Komplett ohne Scham – „Before Watchmen“

Eigentlich ist ja Alan Moore selber Schuld an dem Dilemma. Ob er sich eine Fortsetzung seiner erfolgreichen Serie „Watchmen“ vorstellen könne, wurde er bereits im September 1986 auf der Comic Art Convention in London gefragt. Der rauschebärtige Hippie wiegte nachdenklich sein Haupt, bevor er antwortete: Wenn dann nur in Form eines Prequels, vielleicht indem man die Geschichte der „Minutemen“ erzählt. Der Verlag DC, der schon damals zum Haus Time Warner gehörte, war elektrisiert. Über 25 Jahre hielt er still, 2012 erschien die Fortsetzung „Before Watchmen“ ohne Moore in Form von 38 Heften, die in vier dicken Sammelbänden zusammengefasst wurden. 2013 folgte die deutsche Übersetzung.

Denn „Watchmen“, ein komplexes Gedankenspiel darüber, wie Superhelden – wenn es sie denn wirklich geben würde – in das politische Geschehen unserer Zeit eingreifen, wurde ein Welterfolg weit über die Comicszene hinaus. Schnell war eine Verfilmung im Gespräch, als Regisseure wurden Meister wie Terry Gilliam oder Darren Aronofsky gehandelt. Der fast 400 Seiten dicke Sammelband gewann weltweit sämtliche Comicpreise, das „Time“-Magazin nahm ihn in seine Liste der 100 wichtigsten englischsprachigen Romane des 20 Jahrhunderts auf. Immer wieder wurde der Band als der intelligenteste und beste Superheldencomic aller Zeiten bezeichnet, ein Comic, der auch normale Leser ansprach und begeisterte. Und der Erfolg nahm kein Ende: „Watchmen“ wurde zum ersten Comic überhaupt, der über Jahre und Jahrzehnte immer lieferbar gehalten wurde.

Zwischen Alan Moore und seinem Verlag gab es schnell Streit. Als man den Briten und seinen gleichberechtigten Partner, den Zeichner Dave Gibbons, nicht an den Merchandise-Einnahmen beteiligen wollte – ganz konkret soll es damals um eine „Watchmen“-Swatch gegangen sein – zerschnitt der Exzentriker Moore das Tischtuch. Auslöser dafür waren Lücken im Vertragswerk zwischen Künstler und Verlag. Eigentlich wollte der englische Starautor nur die von DC eingekauften Superhelden des Charlton-Verlags renovieren, wurde dann jedoch darum gebeten, die Geschichte „etwas eigenständiger zu gestalten“. Moore ging deshalb davon aus, dass die geistigen Rechte der „Watchmen“ bei ihm lagen, DC sah die Sache anders. Ein weiterer Teil des Deals war, dass Moore und Gibbons die Rechte an ihrem Werk zurückbekommen sollten, wenn sie nicht mehr nachgedruckt wird; genau das passierte nie.

Zwischenzeitlich versöhnte man sich zwar wieder, und für einige Jahre war DC die Heimat für Alan Moores ABC-Comics, eine ganze Reihe von großartigen Serien, die Moore und seine Mitstreiter gestaltete. Doch als die erfolgreicher als einige der langjährigen eigenen DC-Serien wurden, mobbte man Moore kurzerhand aus dem Verlag. Moore zog sich in seinen heimischen Schmollwinkel Newcastle zurück und erklärte, er werde die nächsten Jahre dazu nutzen, sich aus dem Comic-Geschäft zurückzuziehen. Und das tat er so konsequent wie möglich: Von sämtlichen Verfilmungen seiner Werke zog er seinen Namen zurück, das Geld, das ihm etwa für den „Watchmen“-Film zustand, der 2009 endlich unter der Regie von Zack Snyder ins Kino kam, überließ er dem Zeichner Gibbons.

Dass DC ausgerechnet 2012 ihr „Before Watchmen“-Konzept realisierten, hat einen einfachen Grund: Im Jahr 2011 gab es einen Relaunch aller Superheldenserien, inklusive „Superman“ und „Batman“, der trotz einer millionenschweren Werbekampagne zum Komplettdesaster wurde. Die Ergebnisse einer Nielsen-Umfrage in amerikanischen Comicläden im Sommer 2012 erbrachte dramatische Zahlen: Außerhalb der Comic-Szene hatte der Relaunch nur kurzfristige Auswirkungen, 70 Prozent sind Altleser, die meisten davon mittelalte Männer; gerade mal fünf Prozent der Leser kamen neu dazu. Auch wenn die Auflagen kurzfristig erhöht wurden, unterm Strich war „New 52“ ein Fehlschlag, „Before Watchmen“ war da eine sichere Gelddruckmaschine und sollte die Bilanz wenigstens ein bisschen schönen.

