Vor wenigen Tagen starb mit Wolfgang J. Fuchs einer der beiden „Anatomen des Comics“, wie Martin Jurgeit Fuchs in einem Nachruf im Tagesspiegel nennt. Eingebracht hat ihm diesen Ehrentitel sein kenntnisreiches Buch „Comics. Anatomie eines Massenmediums“, das er zusammen mit Reinhold C. Reitberger 1971 im Heinz Moos Verlag veröffentlicht hat – ein verdienstvolles Buch, das die deutsche Comicforschung und Comicszene für Jahrzehnte – bis heute – beeinflusst. Heinz Moos (1920–1990) war bis zu seinem Tod geläufig als Verleger, der sich u. a. Themen widmet, „denen er den Nebengeschmack nehmen will, indem er ihnen seriöse Behandlung zukommen läßt“, wie man 1981 in einem Portrait in der Zeit lesen konnte. Bei ihm erschien auch unter dem Pseudonym Grobian Gans die donaldistische Monographie „Die Ducks – Psychogramm einer Sippe“ (1970).

Wolfgang J. Fuchs (1945-2020)
Foto: Comicfestival München / Wikipedia / CC BY-SA 4.0

© Heinz Moos Verlag
Es ist eine Stärke ihres Buches, dass es den Gegenstand nicht verklärt, sondern einen wissenschaftlichen Zugang sucht, die eigene Perspektive offenlegt, daraus aber nicht voreilig schon Schlüsse ableitet. „Ihre Trivialität ist Legitimation genug.“ Mit dieser lapidaren Feststellung beschließen Fuchs und Reitberger ihr Vorwort. Die Trivialität der Comics wird nicht verschwiegen, sie führt aber auch nicht zur deren Disqualifikation als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Im Gegenteil, gerade „der Rumpf, die Menge der trivialen Comic Books“ soll „in dieser Anatomie des Massenmediums Comics […] gezeigt und seziert werden.“ Fuchs und Reitberger partizipieren damit an einem seit den 1960er Jahren stetig wachsendem Interesse in den Geisteswissenschaften an ‚trivialen‘ Werken, die nicht mehr ignoriert oder als ästhetisch defekt abgewertet, sondern eingehend analysiert werden, um ihre Strukturen, Funktionen und Funktionsweisen zu erkennen. Eine Langzeitwirkung dieser Auseinandersetzung ist eine grundlegende Neubestimmung von ‚Literatur‘. Fuchs’ und Reitbergers Diagnose trifft 1970 auf den allergrößten Teil der Comics zu, insbesondere auf die amerikanischen, auf die sich die Autoren spezialisieren. Mit den Underground Comix von Frank Stack, Gilbert Shelton, Robert Crumb usw. war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anatomie erst seit wenigen Jahren eine Bewegung im Gange, die weite Kreise ziehen wird. Die „Comics, besonders die Comic Books“, so Fuchs und Reitberger, suchen in dieser Zeit „wie die amerikanische Gesellschaft nach neuen Werten und Inhalten“. 50 Jahre später jedenfalls sieht die Comiclandschaft deutlich anders aus, als sie sich Fuchs und Reitberger in den 1960ern darstellte. Das widerlegt nicht den Ausgangspunkt oder die Erkenntnisse des Buches, Fuchs und Reitberger haben sich schließlich nicht als Hellseher betätigt, verweist aber auf einen wichtigen Aspekt der Anatomie als Disziplin.

© Melzer Verlag
Während sich die (vergleichende) Anatomie nach Gegenbaur mit den Grundformen der Organismen befasse, also ihrem Wesen, sei der Gegenstand der Entwicklungsgeschichte deren historisches Werden. Fuchs und Reitberger betonen in ihrer Anatomie diesen entwicklungsgeschichtlichen Aspekt. Dieser Zuschnitt resultiert aus dem historischen Kontext der Bunderepublik der 1970er Jahre: Comics waren, wenige Lieblinge wie Asterix und Nick Knatterton ausgenommen, in weiten Teilen der Gesellschaft pauschal verschrien, Kenntnis der historischen Entwicklung oder gar der Medienästhetik des Comics gab es nur vereinzelt (es gibt sie bis heute nicht in der Breite). Zunächst musste daher der Gegenstand vorgestellt werden, bevor Detailanalysen einzelner Werke fruchtbar werden können. Fuchs und Reitberger breiten entsprechend ein Mosaik von „Rumpf“-Comics aus und diskutieren Entwicklungen und Phänomene aus mittlerer Distanz. Für die close readings einer vergleichenden Anatomie bleibt kein Platz und sie liegen auch nicht im Interesse der Autoren, die ein Medium als Ganzes in den Blick nehmen wollen, nicht einzelne Publikationen, Themen oder Ästhetiken. Umso mehr stellt sich bei ihrer Gesamtdarstellung die Frage danach, wie und was sie zur Aufnahme ausgewählt haben und warum? Welche Wirkung entfaltet ihre Auswahl in der späteren Forschung? Und unter Fans?
Mit Wolfgang J. Fuchs verliert die Comicforschung nicht ihren ersten frühen Protagonisten. Man denke an den Literaturwissenschaftler Alfred Clemens Baumgärtner (1928–2009) und den Kunsthistoriker Günter Metken (1928–2000). Erinnert sei auch noch einmal an Heinz Moos. Weitere werden unweigerlich folgen. Die erste Generation deutschsprachiger Comicforscherinnen und -forscher tritt sukzessive ab. Sie wird schmerzlich vermisst, denn mit ihr verschwindet ein Teil ihrer Expertise und, uneinholbar, ihre Aufbruchsstimmung (im doppelten Sinne des Wortes). Umso wichtiger ist es nun, ihre Analysen, Methoden, Erkenntnisse und Nachwirkungen selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen: um sie zu sichern, zu befragen und um eine Geschichte deutschsprachigen Comicforschung zukünftig zumindest skizzieren zu können. Nötig wird nun eine Anatomie der Anatomie(n), in der die Comicforschung nachzeichnet, woher sie kommt, um besser zu verstehen, wo sie steht.
Christian A. Bachmann, geboren 1982, hat vergleichende Literaturwissenschaft und Linguistik in Bochum studiert und wurde 2015 promoviert. Seit 2010 ist er als Wissenschaftsverleger mit dem Schwerpunkt Comicforschung tätig (www.christian-bachmann.de). Zurzeit arbeitet er außerdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Forschergruppe an den Universitäten Bochum, Köln und Marburg. Über Comics, Bildergeschichten und Karikaturen hat er mehrere Bücher geschrieben und herausgegeben. Unterrichtet hat er in Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.