Comicbibliothek wider den Antisemitismus

Seit dem Pogrom der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 formiert sich eine antisemitische Internationale. Die Dokumentationsstelle RIAS verzeichnet für 2024 ein Rekordhoch an judenfeindlichen Vorfällen in Deutschland. Besonders der israelbezogene Antisemitismus hat zugenommen, wie die Taz berichtet. Zugleich überbietet sich der Kulturbetrieb international in Boykottforderungen gegen Israel und Ausladungen jüdischer Stimmen von Veranstaltungen; die Hamas reibt sich die Hände.

Ein Dossier mit Comic.de-Archivbeiträgen von Jonas Engelmann, Christoph Haas, Sven Jachmann, Karin Krichmayr, Georg Seeßlen und Mario Zehe zu Comics, die den Antisemitismus nach Auschwitz, die Vorgeschichte Israels, die Rolle der Shoah und die Lebensrealität in Israel untersuchen.

Gezeichneter Dialog – „Wie geht es dir?“

Von MARIO ZEHE

Ein Sammelband mit gezeichneten Gesprächen über den 7. Oktober 2023. Wie veränderte er das (Zusammen-)Leben von Juden und Muslimen in Deutschland?

Der Erziehungswissenschaftler und Historiker Meron Mendel beschreibt in seinem Buchessay „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ die Spaltung der deutschen Linken in „Antideutsche“ und „Antiimperialisten“ und wie deren diametral entgegengesetzten Positionierungen zum Nahostkonflikt ihre jeweilige Gruppenidentität befestigt. Diese Form der inneren Entzweiung des linkspolitischen Lagers ist zwar eine deutsche, durch den Umgang mit der eigenen Geschichte bedingte Besonderheit. Doch auch sonst dominieren Projektionen und (Ab-)Spaltungen die Diskurse und Auseinandersetzungen über den Nahostkonflikt. Während die politische Rechte den Anschlag der Hamas am 7.10.2023 nutzt, um antimuslimische Ressentiments zu befeuern und zugleich den Antisemitismusvorwurf auf Muslime und Linke umzulenken, stehen die liberalen Demokratien in Europa angesichts ihres Schweigens zu den drastischen militärischen Reaktionen Israels im Verdacht, bezüglich der Geltung von Menschenrechten im Ukrainekrieg und Nahostkonfikt jeweils ganz unterschiedliche Maßstäbe anzulegen.

Als Folge der Polarisierung und des Schweigens leiden sowohl Juden*Jüdinnen als auch Muslim*innen auch in Deutschland darunter, aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit bedroht und diskriminiert zu werden. Die Comicmacher*innen Hannah Brinkmann, Nathalie Frank, Michael Jordan, Julia Kleinbeck, Moritz Stetter, Birgit Weyhe und Barbara Yelin starteten Anfang 2024 ein Webcomicprojekt, in dem sie und andere Zeichner*innen mit Expert*innen und Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus gesprochen und diese Dialoge grafisch festgehalten haben. Unter www.wiegehtesdir-comics.de sowie https://www.instagram.com/comics_wiegehtesdir/ wurden die Onepager nach und nach veröffentlicht, nach Abschluss des Projekts gibt es die Comics nun auch in Buchform.

Beinahe jedes Gespräch beginnt mit der einleitenden Frage „Wie geht es dir?“, paradigmatisch auf die Prinzipien Empathie und Dialogizität verweisend. In unterschiedlichsten grafischen und narrativen Stilen setzen die Künstler*innen die Antworten der Befragten ins Bild; deren Vielfalt spiegelt sich in der Vielgestaltigkeit der comicalen Ausdrucksmöglichkeiten in Text und Bild. Im Ergebnis lassen sich ebenso unterschiedliche Sichtweisen auf den Nahostkonflikt nachvollziehen wie auch gelingende Formen einer jüdisch-muslimischen Austauschs sowie einer gemeinsamen Form der Trauer und Traumabewältigung im Angesicht von Krieg und Gewalt. Viele Comics thematisieren zudem das einigende Band, das zwischen den Protesten gegen Rechtspopulismus/-extremismus in Deutschland und Israel besteht. Insgesamt ein beeindruckendes Plädoyer für das Aushalten von Differenz und Widersprüchen.

Hannah Brinkmann, Nathalie Frank u. a. (Hg.): Wie geht es dir? 60 gezeichnete Gespräche nach dem 7. Oktober 2023 • Avant-Verlag, Berlin 2025 • Softcover • 136 Seiten • 35 Euro

Hakenkreuze im Klassenzimmer – „Die Synagoge“

Von KARIN KRICHMAYR

In seiner Comic-Autobiografie „Die Synagoge“ erzählt Joann Sfar von einer Jugend in Nizza zwischen Neonazis, Kung-Fu und Alltagsantisemitismus – mit frappanten Parallelen zu heute.

Eigentlich gibt es nur einen einzigen Grund, warum Joann Sfar Wachdienst vor der Synagoge schiebt. Wenn er draußen aufpasst, muss er nicht drin sitzen. Der Gottesdienst, zu dem ihn sein gläubiger Vater verdonnert, ödet den 16-Jährigen schon die längste Zeit gewaltig an. Also lässt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, dem wild zusammengewürfelten Team beizutreten, das von einem Kasten von Mann mit stechend blauen Augen, roter Mähne, dicken Koteletten und Goldketterl im offenen Hemdkragen geleitet wird.

Der Grund dafür, dass die jüdische Gemeinde einen Wachschutz einrichtete, ist ein weniger banaler. Am 3. Oktober 1980 explodierte eine Bombe vor einer Synagoge in Paris, vier Menschen starben, 46 wurden verletzt. Seitdem ging die Angst vor Anschlägen auch in Nizza um, der Heimatstadt des französischen Comiczeichners Joann Sfar, der Jude mit arabischen Wurzeln ist. Ultranationalisten und Rechtsextreme sind in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren, der Zeit von Sfars Jugend, auf dem Vormarsch, Neonazis treten noch unverhohlen mit Glatze und Springerstiefeln auf. Offener Antisemitismus ist durch die Bank salonfähig. Lebensbedrohlich sind Bomben, Molotowcocktails und Aggressionen jeder Fasson. Die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen, stellt ein Risiko dar.

Viele Passagen der autobiografischen (auf Französisch bereits 2022 erschienenen) Graphic Novel „Die Synagoge“ von Joann Sfar erinnern frappant an heute. Im Nachhall des Massakers der Hamas am 7. Oktober häuften sich antisemitische Angriffe, insbesondere in Frankreich, die Sicherheitsmaßnahmen vor Synagogen und Schulen wurden verstärkt. Damals wie heute macht sich Judenhass an allen möglichen Stellen der Gesellschaft breit, sind auch Linke fixer Bestandteil der antizionistischen Bewegung.

Blutrünstige Agenda

Im Zuge seiner Wachdiensttätigkeit recherchiert der junge Sfar im rechtsextremen Milieu und beobachtet Prozesse gegen Neonazis. Eines Tages besucht er den Vortrag eines Vertreters einer propalästinensischen Splittergruppe an der juristischen Fakultät der Universität Nizza. Im Grunde sei die Gruppe dafür, „dass man alle Juden ins Meer wirft“, notiert Sfar über die Zeichnungen des charmanten, gut aussehenden Vortragenden, der von den Studierenden angehimmelt wird. „Eine eindeutige blutrünstige Agenda, die die Zuhörer offenbar begeistert.“

Episoden wie diese knüpft Sfar, analog zur oft sprunghaften Erinnerung, lose aneinander. Seine gewohnt krakeligen, bunten Zeichnungen strahlen eine warme Plastizität aus. Trotz der beklemmenden Thematik moralisiert er nicht, bleibt nüchtern in seiner entwaffnenden Direktheit und wird dann am stärksten, wenn er das Humoreske, die Situationskomik hervorkehrt. Mit seinem lockeren Zeichenstil wechselt er so unvermittelt wie mühelos die Zeitebenen, um immer wieder in der Gegenwart haltzumachen.