Wohl dies war auch ein Grund dafür, dass der Verlag nicht – wie in seinen anderen Produktionen – auf billige No-name-Künstler aus Südamerika oder Südeuropa setzte. „Before Watchmen“ wurde von den momentan besten Leuten der Branche gestaltet, darunter Brian Azzarello („100 Bullets“), JG Jones („Wanted“) und J. Michael Straczynski („Babylon 5“), allen voran der großartige Darwyn Cooke (Westlakes „Parker“).

Die Reaktionen waren von Anfang heftig und reichten von kompletter Ignoranz bis zu wutschäumenden Lynchaufrufen. J.M. Straczynski, der ja selber viele schlimme Erfahrungen mit großen Konzerne hatte, fand: „Alan Moore hatte einen schlechten Vertrag unterschrieben. Na und? Da ist er nicht der Einzige.“ Der Journalist und Blogger Allen David Doane verglich alle Künstler, die an „Before Watchmen“ arbeiteten, mit Nazi-Kollaborateuren. Und Moore selber? Der alte Zauberer blieb erstaunlich zurückhaltend und verschickte auf Anfrage immer dasselbe Statement: Was Time Warner da machte, sei eben „komplett ohne Scham.“ Er wünsche Verlag und Autoren alles Gute.

Tut er natürlich nicht. Aber lohnt denn die ganze Aufregung? Der einzige Künster, der etwas halbwegs Lesbares zu den „Before Watchmen“ beigetragen hat, ist Darwyn Cooke. Seine „Minutemen“ schildern die Vorgeschichte der Watchmen, füllen allerdings wirklich nur die Lücken aus, die Moore gelassen hat. „Silk Spectre“, gezeichnet von der wunderbaren Amanda Connor, zeigt immerhin ein stimmungsvolles, wenn auch schlecht geplottetes Bild der 60er-Jahre-Frauenbewegung. Azzarello ist für seinen „Comedian“ nur eine wirre Geschichte um die Familie Kennedy eingefallen, „Rorschach“ dagegen ist eine düstere, ziemlich simple Rachestory geworden. J. Michael Straczynski hilft in seinem „Nite Owl“ nicht einmal die Zusammenarbeit mit den Zeichnern Andy und Joe Kubert; das ist einfach nur grässlich dumm geworden. Etwas besser geht „Doctor Manhattan“ – ebenfalls von JMS – über die Ziellinie. Auch „Ozymandias“ von Len Wein und Jae Lee rettet sich, indem man einfach Moore-Lücken füllt.

Bei der Superstar-Power, die DC rund um dieses Projekt versammelt hat, ist das mittelmäßige Ergebnis dann doch sehr enttäuschend. Wer etwa mitverfolgt hat, was Darwyn Cooke im Zuge seiner „Parker“-Adaptionen gemacht hat, wer Azzarellos Serie „100 Bullets“ verfolgt hat, der fragt sich schon, was diese tollen Künstler geschafft hätten, wenn sie eigene Geschichten erzählt und nicht das Werk eines anderen vergewaltigt hätten?

Doch die Strafe folgte auf dem Fuß, DC hatte die Rechnung ohne die Verbraucher gemacht: Die Tatsache, dass der Verlag seine Autoren auch nach Jahren noch schäbig und respektlos behandelte, quittierten die Leser mit der Taktik „einfach gar nicht ignorieren“. Selbst die Hauptserie und designierte Bestseller „Minutemen“ verlor im Lauf der Monate 60 Prozent seiner Vorbestellungen: ein Beweis dafür, dass DC den Erfolg von „Before Watchmen“ komplett falsch eingeschätzt hat. Für den Verlag und die amerikanischen Comichändler eine Katastrophe. Für die Gerechtigkeitsfanatiker unter uns der Beweis: Es gibt einen (Comic-)Gott! Und sein Name ist Alan Moore.