alan Moore nicht nur, woher seine Informationen stammen, sondern auch wann und warum er sich im Dienste der Erzählung die eine oder andere Freiheit gestattet hat. Der Trick ist, dass der Aspekt des Nachverfolgens die volle Aufmerksamkeit des Lesers erfordert, Straßenschilder, Namen, beiläufige Details, diese Dinge muss man wie in einem klassischen Detektivroman ins Spiel mit einbeziehen, obwohl einen die Terroranteile der Geschichte, die bildlichen Abschweifungen vielleicht mehr faszinieren.

Der zweite Trick besteht darin, das Augenmerk immer mehr auf eine zweite Aufklärung des Falles Jack the Ripper zu lenken. Von der Frage, wer es war und wie er es gemacht hat, auf die Frage, was sich in den Whitechappel-Morden ausdrückt. Denn das ist das eigentliche Wesen der Blood Poetry: Es geht nicht nur darum, die bizarre Schönheit der Gewalt und ihre symbolische Ästhetik zu zeigen, es geht vor allem darum, in Bluttaten das Wesen einer Gesellschaft und ihrer sexuellen Ökonomie im Kunstwerk auszudrücken. Im schlimmsten Fall ist Blood Poetry von ihrem sadistischen Gegenstand angesteckt, bedient wohl, was Sigmund Freud den „Todestrieb“ nannte, die Sehnsucht danach, den Körper als „Ding“ zu behandeln, ihn in Teile zu zerlegen und anschließend neu zu arrangieren.

Im besten Fall aber ist Blood Poetry, die nicht an drastischen Details spart, auch eine Art heftige Trauerarbeit. Sie beschreibt nicht nur den Kurzschluss zwischen dem Über-Ich und dem Es (die statuarische Queen Victoria, deren Interessen dieselben sind wie die eines sadistischen Frauenschlitzers), sondern auch den zivilisatorischen Bruch. Man kann nicht mehr glauben an die Ordnungen und Werte; das Ich, das sich in der Blood Poetry gegen das Grauen rettet, kann nur anarchistisch sein.

Seite aus „From Hell“ (Cross Cult)

Es gibt in „From Hell“ einige wundervolle Effekte. Zum Beispiel wenn in einem Panel die Protagonisten noch so weit entfernt sind, dass der Text in ihren Sprechblasen so klein und undeutlich ist, dass man ihn nicht entziffern kann, eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Darstellung undeutlicher Stimmen in der Ferne. Parallelmontagen (wie die vom Gespräch über die Schulbildung des 16-jährigen jungen William, den die Witwe nur in einer Dorfschule ausbilden lassen kann, während der selber blutig eine Ratte „seziert“). Dass William und Susan gerade verheiratet sind, erkennt man daran, dass überall Reis in den Kleidern steckt (und Susan das Licht löschen will, bevor sie zu Bett gehen). Einmal bleibt über zwei Seiten die „Einstellung“ des Panels immer gleich, während ganz verschiedene Personen in der Szene miteinander interagieren und eine geraume Zeit vergeht. Ein andermal wechselt die Gestaltung zwischen Feder und Pinsel, wie zwischen Kaltnadelradierungen und (schwarzweißen) Aquarellen, um verschiedene Erzählebenen voneinander abzusetzen, Eastend und Westend als heftige Kontraste des Alltagslebens. Da ist Königin Victoria, die sich gleichsam im eigenen Bild nur unwesentlich bewegt, ein gespenstisches Zitat, ein lebendiges Bild im Bild. Es ist eine Anthologie der postklassischen Comic-Ästhetik, nichts, was man nicht schon anderswo gesehen hätte, aber so perfekt der Erzählabsicht zugeordnet, dass sie nicht mehr „experimentell“ erscheint. Dieser gewaltige „Brocken“ der Comic-Literatur kann mit seinen Mitteln ganz unprätentiös umgehen.

Außerdem ist die Geschichte randvoll mit Zitaten, Anspielungen und Doppelbödigkeiten. Und ist es nicht seltsam, dass man „Stadt“ besser zeichnen als fotografieren kann? Dabei ist, wie in einem Manga, oft die Genauigkeit der Architekturstudien zu den eher skizzenhaften Ausformungen der Geschehnisse in Beziehung gesetzt, und es gibt den Mut, die Dinge und Personen hier und da freizustellen, Bilder nicht um jeden Preis auszufüllen.