Bekannt wurde der 1971 geborene Vielschreiber – er hat in den letzten 30 Jahren an die 200 Werke, vorwiegend Comics, veröffentlicht – vor allem durch seine Reihe „Die Katze des Rabbiners“, die im Algier der 1920er-Jahre spielt. Aus Algerien stammt Sfars Vater, der als Jude keinen Widerspruch darin sah, gemeinsam mit den arabischen Nationalisten gegen die französischen Kolonialisten zu kämpfen. Nachdem er von Faschisten verprügelt worden war, wanderte er nach Frankreich aus. Sfars Mutter, eine Musikerin und Holocaustüberlebende aus der Ukraine, starb, als er ein kleines Kind war. Joann Sfar, der sich seit langem für eine Zweistaatenlösung einsetzt, bezeichnet sich daher als halb Aschkenase, halb Sepharde. Auch wenn er versichert, nicht religiös zu sein. „Ich habe mich immer aus allem Jüdischen herausgehalten“, schreibt er. „Das Einzige, woran ich je geglaubt habe, ist Balagan, das Chaos.“

Hakenkreuze im Klassenzimmer

Sein kulturelles Erbe und seine Familiengeschichte flossen immer wieder in sein Werk ein. Die Idee für den Rückblick auf seine Kindheit und Jugend kam ihm während der Corona-Pandemie auf dem Krankenbett, als ihm der Arzt aufgrund seiner schweren Covid-Erkrankung riet: „Sie müssen kämpfen.“ Und wie sich im Lauf des Buches herausstellt, war es für Sfar stets auch eine Frage des Kämpfens, mit Worten und auch mit Fäusten, wie die ständig auftauchenden Gespenster des Antisemitismus in Schach gehalten werden könnten. Auf der Reise in die Vergangenheit begleitet ihn der Geist des französischen Journalisten und Widerstandskämpfers Joseph Kessel, den er schon in jungen Jahren bewunderte.

Eine entscheidende Rolle in Sachen Kampfgeist spielte auch Sfars Vater, ein erfolgreicher Anwalt, der den Sohn gutbürgerlich erzog, im Namen der Gerechtigkeit aber auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. „Mein Vater war der Anwalt vieler Gangster aus Nizza und hatte einige Neonazis ins Gefängnis gebracht. Er wurde wegen seines politischen Engagements bedroht und versteckte Gauner im Kofferraum seines Alfa Romeo bis zum Gericht. Ich sah ständig, wie er sich prügelte. Das faszinierte und traumatisierte mich gleichermaßen“, sagt Sfar.

Antisemitismus war schon früh Teil des Alltags: Als Joann Sfar ein Schulkind war, wurden die Wände seines Klassenzimmers mit Hakenkreuzen beschmiert, weil sein Vater vor Gericht die Auflösung rechtsextremer Splittergruppen erreicht hatte. Sie erhielten Drohanrufe und Särge per Post, schließlich bekam das Vater-Sohn-Duo Begleitschutz von der Polizei. „Es ist die Zeit, als die Wände in Nizza mit ‚Juden in den Ofen‘ beschmiert werden“, schreibt Sfar.

Gefühl der Machtlosigkeit

Die latente „Wahnsinnswut“, die ständig in dem jugendlichen Sfar brodelt, die Suche nach einem Feind, mit dem er sich messen kann, bringt ihn zum Kung-Fu und Krav Maga, dem israelischen Selbstverteidigungskampfsport. So weit, dass er seine hart erübten Techniken auch in der Realität zur Anwendung bringt, ist er aber nicht. Eher plaudert er mit dem Feind, lässt sich nicht provozieren von den Skinheads, kontert mit schlagfertigen Sprüchen und empfindet sogar Sympathien für einen „netten Nazi“ in seinem Sportklub. Das Bedürfnis, sich mit aller Kraft zu wehren, bleibt.

Als es 1984 zu einer Schändung des jüdischen Friedhofs in Nizza kommt und die Polizei zu keinem Ergebnis gelangt, nimmt die Synagogen-Wachschutztruppe eigenmächtig Ermittlungen auf – ohne Erfolg. Eine weitere Erfahrung, die das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Hass verschärft. Auch der Nahostkonflikt ist früh Thema im Hause Sfar. „Seit alle Juden der Welt zu potenziellen Zielscheiben geworden sind, ist das kein Kampf um Emanzipation mehr. Das ist Terrorismus“, zitiert Sfar seinen Vater, der mit ihm von klein auf offen und auf Augenhöhe über Gott und die Welt gesprochen hat. „Juden werden seit Jahrtausenden abgeschlachtet. Was jetzt passiert ist, ist leider das alte Pogrom“, kommentierte Sfar den Terrorakt der Hamas im Deutschlandfunk.

In seinem Lebensbericht nimmt er auch den Westen in die Pflicht: „Dieser Zorn auf jüdische Menschen ist eine Konstante, ich würde fast sagen, ein Bindeglied der westlichen Gesellschaften“, schreibt Joann Sfar im Nachwort. „Ich habe aufgehört zu kämpfen. Ich erzähle jetzt.“

Joann Sfar: Die Synagoge • Aus dem Französischen von Annika Wisniewski • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 208 Seiten • Hardcover • 30,00 Euro

„Ich war nicht schwach“ – „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“

Von CHRISTOPH HAAS

Barbara Yelin erzählt in einer meisterlichen Graphic Novel die Geschichte Emmie Arbels. Von den Begegnungen mit der heute 86-jährigen Frau in Israel schweifen die Bilder zurück zu einer Kindheit im Holocaust.

Zwei Bilder eines kleinen Mädchens. Auf dem ersten lacht es, sorgfältig gekleidet, in die Kamera eines Fotostudios. In seinem Haar steckt eine große Schleife; auf dem Schoß hält es einen Spielzeug-Pinguin. Auf dem zweiten Bild, das 1945 aufgenommen wurde, ist das Mädchen acht Jahre alt – und kaum mehr wiederzuerkennen. Mit kurz geschnittenen Haaren, einfach angezogen, schaut es androgyn und vorzeitig gealtert aus. Das liegt vor allem an seinem Blick, der tief und forschend ist, misstrauisch und leicht rebellisch. Das ist kein Kinderblick mehr, sondern der eines seelisch zutiefst versehrten Menschen, der die Hölle auf Erden gesehen hat.

Das Mädchen heißt Emmie Arbel; aus ihm wurde eine Frau, die inzwischen 86 ist und in Israel lebt. Geboren 1937 in Den Haag, wurde sie 1942 mit ihrer Familie in das Sammellager Westerbork, 1944 dann mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder Rudi nach Ravensbrück deportiert. Das Kriegsende erlebte sie in Bergen-Belsen; kurz nach der Befreiung des Lagers starb Emmies Mutter. Ihr Vater wurde in Buchenwald ermordet, ihre Großeltern in Auschwitz. Menachem, ein weiterer Bruder, überlebte und kam in Holland wieder mit seinen Geschwistern zusammen.

Eine Million jüdischer Kinder wurde im Holocaust umgebracht. Für diejenigen, die davonkamen, hat sich die Forschung zum Nationalsozialismus lange nicht besonders interessiert. Ging es um Berichte von Zeitzeugen, lag der Fokus auf den erwachsenen Überlebenden. Erst seit aus den damaligen Kindern Hochbetagte geworden sind, hat sich dies geändert. So konnte diese Graphic Novel entstehen, im Rahmen eines von Kanada ausgehenden internationalen Projekts, das den bislang wenig Beachteten eine Stimme geben und zugleich neue Formen wissenschaftlicher und künstlerischer Vermittlung des Holocausts erproben will.

