Ausgerechnet Julie muss in der Nähe sein, als ein mysteriöses Flüssigmetall nach einer Explosion auf die Erne niederregnet. Ist sie nicht gestraft genug damit, dass ihr Mann sich scheiden lassen will und sie chronisch so pleite ist, dass sie nicht mal genug Futter für ihren Hund hat? Nein, gerade mit ihr muss sich diese geheimnisvolle Legierung verbinden, eine symbiotische Beziehung eingehen und ihr so nicht nur ein extravagant schillerndes Bustier verleihen, sondern sie auch binnen weniger Stunden zur Staatsfeindin Nummer eins machen. Glücklicher Weise ist sie nicht die einzige, die von diesem geheimnisvollen Ereignis betroffen ist und schon bald formiert sich eine kleine, aber außerordentlich entschlossene Gemeinschaft, die der Verschwörung und ihren Drahtziehern auf den Grund gehen will…
Comics mit technologischen Superanzügen gibt es zuhauf. Comics in denen die Helden dämonischen Zerrbildern ihrer selbst begegnen, mit ähnlichen Fähigkeiten. Auch, dass diese Widersacher deutlich weniger zimperlich mit ihren Mitmenschen umgehen und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, inklusive zerrissener Leiber und gesprengter Köpfe wird routinierte Comicleser nicht sonderlich überraschen oder verschrecken. Wie aber wird aus dieser Steilvorlage für gepflegten, hirnlosen Unterhaltungstrash am Ende Kunst? Die Antwort auf diese Frage ist ein Name: Terry Moore.
Nach seiner international von Kritikern und Lesern gefeierten, tragikomischen Comic-Soap „Strangers in Paradise“ und der poetisch-giftigen Mystery-Reihe „Rachel Rising“ erscheint nun im Hamburger Verlag Schreiber & Leser mit „Echo“ die dritte, große Moore-Reihe in deutscher Übersetzung. Mit seinem unnachahmlichem Talent für die zartesten Nuancen im Miteinander seiner Charaktere und mit einem treffsicherem Gespür für Humor und Dramatik bespielt der Amerikaner erneut völlig neues Genre-Terrain. Dabei gelangen weder die charmant zerstreute Heldin Julie, noch ihre olfaktorisch überbegabte Geheimdienst-Kontrahentin Ivy jemals in die komplexen Sphären der illustren Charakter-Riege aus „Strangers in Paradise“. Auch ergeht der Künstler sich nicht halb so opulent und wahnwitzig in überproportional detaillierten Splash-Pages wie zuvor in „Rachel Rising“. Trotzdem merkt man „Echo“ jederzeit die warme Klasse und Eleganz an, die seine Werke so einzigartig macht.
Kein noch so unwichtig scheinender Nebendarsteller in Moores nuklearem Klagegesang wird auf einen einzigen Charakterzug reduziert. Jede Figur in „Echo“ ist ein Mensch mit Ecken, Kanten und einer stets fühlbaren Biographie, selbst wenn die Handlung nur ein winziges Stück davon preisgibt. Das sorgt allem genretypischem, pseudowissenschaftlichem Unsinn zum Trotz für eine unvergleichliche Glaubwürdigkeit, die den zahlreichen, bedrohlichen Atomkraft-Zitaten von Wissenschaftlern wie Einstein oder Oppenheimer im Kontext eine bedrohliche Durchschlagskraft verleiht.
Trotz all seiner thematischen Schwere, trotz der zahlreichen Toten, trotz schwersten menschlichen Schicksalsschlägen und einer wirklich pessimistischen Perspektive auf einen ausgesprochen zwiespältigen Zweig der modernen Wissenschaft versprüht „Echo“ unglaublich viel Witz und Wärme. Denn jeder mit Schrotflinten ballernde Biker, jeder angekettete Pavian und selbst die gepiercete Whitetrash-Kassiererin aus dem Diner haben hier eine Tiefe, von der selbst die Hauptfiguren so mancher Mainstream-Comicreihe nur träumen können. Wer braucht da schon noch überraschende Wendungen oder einen bahnbrechend innovativen Plot?
Terry Moore: Echo 1 – Atomic Dreams. Schreiber & Leser, Hamburg 2017. Softcover. 216 Seiten, 18,95 Euro.