Seite aus „From Hell“ (Cross Cult)

Das Grundthema, das uns im Noir und in der Blood Poetry von „From Hell“ in verschiedenen Richtungen hin entwickelt wird, ist das Ineinander der alten Mythen und der Moderne. Und dann ist es eine Art mapping des Falles, ein Versuch, eine andere Art Ordnung, auch jenseits der zeitlichen Vernunft, zu finden. „Karten haben KRAFT, liefern, richtig ausgelegt, reiches Wissen jenseits aller Vorstellung“, sagt Sir William zu Netley, dem Kutscher und Mordhelfer, während sie eine Reise durch die Stadt unternehmen, auf den Spuren der alten (freimaurerischen) Götter – nicht umsonst ist William Blake ein spiritueller Bezugspunkt, einer, der zugleich von der Befreiung der Menschen träumte, von der Gleichheit der Geschlechter, Rassen und Generationen, und der der Moderne zutiefst misstraute. Es ist nur noch der Wahn, der die Moderne und den Mythos miteinander verbindet.

Sir William, so scheint es einmal, ist auf den Spuren einer matriarchalen Götterwelt, er spricht von der Notwendigkeit der „Sozialmagie“ (und ist damit verteufelt nahe an gewissen postmodernen Denkern). Die sechs Londoner Kirchen des Architekten Nicolas Hawksmoor, in denen sich mit barocken Scheinarchitekturen und arithmetischen Spielereien eine architektonische Geheimschrift in der Stadt zu realisieren scheint, ist ein weiteres Element dieses mapping.

Alan Moore hat ein Gespür für Zeit und Rhythmus; nicht umsonst hat er bei dem Musikmagazin Sounds im England der 1970er-Jahre begonnen. Nachdem er sich vom Zeichnen ganz aufs Schreiben und von England nach den USA orientiert hatte, gehörte er zu den großen Erneuerern des Superhelden-Comics, vor allem mit „Watchmen“, und in den 1990ern war er einer der Wanderer zwischen den Welten von Comic und Graphic Novel. Noch einmal Furore machte er mit der zusammen mit seiner Ehefrau geschaffenen pornografischen Graphic Novel „Lost Girls“. Vielleicht muss man dass zusammen sehen: Wenn „From Hell“ in seiner Blood Poetry ein längerer Versuch über den Todestrieb ist, dann ist „Lost Girls“ ein längerer Versuch über die Libido. Und der pornografische Comic (der eben nicht notwendig sexistisch sein muss) eine Antwort auf den Wahn, den „From Hell“ beschreibt, die Sozialmagie der „männlichen Kontrolle, die inmitten des Aufruhrs dieser Tage schwächer wird“.

Seite aus „From Hell“ (Cross Cult)

Auch der Zeichner Eddie Campbell begann seine Arbeit bei Sounds und wurde später mit seiner „Bachus“-Serie bekannt. Deutlich ist der Einfluss von Hugo Pratt und seiner „Corto Maltese“-Welt. Panels, die nicht wie Umschnitte, sondern wie Kamerafahrten funktionieren (und schon von dieser Technik her der grafischen Erzählung Zeit übertragen) gehören zu seinen Markenzeichen wie das souveräne Spiel mit Bild-Zitaten und Darstellungsstilen.

Der zentrale Gedanke in „From Hell“ liegt vermutlich in Alan Moores Vorstellung, dass die 1880er-Jahre in London die „Essenz des 20. Jahrhunderts“ verkörpern und dass, damit verbunden, die Whitechappel-Morde die Essenz der 1880er-Jahre sind. Dazu gehört das Ineinander rationaler und irrationaler Kräfte ebenso wie das Ineinander verschiedener Bildebenen, das Empire und sein Verfall, die Freimaurer und der Antisemitismus, die Industrialisierung und das soziale Elend. Dazu gehört auch die „Erfindung“ des Revolverjournalismus, den Alan Moore ganz explizit in Beziehung zu den publizistischen Ungeheuerlichkeiten des Mr. Murdoch und der Sun von heute setzt: Jack the Ripper ist eine Erfindung eines Journalisten mit dem schönen Namen Best.