Im vorigen Jahr erschien bereits der Band „Aber ich lebe“, in dem Barbara Yelin auf 40 Seiten zentrale Erlebnisse Emmie Arbels wiedergab. „Die Farbe der Erinnerung“ erlaubt nun einen genaueren Einblick in das Leben dieser außergewöhnlichen Frau.

„Ich mag das Wort ‚Überlebende‘ nicht“, sagt Arbel in einem der vielen Gespräche, das Yelin mit ihr geführt hat. „Der Arme, die Arme, sie hat überlebt. Ich mag es nicht, wenn man mich bemitleidet oder denkt, ich sei schwach. Ich war nicht schwach. Das weiß ich. Ich weiß, dass ich stark bin.“ Dieser unerschütterliche Lebensmut ist umso bemerkenswerter, als Arbel weitere belastende Erfahrungen nicht erspart geblieben sind. Die schwerwiegendste unter ihnen: In Holland wurde sie von ihrem Pflegevater, der Auschwitz überstanden hatte und einen besten Ruf als Erzieher und Menschenfreund genoss, ein Jahr lang systematisch sexuell missbraucht. Weder darüber noch über ihre KZ-Erfahrungen wollte und konnte Arbel jahrzehntelang sprechen. Im jungen Staat Israel, in den sie 1949 mit ihrer Pflegefamilie auswanderte, war das Reden über den Holocaust verpönt: „Es war nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg. Die Leute fühlten sich stark. Man sprach nicht darüber, was geschehen war. Lange Zeit nicht.“

Die paradoxe Konsequenz dieser Haltung war, dass die Opfer sich schuldig fühlten: „Damals sagten viele Leute in Israel, die Juden in Europa hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Wir schämten uns.“ Die Kehrseite von Arbels Stärke ist die Abkapselung ihrer Traumata. Erst 1977, als sie mitten in der Nacht mit dem Auto zu ihrer Psychotherapeutin gerast ist, kann Arbel das, was man ihr angetan hat, äußern. Die Szene bildet den dramatischen Auftakt der Graphic Novel.

Die plötzliche, explosive Freisetzung des Verdrängten setzt Barbara Yelin virtuos in Bildern um, die wie locker auf die Seiten geworfen wirken und sich nicht dem sonst dominierenden Viereckformat fügen wollen. „Wir saßen die ganze Nacht“, heißt es an einer Stelle; darüber ist das Haus der Therapeutin zu sehen, das in einem See aus Nachtblau und Schwarz zu versinken scheint.

„Die Farbe der Erinnerung“ ist das Gegenstück zu der grandiosen Graphic Novel „Irmina“ (2014), in der Barbara Yelin die zunehmende ideologische Verstrickung einer im Grunde emanzipierten, welt­offenen jungen Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus geschildert hat.

Emmie Arbel hat Yelin erstmals 2019 auf dem Gelände von Ravensbrück und danach immer wieder getroffen, sei es in Israel oder zu Zoomgesprächen. Aus der Arbeitsbeziehung ist beidseitig eine enge persönliche Bindung entstanden. Im Comic tritt Yelin immer wieder als Interviewerin auf. Sich selbst nimmt sie allerdings völlig zurück. Nur im Nachwort offenbart sie, wie stark die Begegnungen mit Arbel gedanklich und emotional auf sie eingewirkt haben.

Sowohl auf der Ebene der Gegenwart als auch jener der Vergangenheit ist „Die Farbe der Erinnerung“ nicht linear erzählt. Mehr noch. Analog dazu, dass für Arbel die Schrecken ihrer Kindheit nie vergehen können, lässt Yelin die Zeiten und Orte in einer Weise einander überlagern, die nur im Comic, in keinem anderen Medium möglich ist. So schließt die Szene, in der Arbel sich ihrer Therapeutin öffnet, mit einer Seite, in der vor einem überwiegend schwarzen Hintergrund grauweiße Kringel an das unaufhaltsame Aufsteigen von Kohlensäurebläschen erinnern. Das lässt sich als eine treffende Visualisierung der Wiederkehr von Arbels verdrängten Erinnerungen begreifen. Auf der nächsten Seite verwandeln sich die Kringel aber in den Kies, der unter Yelins Füßen knirscht, als sie erstmals Ravensbrück aufsucht.

Für die Schilderung ihrer Besuche in Israel verwendet Yelin helle, aber nicht leuchtende Farben. Als sie Arbel die titelgebende Frage stellt, was denn die Farbe der Erinnerung sei, lautet die Antwort: „Schwarz“. Mit dieser Farbe verbindet Arbel das Gefühl der Erniedrigung. Schwarz überwiegt daher in den KZ-Szenen, in denen Yelin die Häftlinge teilweise nur als Schemen zeichnet, geisterhaft, als seien sie schon gestorben. Auch ohne das grafische Ausbreiten grausiger Details sind diese Bilder unendlich bedrückend. Sie zeigen den nicht überbietbaren Schrecken und wahren zugleich die Würde der Opfer. Es gibt nicht viele Comics, die den Holocaust und seine psychischen Folgen so eindrücklich darstellen wie „Die Farbe der Erinnerung“.

Barbara Yelin: Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung • Reprodukt, Berlin 2023 • 192 Seiten • Hardcover • 29,00 Euro

Channa Marons Unabhängigkeitserklärung – „Vor allem eins: Dir selbst sei treu“

Von JONAS ENGELMANN

Channa Maron war Israels „Königin der Bühne“. Ihre Karriere begann sie als Pünktchen aus Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ am Deutschen Theater in Berlin. 1933 floh sie mit ihrer Familie und lebte fortan in Palästina. 1970 wurde sie Opfer eines palästinensischen Terroranschlags in München und verlor deshalb einen Fuß durch Amputation. Dennoch setzte sie ihre Schauspielkarriere fort und engagierte sich für den Friedensprozess. Barabar Yelin und David Polonsky haben in „Vor allem eins: Dir selbst sei treu“ ihre wichtigsten Lebensstationen festgehalten.

Als Channa Maron im Sommer 2014 im Alter von 93 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb, trauerte ganz Israel um die größte Theaterschauspielerin des Landes, die noch mit weit über 80 Jahren Hauptrollen in dem von ihr mitbegründeten Cameri-Theater in Tel Aviv gespielt hatte. In Israel kannte fast jeder die Israel-Preisträgerin von 1974, die Friedensaktivistin, Freundin von Moshe Dayan und Yitzhak Rabin und First Lady des israelischen Theaters. Und während sie im Guiness-Buch der Rekorde als „dienstälteste Schauspielerin der Welt“ verzeichnet war, ist sie in Deutschland, wo die Karriere der Tochter einer polnisch-ungarisch-deutsch-jüdischen Familie auf den Bühnen Berlins begann, nahezu unbekannt geblieben. Einzig in Wolfgang Kraushaars Studie „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Linksterrorismus findet sie Beachtung, allerdings nicht primär als bedeutende Schauspielerin, sondern als prominentestes Opfer der ersten „Konfrontation von arabischen Guerillas und Israelis auf westdeutschem Boden“, wie der Spiegel 1970 schrieb. Gemeint war der Anschlag auf dem Flughafen München-Riem im Februar 1970. Er galt den Transitpassagieren der israelischen Fluggesellschaft El-Al, bei dem durch zwei Handgranaten ein Passagier getötet und elf zum Teil schwer verletzt wurden. Die damals 46jährige Maron verlor bei dem Anschlag ihren linken Fuß, und allein aufgrund dieses tragischen Ereignisses erschienen nach ihrem Tod fast 50 Jahre später auch Nachrufe in deutschen Medien.

