Traumadeutung – „Vaterland“

Eigentlich ein recht alltägliches Szenario: Ein verheiratetes Paar trennt sich, die Frau sucht sich schleunigst eine neue Bleibe und nimmt die Kinder mit. Der Mann zeigt sich reumütig, sucht sie regelmäßig auf, kauft, wahrscheinlich zum ersten Mal, Blumen, wähnt sich geläutert. Ein neuer Versuch wird gewagt und schon nach wenigen Tagen ist die einstige familiäre Tristesse wieder zurück, schlimmer als zuvor. Das wäre weder außergewöhnlich noch sonderlich erwähnenswert, ahnte man als Leser*in nicht bereits, dass das Verhältnis von weitaus Schlimmerem als nur gegenseitiger Entfremdung beherrscht ist. Jede Nacht schiebt die Frau, Sally Bunjevac, einen massiven Kleiderschrank vor das Schlafzimmerfenster, um sich und ihre drei Kinder, die Töchter Sarah und Nina und den Sohn Petey, vor etwaigen Bombenanschlägen zu schützen, und dies nicht etwa in einem Bürgerkriegsgebiet, sondern inmitten einer ruhigen kanadischen Arbeitersiedlung im Jahr 1975.

Sally flieht vor ihrem Ehemann Peter Bunjevac, weil er ein antikommunistischer serbisch-nationalistischer Terrorist ist, der aus seinem politischen Exil in Kanada als Teil der Gruppe „Freedom of the Serbian Fatherland“ Attentate auf jugoslawische Einrichtungen in Nordamerika verübt, und sie ist die Mutter der Autorin und Zeichnerin dieses Comics, Nina Bunjevac. 1975 wagt Sally noch einmal den endgültigen Bruch und kehrt auf einer vorgetäuschten Urlaubreise mit den beiden Töchtern, aber ohne ihren Sohn zu ihrer Familie nach Zemun in Jugoslawien zurück.

Nina Bunjevac (Autorin und Zeichnerin): „Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada“.
Aus dem Englischen von Axel Halling. Avant-Verlag, Berlin 2015. 156 Seiten. 24,95 Euro

Nina Bunjevac, 1974 in Toronto geboren, hat ihren Vater im Prinzip nicht kennengelernt. 1977 stirbt Peter Bunjevac bei der Vorbereitung eines Anschlags durch eine vorzeitig ausgelöste Bombendetonation. Mit „Vaterland“ wagt die Zeichnerin eine Annäherung. Es ist der Versuch, sowohl das Verhalten der Mutter als auch den ideologischen Wahn des Vaters zu verstehen, beides etwas, dessen Ursachen ihr erst viel später begreiflich werden. Politische Geschichte wird zur Interpretationshilfe, die Bunjevacs eigenen völlig maroden Familienroman wenigstens strukturell in Ordnung bringen soll. Das darf man nicht als Geschichtslektion missverstehen. Bunjevac verbindet zwar mehrere Zeitebenen miteinander – Gespräche mit der Mutter für das Buch, die Jahre nach der gemeinsamen Flucht aus Kanada, die Biografie ihres Vaters vom Halbwaisen unter faschistischer Besatzung bis zum Tod als Terrorist, die Geschichte des Balkans im Krieg und unter Titos Herrschaft –, aber der Knoten will nicht halten.

Das Trauma, das sich schon vor Peter Bunjevacs Tod tief in Ninas Familie eingenistet hat, wird durch beständiges Schweigen oder politische Jetzt-erst-recht!-Überzeugungen gefüttert, und der Rückgriff auf die Geschichte des Balkans kehrt die Paradoxien innerjugoslawischer Konflikte hervor, die sich in Ninas zerstrittener Familie spiegeln, löst sie aber nicht auf: „Ich habe ausführlich die Geschichte dieser Region erforscht und versucht den Grund des Konflikts zwischen Serben und Kroaten zu begreifen, aber je tiefer ich komme, desto geringer scheint die Zahl der belegten Konflikte zwischen den beiden, fast identischen Gruppen zu sein; zumindest vor dem 20. Jahrhundert.“ So erweist sich auch Bunjevacs Familiengeschichte als mythologisch so aufgeladen, dass keine Wahrheit mehr abgeschöpft werden kann: Es gebe, erzählt die Autorin, zwei Versionen davon, was mit ihrem Großvater passiert ist, nachdem die jugoslawische Armee kapituliert hatte. „In der ersten Version ging er zu den Partisanen und wurde 1945 von den Deutschen an der syrmischen Front gefangengenommen. In der zweiten Version kam er nach Hause und wurde von der Ustascha gefangengenommen, nachdem er den Kirchturm bestiegen hatte, um das Dorf alleine gegen den anrückenden Feind zu verteidigen.“ Gewiss ist allein sein Tod im berüchtigten KZ Jasenovac, wo „die Deutschen die >Unerwünschten< eliminierten. Mit so viel Leidenschaft, die man braucht, um einen Dieselmotor zu perfektionieren.“

„Vaterland“ ist außerdem eine Autobiografie ohne Gedächtnis: Das Buch endet dort, wo Nina Bunjevacs Erinnerung einsetzt. Die schwarzweißen Panels sind akribisch schraffiert und wirken wie in Schockstarre eingefroren. Kein Leben, auch keine comiccharakteristischen Soundwords, die Bilder von Bombenexplosionen bleiben stumm, gemarterte Menschen (und auch Tiere) schreien lautlos. Die aufwendige Zeichentechnik sucht Distanz zum Inhalt ihrer Bilder: lieber den tiefsitzenden Identifikationsimpuls blockieren, als mit resümierendem Verstehen das Familienalbum schließen. Deswegen wird die Bildsprache auch dann und wann symbolisch, manchmal vielleicht etwas zu sehr: Wenn das erste Kapitel mit dem Bild von ungeschlüpften Eiern in einem Vogelnest beginnt, die sich später, als ein Brief samt Zeitungsartikel die Nachricht von Peters Tod an Sally überbringt, zu silhouettenartigen Raben gewachsen, zuhauf in den dunklen Gewitterhimmel erheben, mag man darüber streiten, ob hiermit balkanisches Kolorit („In der Traumdeutung, wie sie auf dem Balkan Tradition ist, bedeutet von Vögeln zu träumen, dass der Träumer Nachrichten erhalten wird.“) oder womöglich eine etwas raunende Poesie des Schreckens, die schon Clarice Starlings Lämmer schreien ließ, ihren Weg bahnt. Um das zu klären, liebe Leser*innen, tauschen Sie bitte Ihr Geld gegen dieses Buch. Es kostet genausoviel wie Christian Wehrschütz‘ History-Schocker „Brennpunkt Balkan“, ist um 156 Seiten klüger und riecht sogar besser.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: KONKRET 05/2015

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de, schreibt für KONKRET, Neues Deutschland und Junge Welt. Beiträge u. a. in Tagesspiegel, Taz, TITANIC, Jungle World, Der Schnitt, Pony, Das Viertel, Testcard, kino-zeit.de sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.