Die Mutter aller Epen – „Gilgamesch“

König Gilgamesch von Uruk in Mesopotamien. Gab es ihn überhaupt? Als historische Gestalt ist er nicht verbürgt, sollte er je existiert haben – es muss dann wohl irgendwann Anfang des 3. Jahrtausends v. Chr. gewesen sein – verlieren sich die Belege für seine Existenz im Dunkel und im Sand der Geschichte. Trotzdem kennt man bis heute seinen Namen, denn seine Heldentaten und Abenteuer wurden schon vor Jahrtausenden aufgeschrieben, in einem der ältesten heute noch bekannten literarischen Werke der Menschheitsgeschichte: dem Gilgamesch-Epos, das auf elf bzw. zwölf teilweise fragmentarisch erhaltenen Tontafeln (die zwölfte wurde wahrscheinlich erst später hinzugefügt) die Zeiten und Epochen überdauerte, ehe es im 19. Jahrhundert (unserer Zeitrechnung) wiederentdeckt wurde.

Und darum geht’s: Gilgamesch, mächtiger Gottkönig von Uruk, herrscht streng über sein Volk, weshalb die Götter, um ihn zu bändigen, ihm sozusagen als „Gegenpol“ aus Lehm einen ebenbürtigen Gefährten erschaffen (Jahrtausende später würde man solch ein Wesen einen Golem nennen, aber das ist nur ein Motiv des Epos, das bis in unsere Zeit hinein Verwendung findet). Das Wesen namens Enkidu wird immer menschlicher (mit Hilfe einer Dirne) und schließlich zum Freund Gilgameschs und von dessen Mutter als Sohn angenommen. Gemeinsam bestehen die beiden diverse Abenteuer. In Libanon kämpfen sie gegen Chumbawa, den Hüter des Zedernwaldes. Vor ihrer Stadt Uruk besiegen sie den gigantischen Himmelsstier, der von der Göttin Ischtar geschickt wurde, welche sich dafür bitter rächt. Aber auch nach dem Tod Enkidus geht die Geschichte um Gilgamesch weiter. Der unsterbliche König Utnapischtim von Schuruppak berichtet ihm von einer Sintflut, die die Götter herbeiriefen. Schließlich trifft der inzwischen als Herrscher geläuterte Gilgamesch am Ende den (eigentlich toten) Enkidu wieder.

Jens Harder (Text und Zeichnungen): „Gilgamesch“.
Carlen, Hamburg 2017. 144 Seiten. 24,99 Euro

Machen wir uns nichts vor: Jens Harder („Leviathan“, „Alpha“, „Beta“) serviert hier schwere, anspruchsvolle Kost. Und das ganz bewusst. Denn er adaptiert das Epos nicht einfach, indem er es beispielsweise modernisiert und „mundgerecht“ aufbereitet präsentiert – was Sprache und Form betrifft. Nein, er schafft hier etwas ganz Eigenes, stilistisch Perfektes, indem er sich für seine Version an den heute noch erhaltenen Darstellungen aus der Zeit, in der das Epos spielt, orientiert und präsentiert die Geschichte in einer Form, die wir aus den zeitgenössischen Wandreliefs kennen, auch farblich, wie in Stein gemeißelt. Quasi in hartem 2D, als Frontalsicht. Als sei seine Adaption in der damaligen Zeit entstanden. Auch textlich legt er in erster Linie eine alte deutsche Übersetzung zugrunde (inklusive vorhandener Lücken aufgrund des fragmentarischen Materials) und übernimmt damit die altertümliche Sprache und Ausdrucksweise. Das fordert, ist nicht einfach, strahlt aber eine ungemeine Faszination aus und zieht die damit eng abgesteckte Form gnadenlos bis zum Ende durch.

Gilgamesch als Mutter aller Epen und Mythen. Als Blaupause für die berühmten Heldensagen der kommenden Jahrtausende, die auch heute noch gilt. Beispiel: Der König, der auch mit Göttern streitet, kämpft als Superheld des Zweistromlandes gemeinsam mit seinem „Sidekick“ Enkidu (der stirbt und dann doch wieder lebt – auch das ganz genretypisch für Superhelden) erfolgreich gegen schier übermenschliche Gegner und allerlei Kroppzeug. Und die älteste bekannte Darstellung der Sintflut, die Gilgamesch berichtet und die in verschiedenen antiken Kulturen existiert, wurde später erfolgreich für das Alte Testament „adaptiert“, um es noch harmlos auszudrücken. Jens Harder lässt sein neuestes Werk (das sich gegen „Alpha“ und „Beta“ richtig dünn ausnimmt) nicht unkommentiert stehen. Ausführlich berichtet er u. a. über dessen Entstehung, über die Wahl des Stils und der Sprache. Und über weitere Parallelen, die er zur Gegenwart zieht. Diverse Abbildungen, Skizzen und ein Glossar mit Personen, Orten und Zeitlinie runden den Band ab, der ganz massiv der Kategorie „mal was anderes“ zuzuordnen ist und der eingehend beweist, wie unterschiedlich die Ausdrucksformen im Medium Comic sein können.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.