Doch Channa Maron war mehr als nur ein Opfer des palästinensischen Terrorismus, wie Barbara Yelin in ihrer Graphic Novel „Vor allem eins: Dir selbst sei treu“ zeigt. Der Comic basiert auf einer Ausstellung über das Leben der als Hanna Meierzak im November 1923 in Berlin geborenen Schauspielerin. Das Goethe-Institut in Israel hatte die Münchner Zeichnerin Yelin mit dem Ausstellungsprojekt betraut und sie gebeten, das bewegte Leben der Schauspielerin zu zeichnen. Man wolle „auf die Kraft der gezeichneten Bilder setzen, die sehr viel geeigneter erschienen, einem breiteren Publikum eine Ahnung davon zu vermitteln, was die Person Channa Maron ausmachte“, schreibt der Leiter des Goethe-Instituts Wolf Iro im Vorwort. Die zehn von Yelin gestalteten Episoden aus Channa Marons Leben werden im hinteren Teil des Buchs durch Fotografien und ein Verzeichnis ihrer Theater- und Filmproduktionen ergänzt. Außerdem präsentiert der israelische Illustrator David Polonsky („Waltz with Bashir“) seine Sicht auf die Schauspielerin und Friedensaktivistin in wunderbaren Bildern. Texte der Philosophin Ofra Rechter sowie der deutschen Filmemacherin Anne Linsel führen in die Biographie Marons ein.

Auch wenn es schwierig erscheint, über diese fragmentarischen Episoden ein Bild des gesamten Lebens zu erhalten, ist der Erzählansatz gelungen, da sich das Leben Channa Marons vor allem durch Brüche und weitreichende Einschnitte auszeichnete. Yelin hat auch künstlerische Weggefährten Marons und ihre Kinder interviewt, um sich mit der Biographie vertraut zu machen.

Am Anfang steht das Wort Marons selbst: „Ach, es ist schwierig, wenn man sich an seine Kindheit erinnert. Hannele … Wie war diese Kleine? Manchmal lustig, manchmal traurig. Wie das Theater…“ Seit Hanna Meierzak vier Jahre alt war, stand sie dank ihrer ehrgeizigen Mutter auf Theaterbühnen und vor der Kamera. In Fritz Langs Film „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ war sie ebenso zu sehen – als das kleine Mädchen zu Beginn des Films, das mit dem Abzählreim „Warte, warte nur ein Weilchen…“ die bedrohliche Stimmung des Films vorgibt – wie in der Theaterpremiere von Erich Kästners „Pünktchen und Anton“, wo sie die weibliche Hauptrolle spielte. Doch schon das erste Panel deutet an, dass die Familie des Kinderstars bedroht ist.

Berlin 1931. Gehetzt wirken Mutter und Tochter, die Hand in Hand durch Berlins Straßen Richtung Theater laufen, während die anderen Menschen im Hintergrund nur schemenhaft erkennbar sind. Es ist diese anonyme Masse, die die jüdische Familie kurz darauf aus der Gesellschaft verstoßen wird.

Das Judentum hatte für die Familie nie eine große Rolle gespielt. „Was Juden waren, wusste ich damals gar nicht ganz genau“, erinnert sich Maron später. Hanneles Mutter weigerte sich daher zunächst, Deutschland zu verlassen, als der Vater vorschlug, nach Palästina auszuwandern. Dennoch gingen Mutter und Tochter Ende 1933 mit Hilfe des französischen Botschafters zunächst nach Paris. Über die beiden Jahre in Frankreich ist nicht viel bekannt, wie Dor Wertheimer, Historiker und Archivar des Nachlasses Marons, sagt. Das Paris, das Yelin zeichnet, wirkt wenig einladend. Während Mutter und Tochter hungern und betteln müssen, gibt es nur wenige Momente, in denen Licht in ihre Lebenswelt fällt und etwas Ruhe einkehrt. Als Mutter und Tochter buchstäblich vom Regen verschluckt zu werden drohen, erreicht sie die Nachricht des Vaters, dass er in Palästina als Elektriker Arbeit gefunden hat.

Das fremde Land nimmt Hannele freundlich auf, erstmals lässt auch Yelin die Sonne scheinen und ein lebendiges Grün begleitet die geschäftigen Menschen in Tel Aviv, die dabei sind, ihr Land aufzubauen: Warme Farben, dynamische, offene Panelstrukturen bestimmen diese Episode in Yelins Comic-Biographie. Die zwölfjährige Channa lernt schnell Hebräisch, holt ihre verlorene Kindheit nach, besucht bald die Schauspielschule und wird 1942 von der politischen Weltlage wieder eingeholt. Hannele meldet sich gemeinsam mit ihrem späteren ersten Ehemann Yossi Yadin in der jüdischen Brigade der britischen Armee. Nach zwei Jahren Büroarbeit beginnt sie 1944 in der Musik- und Schauspielgruppe ihre alte Tätigkeit wieder aufzunehmen und spielt in den nächsten Monaten über 250 Vorstellungen vor knapp 200 000 Zuschauern in Europa. „Alle Wege führen nach Rom, aber seit kurzem hab ich so großes Heimweh nach dem Klang von Kindern, nach den Glocken der Herde, nach dem Duft des Obstgartens, alle Wege führen nach Eretz Israel, wir werden uns dort treffen, in Eretz Israel“, hieß es in ihrem beliebtesten Song, den sie irgendwann auch für befreite jüdische KZ-Häftlinge sang. „Mein Gott, Yossi! Erst jetzt begreife ich ein Stück weit, was eigentlich geschehen ist“, bekennt Channa erschüttert über die Barbarei, der sie entkommen ist.

Zurück in Israel gründet Channa mit Freunden in Tel Aviv das Cameri-Theater, das zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs das erste in modernem Hebräisch verfasste Stück, „Er ging in die Felder“ von Mosche Schamir, aufführte: auch dies eine Unabhängigkeitserklärung. Das Theater, zu dessen festem Ensemble Maron bis 1980 gehörte, avancierte nicht nur zu einem der bedeutendsten Häuser des Landes, sondern arbeitete auch mit politischem und sozialem Anspruch: Im Rahmen des Projekts Peace Foundation besuchen jüdische und arabische Israelis gemeinsam Theaterstücke, während ein anderes Projekt versucht, Studenten, Gymnasiasten und Förderschüler zusammenzubringen. Das Theater bietet Simultanübersetzungen ins Arabische, Russische und Englische und hat für seinen Beitrag zur israelischen Gesellschaft 2005 den Israel-Preis, die bedeutendste Auszeichnung des Landes, erhalten.

Während der Jahre am Theater wurde aus dem Kinderstar Hannele Meierzak die renommierte Schauspielerin Channa Maron – Maron ist Hebräisch für Wolke –, sie heiratete den Architekten Yaakov Rechter, mit dem sie drei Kinder bekam; zu ihrem damaligen Freundeskreis gehörten der Lyriker Nathan Altermann, der spätere Außenminister Igal Alon und Verteidigungsminister Moshe Dayan. Jeden Freitag traf sich die große Familie Rechter-Maron, um über die neuesten politischen und kulturellen Entwicklungen zu diskutieren.

