FREE COUNTRY – Rückkehr in Neil Gaimans Freies Land

Mitte der 90er war DCs erwachsenes Vertigo-Imprint eine wichtige Plattform der amerikanischen Comic-Szene – der Ort, wo man die guten, ungewöhnlichen, mutigen, fantastischen, erwachsenen Sachen (mit damals noch stark britischem Einschlag) bekam. Neil Gaiman, in den letzten Jahren hauptsächlich als Prosa-Autor gefeiert, war einer der größten Vertigo-Autoren und kreierte dort u. a. den Fantasy-Klassiker „Sandman“ über die Ewigen sowie „Die Bücher der Magie“ über den Harry-Potter-Vorläufer Tim Hunter.

1993 kamen die Verantwortlichen bei Vertigo auf die Idee, erstmals in der Historie des Labels ein Crossover auf die Beine zu stellen – also eine Story zu inszenieren, die mehrere laufende Vertigo-Heftserien mit einbeziehen sollte: „The Children’s Crusade“. Gaiman und Zeichner Chris Bachalo („Death“) lieferten das lange, prächtige Eröffnungskapitel um die aus „Sandman“ bekannten Dead Boy Detectives, zwei junge Geister-Detektive, deren erster Fall das Verschwinden vieler kleiner Kinder behandelt. Diese werden ins Freie Land gebracht, eine magische Dimension, wo alle Kinder glücklich und gesund sind, die jedoch nicht für so viele Bewohner ausgelegt ist und zudem von einer finsteren, auf die historischen Kinderkreuzzüge und den Rattenfänger-Mythos zurückgehende Macht infiltriert wurde.

Nach diesem ersten Kapitel kamen im englischen Original Annuals – zu den monatlichen Heften einer Serie erscheinende Sonderhefte – innerhalb von Vertigo-Serien wie „Animal Man“, „Swamp Thing“ oder „Black Orchid“, in denen die auf die Kinder-Figuren dieser Titel zugeschnittene Crossover-Handlung weitergesponnen werden sollte. So war es zumindest gedacht, doch das mit den Annuals klappte nicht so recht, da die Serien zu sehr mit ihren eigenen aktuellen Storylines beschäftigt waren. Das schloss 20 Jahre lang auch einen Sammelband von „The Children’s Crusade“ aus – kein Leser hätte die vom jeweiligen Serien-Geschehen losgelösten Annuals verstanden (auf Deutsch schweißte der Tilsner Verlag damals die Rahmenhandlung und das „Arcana“-Annual zu „Die Bücher der Magie: Der Kinderkreuzzug“ zusammen – eine Notlösung). Schließlich lieferten Gaiman, die Co-Autoren Alisa Kwitney und Jamie Delano sowie Zeichner Peter Snejbjerg („Light Brigade“, „Die Orks“) das Abschlusskapitel. Versucht, verspielt, vergessen.

Jetzt haben der aktuellste „Dead Boy Detectives“-Autor Toby Litt und „The Unwritten“-Zeichner Peter Gross ein brandneues mittleres Kapitel ersonnen und auch zum Finale ein paar neue Seiten beigesteuert. Auf diese Weise wurden eine ohne die Annuals funktionierende, zusammenhängende Story und in der Folge ein Sammelband möglich gemacht, der Ende September unter dem Titel „Free Country: A Tale of the Children’s Crusade“ als US-Hardcover mit einem Schutzumschlag-Motiv von Mark Buckingham veröffentlicht worden ist.

Natürlich ist das unterm Strich ein etwas behelfsmäßiger Patchwork-Comic, und so gut wie Gaiman auf der Höhe seines Panel-Schaffens vor 20 Jahren kann niemand sein (dem überhasteten, überfrachteten Ende, das den Problemen mit den Annuals geschuldet war, hilft überdies keine erzählerische Kosmetik dieser Welt) – allerdings ist das schon eine sehr interessante Werkgeschichte, ein äußerst ungewöhnliches Prozedere. Und allein Gaimans und Bachalos üppiges Eröffnungs-Kapitel ist den Sammelband allemal wert.

Neil Gaiman u.a.: Free Country: A Tale of The Children’s Crusade. DC Vertigo, Burbank 2015. 200 Seiten, $ 24,99, Sprache: Englisch