Es gibt nicht mehr allzu viele wichtige Comic-Künstler aus Frankreich, die bei uns nahezu unbekannt sind. Einer von ihnen ist Edmond Baudoin. Im Jahr 1943 in Nizza geboren, verließ er früh die Schule und arbeitete bis Anfang 30 als Buchhalter in einem Hotel. Dann beschloss er, endlich einen Kindheitstraum zu verwirklichen: Er wurde Zeichner – ohne irgendeine Ausbildung genossen zu haben. Sein erstes Album kam 1981 heraus. Baudoins lockerer, expressiver Tuschestil, der auf Vorzeichnungen verzichtet, hat ihn in der französischen Szene zu einer Kultfigur gemacht; beim Festival in Angoulême wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Von den rund 50 Arbeiten, die Baudoin publiziert hat, gab es bislang gerade drei auf Deutsch: das Hauptwerk „Die Reise“ und zwei Adaptationen der Kriminalromane von Fred Vargas. Mit „Der Nabel der Welt“ ist jetzt eine Künstlergeschichte erschienen. Einem ungefähr 90-jährigen Maler steht eine hübsche, junge Frau Modell. Leinwand um Leinwand füllt der Alte mit Aktbildern, und so besessen, wie er malt, redet er auch. Angestachelt von den neugierigen Nachfragen seiner Zuhörerin, erzählt er von den Frauen, die sein Leben geprägt haben: von Julia, seiner Jugendliebe aus dem Dorf in der Provence, von der komplizierten Marion und von Hélène, der begabten Zeichnerin, mit der er schließlich zwei Kinder zeugt.
Dabei bleibt es allerdings nicht. Die Ausführungen des Alten streben immer wieder ins Grundsätzliche. Um das Verhältnis von Männern und Frauen geht es ihm oder vielmehr: um das Männliche und das Weibliche an sich. „Männer und Frauen sind nicht vergleichbar“, erklärt der Maler apodiktisch. Während die einen gebären können, müssen die anderen ständig miteinander in Konkurrenz treten, was dann schnell zu Mord und Totschlag führe.
Auch eine echte Zweisamkeit erscheint unmöglich: „Wenn du als Frau sagst: ‚Ich liebe dich‘, willst du damit das Leben ein Stück schöner machen. Wenn ein Mann das sagt, greift er damit nach den Sternen.“ Der Maler ist kein Macho. Patriarchalische Unterdrückung ist ihm zuwider, und die Emanzipation der Frauen begrüßt er ausdrücklich. Dass er eine grundsätzliche, unaufhebbare Verschiedenheit der Geschlechter behauptet und bei deren Beschreibung zu maximalen Verallgemeinerungen greift – das ist dennoch befremdlich.
Nun könnte man einwenden, dass die Haltung der Figur ja nicht mit der ihres Schöpfers identisch sein muss. Aber genau dies ist der Fall. „Der Nabel der Welt“ hat offenkundig autobiografische Momente, und an einer der Stellen, wo das scheinbar realistische Setting sich ins Fantastisch-Symbolische auflöst, sagt der Maler seinem Modell unmissverständlich: „Ich bin eine Projektion des Autors als alter Mann.“
Davon abgesehen, ist „Der Nabel der Welt“ ein Comic, der herrlich anzusehen ist. Baudoin ist als Schwarz-Weiß-Zeichner berühmt geworden, aber er versteht es auch, mit Farben umzugehen. Hier leuchten kräftig verschiedene Rot-, Blau- und Gelbtöne; manche Bilder erinnern an sakrale Glasmalerei; manchmal arbeitet Baudoin mit mehr oder minder übermalten Fotos.
Ausdrucksstark ist auch die Mimik der Figuren. In einem Panel am Anfang guckt der Maler vital und konzentriert hinter seiner Staffelei hervor, während die junge Frau zu ihm sagt: „Sie sind aber ziemlich alt.“ Das nächste Panel ist ein Close-up: Unvermittelt ist das Gesicht des Angesprochenen nun grau und traurig; es gleicht einem verwitterten Stein. So undifferenziert der philosophische Diskurs dieser Graphic Novel ist, so reich und human sind ihre Bilder.
Edmond Baudoin (Text und Zeichnungen): Der Nabel der Welt. Aus dem Französischen von Resel Rebiersch. Schreiber & Leser Verlag, Hamburg 2013. 104 Seiten, 22,80 Euro
Dieser Text erschien zuerst in der taz.