Am 10. Februar 1970 wollte Maron lediglich auf der Durchreise zu einem Vorsprechen in London einige Stunden in der Transithalle des Flughafens München-Riem zubringen, als sie mit weiteren Fluggästen Opfer eines palästinensischen Anschlags wurde. Die drei Terroristen griffen mit Handgranaten die Passagiere an, nachdem die Flugzeugentführung wegen der Gegenwehr des Piloten, eines ehemaligen Irgun-Kämpfers, misslungen war. Maron wurde schwer verletzt, ihren linken Fuß konnten die Ärzte nicht retten. Drei Monate musste sie nach der Amputation in München verbringen. Von Yelin wird die Tragödie in einem einzigen, die ganze Seite einnehmenden, blau verschwommenen Panel eingefangen, über dem die Stimme Amnon Rechters liegt, des Sohnes der Schauspielerin, der versucht, das traumatische Erlebnis seiner Mutter zu rekonstruieren. Ihr Mann Yaakov Rechter verbrachte die meiste Zeit an ihrem Krankenbett, da sie Angst hatte, allein zu sein. Auch Erich Kästner besuchte sein ehemaliges Pünktchen, säckeweise erreichten sie Briefe am Bett eines Krankenhauses in Deutschland, dem Land, das sie nie mehr hatte betreten wollen. Vor ihrer Rückkehr nach Israel im Mai berichtete sie in einem Interview von ihrem Unverständnis für in Deutschland lebende Juden: „Auch von der Jüdischen Gemeinde Münchens kam man mich besuchen. Manche waren sympathisch, manche nicht ganz so. Was ich nicht verstehen kann, ist, wie Juden noch in München leben können. Ich kann es noch verstehen, dass israelische Studenten, die Stipendien bekommen haben, sich hier ausbilden und dann in ihre Heimat zurückkehren, doch ein Heim in Deutschland gründen? Das kann ich ganz und gar nicht begreifen!“ Zwei Jahre später musste sie für eine Nachuntersuchung noch einmal nach München, und während die deutschen Ärzte ihr eine neue Prothese anpassten, verschafften sich nur wenige Kilometer entfernt arabische Terroristen Zugang zum olympischen Dorf und töteten schließlich elf israelische Sportler. Als viele Jahre später der israelische Friedensaktivist Uri Avnery versuchte, Maron mit Issam al-Sartawi, dem Auftraggeber des Anschlags am Münchner Flughafen, zusammenzubringen, der mittlerweile sein „größter Freund“ geworden war, wie Avneri sagte, wollte Maron von der geplanten Versöhnung nichts wissen. Zwar hatte ihr Trauma sie dazu gebracht, politisch Stellung für eine Versöhnung zu beziehen und sich für eine Zweistaatenlösung einzusetzen, doch die von Avneri eingeforderte Form von Versöhnung ging auch ihr zu weit. „Mit allem Respekt für die Palästinenser, mein Volk ist mir wichtiger“, bekannte sie in einem Interview mit der Taz.

Trotz ihrer Behinderung kehrte Maron zurück auf die Bühne – „I’m a stander, not a sitter“, sagte sie einmal –, beeindruckte Arthur Miller mit ihrer Rolle in seinem Stück „Alle meine Söhne“, sprach auf Friedensdemonstrationen, stand am 8. Mai 1995 in Wuppertal auf der Bühne und war als Ehrengast bei der Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Yassir Arafat und Yitzhak Rabin in Washington zugegen. Politisches Engagement und das Theater gehörten für sie eng zusammen, und bis zuletzt war sie in beiden Bereichen tätig, soweit ihre Gesundheit es zuließ. Noch im Jahr 2000 hatte sie mit jungen Schauspielern und Musikern ein eigenes Ensemble gegründet. Angesichts eines solchen Lebens wirkt auch das Pathos am Ende des Buchs nicht störend: In Barbara Yelins letztem Panel fliegen nach Channa Marons Tod am 30. Mai 2014 weiße Tauben gen Himmel.

Barbara Yelin (Zeichnerin), David Polonsky (Autor): Vor allem eins: Dir selbst sei treu. Die Schauspielerin Channa Maron • Reprodukt, Berlin 2016 • 80 Seiten • Hardcover • 24,00 Euro

Kathartische Konfusion – „Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger“

von SVEN JACHMANN

Sarah Gliddens Comicreportage hat mit naiver Begegnungspädagogik nichts am Hut.

Der Titel „Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger“ verspricht das Gegenteil von dem, was dieser Reisebericht letztlich erfüllt, denn am Ende der Geschichte steht nicht das Verstehen, sondern das Alter Ego der Autorin Sarah Glidden muss sich von einem politischen Paradigma verabschieden. Ihre zu Beginn recht apodiktische Haltung ist einer kathartischen Konfusion gewichen: Womöglich ist doch nicht nur Propaganda im Spiel, wenn die US-Presse vermeintlich tendenziös über den Nahostkonflikt berichtet? Und vielleicht steht am Anfang jeder Kritik erst mal die Schwierigkeit, festgefügte Überzeugungen aufzugeben, um Widersprüche aushalten zu können?

Dabei fing alles so überschaubar an. Ihrem Freund prophezeite Sarah halbironisch beim Abschied: „Ich werde also hinfahren und die Wahrheit in diesem Durcheinander suchen. Wenn ich zurück bin, ist alles kristallklar!“ Um sich mit ihrem jüdischen Erbe zu konfrontieren, fliegt die linksliberale, agnostische Amerikanerin 2007 zusammen mit ihrer gläubigen Freundin Melissa nach Israel. Die Initiative „Birthright Israel“, eine Stiftung, die weltweit jungen jüdischen Erwachsenen (so auch den beiden Frauen) kostenlos eine Erstbegegnung mit Israel ermöglicht, ist Sarah schon aus Prinzip verdächtig: als Rekrutierungsmaßnahme für Nachwuchszionisten, die einzig dem großen Projekt Alliyah, der Einwanderung von Juden nach Israel, dienen soll. Ein skurriles und für alle Teilnehmer obligatorisches Fragezeremoniell am Flughafen vor der Einreise entkräftet nicht gerade Sarahs Misstrauen. Doch der Reiseführer entpuppt sich bereits auf der ersten Busfahrt weniger als glühender Propagandist denn als Skeptiker, als er die drastischen Folgen des Baus der Trennmauer für die palästinensischen Bewohner des Gebietes beklagt, obgleich an der Notwendigkeit kein Zweifel besteht: „Nach dem Bau ist die Zahl der Anschläge in Tel Aviv von zwei pro Woche auf vier pro Jahr gesunken.“ Der Zwiespalt bleibt fortan das Ordnungsprinzip der Erzählung, denn gleichgültig, ob die Reisegruppe die Golanhöhlen, Jerusalem oder Tel Aviv besucht, immer muss Sarah feststellen, dass ihre umfangreichen Recherchen zur Prophylaxe gegen Indoktrination zwar zur historischen Einordnung nützen, jedoch wenig vor einem paradoxen Alltag in einem paradoxen Land feien, in dem der drohende Ausnahmezustand zur institutionalisierten Normalität geworden ist.

Als sie nach einem aufwühlenden Vortrag über die israelische Unabhängigkeitserklärung die fast noch jugendlichen Soldaten sieht, die die Gruppe als Ansprechpartner für einige Tage begleiten werden, bricht Sarah für Stunden in Tränen aus. Hinter den Tränen verbirgt sich die Erosion eines Weltbildes: Der Autorin wird klar, dass Israel als Steigbügelhalter einer imperialistischen Expansionspolitik wenig taugt. Drum wählt sie, um diese Entwicklung zu beschreiben, eine dezidiert subjektive Perspektive. Der Comic bewegt sich an der Schnittstelle von Reportage und Reisebericht. Sachliche Informationen vermitteln vornehmlich die Vorträge der Referenten, in den Gesprächen hingegen offenbart sich Gliddens Ringen um deren korrekte Deutung. Für eine Reportage besitzt die Introspektion einen zu großen Anteil.

Joe Sacco, der namhafteste Kollege dieses Metiers, beschreitet mit seinem am selben Schauplatz angesiedelten Comic „Palästina“ den umgekehrten Weg und ist so massiv parteiisch, dass Israel einzig als rassistische Besatzungsmacht erscheint. Gliddens hingegen konstruiert sich nicht als allwissendes Medium, das die politische Bilderagenda der US-Berichterstattung mit deren Wahrheitsgehalt kontrastieren soll, sondern als von seinen Erfahrungen irritiertes Subjekt. Sie verschwindet nicht hinter dem Impetus einer (im Falle Saccos äußerst fragwürdigen) Gegenaufklärung, sondern dominiert jede Sequenz und dokumentiert den Wandel ihres eigenen Tunnelblicks. Fixiert darauf, sich keinesfalls einer allerorts vermuteten Gehirnwäsche auszusetzen, gelangt sie immer wieder an Bruchstellen. An ihnen offenbart sich das Trauma des einzigen Landes, das permanent seine Grenzen verteidigen und seine Existenz legitimieren muss.

Die formal unaufgeregte Erzählung ordnet sich vom Seitenaufbau (in der Regel drei dreireihige Panels pro Seite) über den skizzenhaften Zeichenstil bis zur dezenten Wasserfarbenkolorierung gänzlich dem Plot unter. Das inhaltlich auffälligste Merkmal ist, dass sich die Protagonistin immer wieder in die Innerlichkeit zurückzieht. Dann befindet Sarah sich etwa in einer Gerichtsverhandlung, bei der sie als Anwältin, Richterin und Geschworene in Personalunion ihre Argumentationsketten auf die Probe stellt, oder wähnt historische Gestalten als schemenhafte Gesprächspartner an ihrer Seite. Die Autorin hütet sich davor, ins Fahrwasser einer naiven Begegnungspädagogik zu geraten. Durch den Zweifel der Hauptfigur erhellt sich der widersprüchliche Kampf Israels um Selbstbehauptung im Angesicht der vergangenen wie einer drohenden Vernichtung. Wer sich vom Titel also flotte Hilfeleistung verspricht, sollte sich auf einen unliebsamen Schub ziemlich lehrreicher Desillusionierung vorbereiten.

Sarah Glidden: Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger • Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff • Reprodukt, Berlin 2018 • 208 Seiten • Softcover • 24,00 Euro

Sieben Tage Warschau – „Das Erbe“

von GEORG SEESSLEN

Rutu Modans Graphic Novel ist eine wichtige Spiegelung zu Art Spiegelmans „Maus“.

Comics definierten einst eine kulturelle Grenze. Zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Pop und Kunst, zwischen Underground und Mainstream, zwischen niedrig und hoch, zwischen naiv und kompliziert. Auch der Unterschied zwischen Comic-affinen und dem Genre feindlichen Kulturen wie der deutschen war früher einmal gewaltig. Mittlerweile sind Comics eine lingua franca geworden. Das Medium hat etwas von seiner Massenwirksamkeit an neue elektronische Formen von Unterhaltung und Information abgegeben; ökonomisch erlebt es eher eine Krise als einen Boom. Aber zur selben Zeit ist es auch erwachsen geworden. Die zeitaufwendige, subjektive und handwerkliche Produktionsweise wirkt verlässlicher und ehrlicher als die Echtzeit- und Netz-Informationen und scheint insbesondere geeignet, heikle Themen, dissidente Perspektiven und biographische Gesten aufzugreifen. Seit Art Spiegelmans „Maus“ wissen wir, dass auch das geht: vom großen Menschheitsbruch, vom Holocaust, in Comic-Form zu erzählen. Wie und warum es möglich ist, das machte Spiegelman zugleich zu einem Thema, weil das Genre eine Form des Distanzierens, sogar der Maskerade erlaubt, in der man seinem Gegenstand näher kommen kann, als es die Literatur, der Film, die Malerei, die Fotografie, die Reportage und das Tagebuch erlauben. So verwundert es nicht einmal, dass in der Welt von Handy-Fotografie und Bilder-Blogs das Genre der Comic-Reportage gedeiht. Und schon gar nicht, dass man sich in diesem Medium den Geistern der Vergangenheit widmen kann, eine besondere Form des graphischen Reenactment. Annäherung durch Stilisierung.

Der Sammelbegriff für diese neue Erzählweise, nicht Serie, nicht episodische Variation, nicht Endlos-Epic, lautet „Graphic Novel“. Und der Comic-Roman hat in der Tat mit seinem literarischen Vorbild etliche Gemeinsamkeiten. Die abgeschlossene Form, den psychologischen Realismus, Veränderung und Abschied statt ewiger Wiederkehr. Und wie ein Roman enthält auch die Graphic Novel neben der Handlung Porträts von Menschen, Zeiten, Städten und Landschaften, man hat Zeit, sich Beschreibungen und Nebensächlichkeiten zu widmen. Und eben dies befreit auch das Graphische in der Graphic Novel: Die Zeichnungen sind gerade in der Romanform des Mediums nicht mehr unter das Diktat von Erzählung, Spannung und Pointe gezwungen. Wie einst der literarische Roman, so pflegt auch die Graphic Novel die Kunst der Abschweifung, die Kunst, Zeit abzubilden, die Kunst der Selbstreflexion.

All diese Vorzüge einer nun auch nicht mehr wirklich brandneuen Erzählweise scheinen in „Das Erbe“ von der israelischen Zeichnerin und Kinderbuchautorin Rutu Modan so perfekt vereint, dass man sich nicht wundert, dass diese Bildgeschichte zu einem veritablen Klassiker des Genres geworden ist. Man kann hier studieren, was die zugleich so altmodische und hochaktuelle Kunst des Comic-Genres zu bieten hat.

„Das Erbe“ ist zunächst ein Reiseroman, der von Tel Aviv nach Warschau führt. Die Großmutter der Heldin, Regina Segal, beschließt, nach dem Tod ihres Sohnes in ihre Geburtsstadt Warschau zu reisen, um dort ein Familien­erbe einzuklagen, das im Zweiten Weltkrieg verloren wurde. Die alte Dame fühlt sich dabei hin- und hergerissen und ist deshalb keinesfalls bereit, ihrer Enkelin Mica alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Nach und nach erfährt Mica die wahren Gründe für diese Reise, aber zur selben Zeit scheinen sich auch andere Leute für Regina Segal und ihre Ansprüche zu interessieren.

So legt sich über diese einfache Geschichte ein Hauch von Mystery und Thrill. Gewiss trägt die Geschichte autobiographische Züge, insbesondere die Gestalt der „schwierigen“ Großmutter wirkt nicht so, als könne man sie sich so einfach ausdenken; aber insgesamt ist es doch eine fiktive Geschichte. Eine Liebesgeschichte gibt es ebenfalls, dazu die Selbstreflexion des Mediums durch den Auftritt eines Comic-Zeichners, der in seinen Zeichnungen vielleicht zu viel vom Familiengeheimnis verrät. Spannend bis zum dann doch überraschenden Ende ist die Geschichte allemal. Denn Regina Segal wollte nie wirklich ein Erbe antreten, sie hatte vielmehr eine Botschaft zu überbringen. Aber was diese Geschichte wirklich aufregend macht, ist der genaue, leicht humorvolle Blick auf ein Leben, das seine letzten Geheimnisse nicht preisgeben kann. Zudem findet die Autorin wundervolle Bilder für das Nebeneinander vom alten und neuen Warschau. Dort bekommt die Graphic Novel auch Züge einer Comic-Reportage. Denn das Ausgangsmaterial für die Geschichte bietet die neugierige und gezielte Reise der Autorin nach Polen, das die Großmutter nur das „Land der Toten“ nannte und das eine komplizierte Einheit von Grauen und Nostalgie bildete. Nur im Comic kann man so genau beschreiben, wie Orte aus Realität, Erinnerung und Traum zusammengesetzt sind. Man sieht einen Platz, wie der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal sagte, nur wirklich, wenn man auch sieht, was nicht mehr zu sehen ist.

Es sind die vielen nebensächlichen Beobachtungen, die das Buch so reich machen. Das beginnt am Ben-Gurion-Flughafen, wo sich die Großmutter standhaft weigert, eine Flasche Wasser wegzuwerfen, nur weil das uneinsichtige Wachpersonal aus Sicherheitsgründen nicht zulassen will, dass sie sie mit ins Flugzeug nimmt. An Bord begegnet man nicht nur ausgelassenen Schülern auf dem Weg zum Gruppenbesuch in Warschau. Auch ein sonderbarer Bekannter drängt sich den beiden Frauen auf. Zu trauen ist ihm nicht. Aber ein wirklicher Schurke ist er auch nicht. Selbst die Verpflegung an Bord des Fluges von Tel Aviv nach Warschau ist Gegenstand der detaillierten Darstellung. Man nennt das wohl eine „verschärfte Wahrnehmung“.

Rutu Modan, 1966 in Tel Aviv geboren, benutzt die Stilform der ligne claire, nicht nur in der Zeichnung selber, sondern auch im dramaturgischen Aufbau. Es gibt pointierte Episoden, stumme Passagen, Panel-Folgen, die mit wenigen Perspektivwechseln eine Kamerabewegung imitieren, und eine klare Anordnung der Panels auf einer Seite. Die Nähe zu Hergé fällt auf den ersten Blick auf. Der graphische „Hergéismus“ prägt auch Modans frühere Arbeiten, die allesamt sehr nahe an der heutigen Wirklichkeit Israels und, wie ihr Comic „Mixed Emotions“, auch autobiographisch geprägt sind. Darin hält die Autorin ihre erste Reise nach New York und ihre Schwangerschaft in Bildern fest. „The Murder of the Terminal Patient“ ist ein Ausflug in den Mystery-Thriller, erdacht als wöchentliche Folge für das Magazin der New York Times. In ihrer zweiten Graphic Novel „Das Erbe“ beschäftigt Modan sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Sie liefert keine akkurate autobiographische Beschreibung, sondern geht assoziativ mit dem Erinnerten um.

Wie schon in der Bilderzählung „Exit Wounds“, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Blutspuren“ erschienen ist, arbeitet die Autorin mit einer sehr eigenen Technik des Acting-Painting: Sie lässt Schauspieler die Vorlagen für die Zeichnungen „spielen“, um eine genaue Vorstellung von einer stimmigen Bewegungsmelodie und der je eigenen Körpersprache der Figur zu bekommen. Einige dieser menschlichen Vorbilder sind bekannte israelische Schauspieler, die in gewisser Weise zu Mitautoren geworden sind und dazu beitragen, dass wir ein sehr lebendiges und durchkomponiertes Geschehen erleben. Die fotografische Matrix sorgt für eine anatomische und typologische Fehlerlosigkeit, die mit der graphischen Vereinfachung einen sonderbaren Kontrast bildet – als bliebe eben wirklich nur das Wesentliche. Aus einem Drehbuch wurde ein Storyboard und daraus wurde wiederum ein Set von filmischen Fotografien, die im letzten Produktionsschritt in den ligne claire-Comic übersetzt werden, den wir vor uns haben.

Comic-Produktionen dieser Art sind erheblich aufwendiger als die gewohnten, sie setzen sich aus zahlreichen Produktionsschritten, aus Reisen, Skizzen und Recherchen, zusammen und können sich am Ende nur amortisieren, wenn sie einen internationalen Markt erschließen. Das kann sich, wie im vorliegenden Fall, als Glücksfall erweisen, es ist allerdings auch eine Gefahr. Die Gestalten sind nicht mehr wirklich und allein aus dem Strich des Zeichners geboren, der Comic wird zum arbeitsteiligen Großprojekt. Aber eben auch zu einem multiinstrumentalen Projekt, oder sagen wir es anders: zur modernen Kunst.

„Das Erbe“ ist eine wichtige Ergänzung zu Art Spiegelmans „Maus“, eine Spiegelung, wenn man so will. Der Schwerpunkt der Geschichte liegt auf der Gegenwart, in die die Vergangenheit hineinragt. Der Ausgangskonflikt greift ein aktuelles gesellschaftliches Problem auf. Es geht um die Furcht vieler älterer und ärmerer Leute in Warschau vor der Vertreibung aus ihren Häusern durch die früheren Besitzer. Dieser Grundkonflikt von „Das Erbe“ ist dementsprechend unlösbar, es gibt keine gerechte Lösung, nur eine menschliche. Zweifellos ist der Grundton dieser Graphic Novel bei allen Seitenaspekten und Konflikten eher versöhnlich, sogar der Friedhof ist hier ein freundlicher Ort. Aber umgekehrt scheint alles Komische, was immer wieder aufscheint, nur das Vorspiel zur großen Tragödie: Das Komische funktioniert hier nicht im Sinne einer Entlastung, sondern macht gerade die Absurditäten der Geschichte deutlich. Etwa wenn Mica, die als Nahkampfausbilderin bei der Armee tätig war, was so ganz im Widerspruch zu ihrem eher zarten Äußeren zu stehen scheint, den kampfsportbegeisterten Sohn des polnischen Rechtsanwalts in einem Fight um eine Mohrrübe für sich einnimmt. Oder wenn ein eifriger junger Mann das berühmte Fotoplastikon von Warschau bedient, indem er immer wieder buchstäblich in die große Bildermaschine hineinkriechen muss, um die Bilder der Vergangenheit zu projizieren.

Das Erbe ist eigentlich nur ein Haus, viel weniger, als es die Nebenfiguren des Dramas erwarteten, und dieses Erbe anzutreten, würde anderen Kummer bereiten. Zudem ist da auch noch die Erinnerung an die große Liebe von Regina und Roman, die in den kräftig-zartesten Farben beschworen wird, die sich abseits des Kitsches auf der Palette befinden. Es geht um die Erinnerung, die zwischen den Romanen der Täter und den Romanen der Opfer verlorenging.

In ihrer Familie, sagt die Autorin, sei nie über den Holocaust und die europäische Vergangenheit gesprochen worden. Die Kids in „Das Erbe“ streiten sich darum, welches das heftigere Konzentrationslager war, Mica gerät in ein groteskes „Reenactment“ des Kampfes um das Warschauer Ghetto, ein Lehrer erklärt, während er ein Flugzeugmenü verspeist, wie wichtig es für die Schüler sei, von „Überlebenden“ an die Stätten der Vernichtung geführt zu werden: „Okay, Montag Treblinka, Dienstag Majdanek, inklusive Gaskammern… Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger.“ Beim historischen Rollenspiel steigert sich ein junger Mann allzu sehr in die Rolle eines SS-Mannes beim Abtransport der durch den „Judenstern“ gekennzeichneten Mitspieler. Es ist ein durchaus kritischer Blick auf die „Erinnerungskultur“ hier wie dort, der in „Das Erbe“ zu teilen ist. Und ein Beispiel dafür, wie man es anders, wie man es besser macht.

Rutu Modan: Das Erbe • Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer • Carlsen, Hamburg 2013 • 240 Seiten • Hardcover • 24,90 Euro

Die Nüchternheit des Todes – „Blutspuren“

Von JONAS ENGELMANN

Anhand einer scheinbar alltäglichen Liebesgeschichte zeichnet Rutu Modan in ihrer ersten Graphic Novel ein Bild der israelischen Gegenwart, das vor allem eines deutlich macht: Selbst eine Liebesgeschichte ist eine Geschichte über die permanente Bedrohung.