Es ist auch die Zeit des poetischen Sozialisten William Morris, der sein Gedicht „Love is Enough“ in einer Versammlungsstube des International Workers Educational Club vorträgt, während in finsterer Gasse die Prostituierte Liz Stride ermordet wird. Und es ist die Zeit eines neuen, rationalisierten Okkultismus, in der Freimaurer wiederum von bayerischen Illuminaten unterwandert werden. Vom Grauen der angehenden Moderne kündet die Verdunkelung.

Nach den verschiedenen Revolutionen der amerikanischen Superhelden-Comics, der Manga-Überschwemmung und einigen Versuchen, die frankobelgische Tradition der „ligne claire“ wiederzubeleben, gibt es heute Erwachsenen-Kunst-Comics, die ihren Anspruch besonders betonen müssen und eher auf eine Befreiung des Bildes von der Narration setzen (Art Spiegelmans „Breakdowns“ als Beispiel).

Seite aus „From Hell“ (Cross Cult)

Eine andere Linie versucht die Zeichnung in den Dienst des epischen Erzählens zu stellen, in eine politisch-journalistische Form wie „Persepolis“ oder „Maus“. Bemerkenswert auch Peter van Dongen, der jüngst in „Rampokan“ die Brüche und Katastrophen der Kolonialmacht Niederlande in Indonesien und die Unabhängigkeitskämpfe von 1946 und 1949 darstellte und dabei auch seine Biografie einarbeitete.

Die Bezugspunkte der erfolgreichen Graphic Novels sind Autobiografie und Politik; Comics, die sich nicht direkt auf diese Fixpunkte beziehen, haben es schwer, sogar wenn sie von anerkannten Künstlern stammen. „From Hell“ bildet hier keine Ausnahme. Das Buch wird zwar als Meisterwerk bezeichnet, doch überschreitet es kaum die Kultur der „Kenner und Liebhaber“ der grafischen Erzählungskunst, vulgo der Comic-Leser. Was schade ist.

Dabei ist diese Graphic Novel genau genommen ein Pendant des „bürgerlichen Romans“ des 19. Jahrhunderts, der sich am Helden orientiert und zugleich in ein gesellschaftliches Panorama und in die seelischen Tiefen bewegen kann. Vom klassischen Helden-Comic zur Graphic Novel führt also letztlich genau derselbe Weg wie in der Literatur der Weg zum realistischen und schließlich modernen Roman (einschließlich eines „unzuverlässigen Erzählers“) und zur postmodern ironischen Rettung des Erzählens (das Erzählen ist eigentlich unmöglich geworden, macht aber zu viel Spaß, um es einfach sein zu lassen).

Die Graphic Novel hat also nicht mehr den so radikal veräußerten Helden, sondern soziale und seelische Landschaften zum Thema und entwickelt so viel Reflexion und Selbstreflexion, dass sie droht, für den Unkundigen so unlesbar zu werden wie moderne Literatur für Fernsehjunkies.

Umgekehrt kann man sich ja auch den modernen Roman gar nicht vorstellen ohne den Einfluss der neuen Medien, des Films, der Magazine und nicht zuletzt: der Comics. So schließt sich in einer Arbeit wie „From Hell“ der Kreis: Der freche grafische Angriff der Popkultur auf die bildende Kunst und den Roman (die Selbstvergewisserung des Bürgertums) ist selbst zur komplexen und auratischen Kunst geworden.

Und Moore und Campbell haben es riskiert, an einen Entstehungsort dieser bürgerlichen Kunst und zugleich der Populärkultur und der urban legends zurückzukehren. Als die Welt so rapid zerfiel, dass man sie nur noch in Romanen aufheben konnte. „From Hell“ ist nicht nur eine trotzige Einforderung von Zeit und Sorgfalt in der Lektüre, nicht obwohl, sondern weil es sich um frivole Verbindungen von Text und Bild handelt. Es ist auch das richtige Werk zur Zeit. Denn London 1880 ist verflixt nahe dran am Krisenkapitalismus des Jahres 2009.

Dieser Text erschien zuerst am 16.03.2009 in der taz.

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien im Bertz+Fischer Verlag Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur.