„Stern“ – Ein Krimi im Westerngewand

309132-20151221150736Morrison, ein kleines Kaff in Kansas, im Jahr 1882. In Jenna’s Saloon, dem örtlichen Freudenhaus, liegt ein Toter. Charles Bening hieß er, ein brutaler Säufer vor dem Herrn, der sich im Bett der Prostituierten Mindy wohl übernahm und das Zeitliche segnete. Benings Leiche wird dem Totengräber Elijah Stern übergeben, der, wie das bei Undertakern wohl üblich war, nicht gerade beliebt ist in der Stadt. Und der nicht schlecht staunt, als er im Auftrag von Benings Witwe, einer Aktivistin der Anti-Alkohol-Bewegung, den Leichnam seziert und dabei entdeckt, dass Bening offensichtlich ermordet wurde. Der Fall scheint klar, als Täterin wird Mindy festgenommen, die prompt ein Geständnis ablegt. Nach Benings Beerdigung, der neben Stern nur noch dessen alter Saufkumpel Lenny beiwohnt, taucht ein Fremder in der Stadt auf: James Colquitt, der sich modisch offenbar an „Buffalo Bill“ Cody orientiert und der der Schwager des Verblichenen ist. Nach einem feucht-fröhlichen Abend im Saloon mit Stern und Lenny wird auch er ermordet aufgefunden. Und wieder scheint die Sachlage klar. Als Täter kommt nur Lenny in Frage, denn der hatte zuvor mit Colquitt einen handfesten Streit ausgefochten. Doch sind Stern die Umstände der beiden Morde suspekt, zumal sich die potenziellen Täter jeweils nicht an ihre angebliche Tat erinnern können, weil sie entweder im Drogenrausch (Mindy) oder stockbesoffen (Lenny) waren…

Das Bruderpaar Frédéric und Julien Maffre serviert uns hier einen veritablen Krimi im Westerngewand. Hauptfigur und – zumindest anfangs – ungelernter Ermittler wider Willen ist der Totengräber Stern, der seit drei Jahren in Morrison lebt – besser gesagt, neben dem Friedhof. Der wortkarge Stern, ein hagerer Typ mit markantem Kopf und ungewöhnlicher Frisur, der gemäß seiner Zunft vornehmlich in Schwarz auftritt, ist ein Außenseiter, der ob seines Jobs geduldet wird, aber auch genau deshalb nicht gerne gesehen ist. Vor 19 Jahren wurde er als Junge Zeuge eines Massakers von sogenannten Bushwackers, einer inoffiziellen Armee von Südstaatlern, die in die Stadt Lawrence einfielen und 200 Zivilisten töteten. Ein Kindheitstrauma, das – soviel sei verraten – noch eine wichtige Rolle spielen wird. Stern ist clever, literarisch interessiert – er liest Moby Dick und schätzt Victor Hugo („Ein französischer Autor, eher unbekannt.“). Schon beim ersten Mord kommen ihm Zweifel, dass Mindy die Täterin ist. Und beim zweiten findet er eindeutige Spuren, die Lenny als Mörder ausschließen. Nur steht er mit seiner Meinung vorerst alleine da, der Sherriff will davon nichts wissen.

Die Geschichte nimmt sich viel Zeit. Handlung und Personen entwickeln sich nach und nach, beinahe bedächtig, aber stets fokussiert. Auch hier greift das Krimi-Schema – Action oder Wild-West-Elemente treten in den Hintergrund oder dienen allenfalls der Sache. Viele Charaktere überraschen und haben eine ungewöhnliche Vergangenheit, wodurch sich Motive auftun und vermeintliche Zusammenhänge hergestellt werden. Sterns kennen wir bereits. Außerdem ist er literarisch bewandert – die Unterhaltung über Shakespeare im Saloon ist dann auch reichlich kurios, was den Beteiligten durchaus bewusst ist. Dann ist da noch Lenny, gescheiterte Existenz, mittelloser Säufer und Benings einziger Freund. Lenny, so erfahren wir, war einst ein talentierter Pianist, bis der Sezessionskrieg seiner Karriere ein vorzeitiges Ende machte. Und Bening, ein Südstaatler, hat im Krieg für den Norden gekämpft. Warum? Der Schlüssel zur Lösung des Falls könnte in der Vergangenheit liegen, die Stern im Finale (der Fall wird aufgeklärt, der Band ist in sich abgeschlossen) überraschend und anders als gedacht einholt.

Wieder ein Western im Splitter Verlag, in dem ein Totengräber im Mittelpunkt steht, aber während „Undertaker“ von Dorison und Meyer genretypisch, actionreich, leicht überzogen und verschmitzt in der Tradition eines Blueberry daherkommt (auch optisch), präsentiert sich der Auftakt von „Stern“ als das genaue Gegenteil. Der Titel des Bandes („Der Totengräber, der Tramp und der Mörder“) kann dann allenfalls als Anspielung auf den Sergio Leone Klassiker „The Good, the Bad and the Ugly“ (dt. „Zwei glorreiche Halunken“) verstanden werden. Denn Western-Motive und Klischees sind zwar vorhanden, aber nicht tragend. Der Zeichenstil ist ganz eigen, spitz und eckig, nicht exakt realistisch, steckt aber voller Liebe zum Detail (beispielsweise die Saloon-Schlägerei im Hintergrund bei besagter literarischer Unterhaltung), die Farbgebung ist beinahe dezent und sanft. Stern ragt stets hervor – er ist der Einzige in schwarzer Kluft, Colquitt tritt im Gegensatz dazu ganz in Weiß auf. Ein cleverer, spannender Serienauftakt, der sowohl Krimi-Freunde als auch Westernfans voll befriedigen dürfte.

Frédéric Maffre, Julien Maffre: Stern, Band 1: Der Totengräber, der Tramp und der Mörder. Splitter Verlag, Bielefeld 2016. 64 Seiten, 15,80 Euro

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