Am Juni 2002 ereignete sich in der Nähe von Tel Aviv ein Anschlag auf einen Linienbus, eines von 138 palästinensischen Selbstmordattentaten der Al-Aqsa-Intifada. 17 Menschen starben, eines der Opfer konnte nicht identifiziert werden und wurde schließlich anonym beerdigt. Man vermutete, es handle sich um einen illegalen Arbeiter. Der israelische Regisseur David Ofek nahm in seinem Dokumentarfilm „Haharug HA-17“ („Nr. 17“) diesen Fall zum Ausgangspunkt, um den alltäglichen Terror und seine Folgen für alle Betroffenen zu dokumentieren. Ofeks Film über die Suche nach der Identität des Opfers hat Rutu Modan zu ihrer ersten längeren Comicerzählung inspiriert, die unter dem Titel „Blutspuren“ in der Edition Moderne erschienen ist.

Die 1966 in Tel Aviv geborene Modan ist als Mitglied des Künstlerkollektivs und Verlags Actus Tragicus eine Protagonistin der unabhängigen israelischen Comicszene. In der Anthologie „Cargo. Comicreportagen Israel – Deutschland“ konnte das deutsche Publikum erstmals Arbeiten aus dem Umfeld von Actus Tragicus kennenlernen. Modans Beitrag zu „Cargo“ bestand aus Eindrücken eines Aufenthalts in Berlin, Momentaufnahmen, die, scheinbar zusammenhanglos und an Kinderbuchillustrationen erinnernd, „das Bild der toughen, kreativen Hauptstadt in die Betulichkeit einer Erich-Kästner-Welt brechen“, wie Jan-Frederik Bandel in einer Rezension schreibt.

In „Blutspuren“ wählt Modan den umgekehrten Weg. Anhand einer scheinbar alltäglichen Liebesgeschichte zeichnet sie ein Bild der israelischen Gegenwart, das vor allem eines deutlich macht: Selbst eine Liebesgeschichte ist eine Geschichte über die permanente Bedrohung. „Weißt du, Gabriel hat mich nach jedem Anschlag angerufen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, dass mir nichts passiert ist. Aber diesmal hat er nicht angerufen“, sagt Numi zu Kobi. Der Taxifahrer Kobi ist Gabriels erwachsener Sohn, die Soldatin Numi Gabriels Geliebte.

Numi glaubt, Gabriel sei bei einem Anschlag auf den Busbahnhof in Hadera getötet worden, denn seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört, und eines der Opfer konnte nicht identifiziert werden. Ihr Verdacht basiert auf einem Schal, den sie ihm gestrickt hat und den sie in einem Fernsehbericht über den Anschlag vor dem zerstörten Busbahnhof hat liegen sehen. Mühsam überredet sie Kobi zu einem DNA-Test, um Klarheit darüber zu bekommen, ob das unbekannte Opfer Gabriel ist, doch dieses wurde mittlerweile beerdigt. Und so begibt sich Kobi, der nach dem Tod seiner Mutter seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hatte, mit Numi nach Hadera, auf der Suche nach Anhaltspunkten für das Schicksal Gabriels.

„Ich habe in ‚Blutspuren‘ versucht, nicht nur den dramatischen, sondern auch den alltäglichen Aspekt und die Nüchternheit des Todes zu beschreiben“, erklärt Modan. Diese Nüchternheit des Todes durchzieht den ganzen Comic, jedes Panel ist davon betroffen, selbst jene, in denen sich Numi und Kobi einander anzunähern beginnen: Erst der vermeintliche Tod Gabriels hat die Tochter eines Millionärs, dem Kobis Lieblingsfußballmannschaft Ha’Poel gehört, und den Taxifahrer zusammengeführt.

Modan gelingt es, mit der Suche ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft zu zeichnen; Numi und Kobi begegnen illegalen Putzfrauen, Gerichtsmedizinern, die ihren Alltag mit der Identifikation von Anschlagsopfern verbringen, Eltern gefallener Soldaten, Überlebenden des Anschlags und Angehörigen der Opfer. In den vielen unterschiedlichen Stimmen, die zu Wort kommen, ähnelt der Comic ein wenig Claude Lanzmanns Film „Warum Israel“ von 1973, oder es ist vielmehr der Versuch, Lanzmanns Frage, ob es so etwas wie Normalität in einem Land wie Israel geben kann, auf das neue Jahrtausend zu übertragen und die gegenwärtigen Probleme in den Mittelpunkt zu stellen. War bei Lanzmann die Allgegenwart der Shoah das zentrale Thema, so ist für die Generation israelischer Juden, die um die Jahrtausendwende erwachsen wurden, die Allgegenwart des Terrors hinzugekommen.

Kobis und Numis Suche nach Gabriel spiegelt die Suche nach Antworten auf die Frage, wie ein normales Leben trotz all dieser äußeren Umstände möglich sein kann. Die einfach gehaltenen Zeichnungen Modans stehen dabei in Kontrast zur Komplexität des Erzählten, das in allen Dimensionen kaum zu erfassen ist. Und wiederum ähnlich wie bei Lanzmann fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Die illegale Putzfrau verlässt nach dem Anschlag aus Angst um ihr Kind das Land, die Pathologen haben einen ätzenden Sarkasmus entwickelt, um ihre Arbeit bewältigen zu können, die Überlebenden und Angehörigen der Opfer tragen Angst und Trauer in sich und versuchen trotzdem ihr bisheriges Leben weiterzuführen. In einem Café, das noch Spuren der Explosion aufweist, fährt die Besitzerin, die bei dem Anschlag ihren Mann verloren hat, einen Gast an: „Es gibt keinen Jossi mehr. Jossi ist tot.“ Numi und Kobi stürzen sich in eine Liebesbeziehung, um mit dem Verlust umzugehen.

Das Ende bleibt offen – und ebenso die meisten Fragen, die der Comic aufwirft. Ob Gabriel nun das Opfer ist oder nicht, rückt immer mehr in den Hintergrund; er hätte es sein können, ebenso wie Numi oder Kobi, der Pathologe oder die Putzfrau. „Blutspuren“ ist ein Comic für die Toten, die Ermordeten, die als Abwesende in jedem Panel präsent sind. Die Spuren Gabriels, auf die Numi und Kobi stoßen, laufen ins Leere und lassen sich nicht zu einer sinnvollen Geschichte zusammenfügen. Diese Leerstellen aber ermöglichen es ihnen, der Ermordeten, für die Gabriel stellvertretend steht, zu gedenken und an sie zu erinnern.

Sie habe ihre persönliche Sicht auf die israelische Gesellschaft abbilden wollen, sagt Modan. Dazu gehört trotz aller Trauer und Probleme, die der Comic vermittelt, und trotz der Gefahr, wie ein romantisiertes Klischee zu klingen, auch Lebensfreude und Humor (wenngleich oft hinter Sarkasmus versteckt). Modan gelingt es, diese Klischees immer wieder an die politische Realität zu koppeln. Ein solches Bild Israels wird in Deutschland selten vermittelt, in Form eines Comics schon gar nicht. Lediglich Joe Saccos durch und durch problematischer Band „Palästina“, der sich als objektive Comicreportage versteht, konnte hierzulande ein Publikum finden. Als Gegengewicht zu Sacco ist die Veröffentlichung von „Blutspuren“ umso wichtiger – obwohl nicht viel Hoffnung besteht, dass das deutsche Comicpublikum sich auf diese Sicht einzulassen bereit ist.

Rutu Modan: Blutspuren • Aus dem Hebräischen von Barbara Linner • Edition Moderne, Zürich 2010 • 168 Seiten • Softcover • 28,00 Euro