Vor wenigen Tagen starb mit Wolfgang J. Fuchs einer der beiden „Anatomen des Comics“, wie Martin Jurgeit Fuchs in einem Nachruf im Tagesspiegel nennt. Eingebracht hat ihm diesen Ehrentitel sein kenntnisreiches Buch „Comics. Anatomie eines Massenmediums“, das er zusammen mit Reinhold C. Reitberger 1971 im Heinz Moos Verlag veröffentlicht hat – ein verdienstvolles Buch, das die deutsche Comicforschung und Comicszene für Jahrzehnte – bis heute – beeinflusst. Heinz Moos (1920–1990) war bis zu seinem Tod geläufig als Verleger, der sich u. a. Themen widmet, „denen er den Nebengeschmack nehmen will, indem er ihnen seriöse Behandlung zukommen läßt“, wie man 1981 in einem Portrait in der Zeit lesen konnte. Bei ihm erschien auch unter dem Pseudonym Grobian Gans die donaldistische Monographie „Die Ducks – Psychogramm einer Sippe“ (1970).
Erstmals, so Jurgeit, haben Fuchs und Reitberger in der „Anatomie eines Massenmediums“ „eine wirklich wertneutrale Sicht auf den Comic als eigenständige Kunstform vorgelegt“. Fuchs’ und Reitbergers Leistung besteht darin, wertneutral zu sein, ohne dabei neutral zu bleiben. Die ersten Sätze ihres Vorworts machen dies deutlich: „Die Comics haben ihre Unschuld verloren, denn man ist ihren Geheimnissen auf die Spur gekommen. Als Untersuchungsobjekt endlich erkannt und seziert, ist ihr Part im Orchester der Massenmedien definiert. Man hat den Schleier gelüftet, der ihren Warencharakter verdeckte, der verbarg, daß sie systemperpetuierendes ‚big business‘ sind. Wie den Gleißnern von Hollywood ist endlich auch den Verführern von der Madison Avenue, dem Sitz der Werbe-, Magazin- und Comicsbranche, die Maske vom Gesicht gerissen. Die Schöpfer der Comics sind nicht länger die väterlichen Freunde ihrer jugendlichen Leser. Ihre ruchlosen Motive sind Geld- und Profitgier“, ironisieren Fuchs und Reitberger. Fraglos ist der Ton dieser Eröffnung überzogen: In der weiteren Argumentation wird er so nicht fortgeführt. „Natürlich ist ein großer Teil der Comic Books ohne jedes Niveau. Aber gerade die ‚schlechten‘ Comics sind vom sozialpsychologischen Standpunkt her am interessantesten.“ Es offenbart sich hier durchaus ein Standort, der gerade nicht vorgibt, neutral zu sein, sondern vielmehr Comics angemessen als Produkte einer Medienindustrie erfasst, die nach bestimmten Regel operiert, um Konsum zu stimulieren und Umsatz zu generieren. Fuchs und Reitberger verschließen sich nicht (den von Grobian Gans satirisch behandelten) Positionen marxistischer Theoriebildung wie der Ideologie- und Kapitalismuskritik der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer oder Wolfgang F. Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (die im selben Jahr im Druck erscheint wie die „Anatomie des Comics“). Während Dagmar von Doetinchem und Klaus Hartung noch drei Jahre nach dem Erscheinen der Anatomie aufgrund allzu einseitiger (hier marxistischer) Perspektivierung zu einem (!) vernichtenden Urteil über Comics kommen (vgl. „Zum Thema Gewalt in Superhelden-Comics“. Berlin 1974), bieten Fuchs und Reitberger eine differenzierte Betrachtung an. Schon 1971 stellen sie (zumindest nebenbei) Überlegungen zum Frauenbild im amerikanischen Superheldencomic an, wenn sie auch nicht den Platz für eingehende Analysen haben. Selbst mit Fragen des Rassismus und der Repräsentation befassen sie sich, wenn ihre Argumentation heute auch aus der Zeit gefallen wirkt: „Da neben der differenzierteren Weltschau und den vielschichtigeren Helden vor allem die gesellschaftlichen Orientierungspunkte den Comics [in den 1960er Jahren; Anm. CAB] neue Leser verschaffen sollten, war eine der wichtigsten Änderungen eine neue Einstellung zu den Negern. Nicht, daß man sie früher nie oder nur in stereotypen Rollen dargestellt hätte. Will Eisner versuchte schon in den Vierzigern Gestalten wie den Neger Ebony in seine Comics einzubeziehen und es gab in den Fünfzigern sogar einen Liebescomic für Neger. Beiden blieb der Erfolg versagt, weil man zu jener Zeit Neger noch als dunkelhäutige Weiße integrieren wollte. Deshalb konnten sich in jener Zeit Neger und andere ethnische Minoritäten nur mit weißen Vorbildern identifizieren.“ Es wäre freilich müßig, Fuchs und Reitberger ihren Sprachgebrauch vorzuwerfen, der den Gepflogenheiten der Zeit entspricht. Forschung ist schließlich prozessual, gelangt nur zu vorläufigen Ergebnissen, die in der Sprache ihrer Zeit dargelegt werden – und in der Folge überprüft, präzisiert oder korrigiert werden muss.Es ist eine Stärke ihres Buches, dass es den Gegenstand nicht verklärt, sondern einen wissenschaftlichen Zugang sucht, die eigene Perspektive offenlegt, daraus aber nicht voreilig schon Schlüsse ableitet. „Ihre Trivialität ist Legitimation genug.“ Mit dieser lapidaren Feststellung beschließen Fuchs und Reitberger ihr Vorwort. Die Trivialität der Comics wird nicht verschwiegen, sie führt aber auch nicht zur deren Disqualifikation als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Im Gegenteil, gerade „der Rumpf, die Menge der trivialen Comic Books“ soll „in dieser Anatomie des Massenmediums Comics […] gezeigt und seziert werden.“ Fuchs und Reitberger partizipieren damit an einem seit den 1960er Jahren stetig wachsendem Interesse in den Geisteswissenschaften an ‚trivialen‘ Werken, die nicht mehr ignoriert oder als ästhetisch defekt abgewertet, sondern eingehend analysiert werden, um ihre Strukturen, Funktionen und Funktionsweisen zu erkennen. Eine Langzeitwirkung dieser Auseinandersetzung ist eine grundlegende Neubestimmung von ‚Literatur‘. Fuchs’ und Reitbergers Diagnose trifft 1970 auf den allergrößten Teil der Comics zu, insbesondere auf die amerikanischen, auf die sich die Autoren spezialisieren. Mit den Underground Comix von Frank Stack, Gilbert Shelton, Robert Crumb usw. war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anatomie erst seit wenigen Jahren eine Bewegung im Gange, die weite Kreise ziehen wird. Die „Comics, besonders die Comic Books“, so Fuchs und Reitberger, suchen in dieser Zeit „wie die amerikanische Gesellschaft nach neuen Werten und Inhalten“. 50 Jahre später jedenfalls sieht die Comiclandschaft deutlich anders aus, als sie sich Fuchs und Reitberger in den 1960ern darstellte. Das widerlegt nicht den Ausgangspunkt oder die Erkenntnisse des Buches, Fuchs und Reitberger haben sich schließlich nicht als Hellseher betätigt, verweist aber auf einen wichtigen Aspekt der Anatomie als Disziplin.
Die Anatomie ist die Wissenschaft des ‚Aufschneidens‘ und Zergliederns von Körpern zum Zweck der Erforschung und Beschreibung ihrer Struktur und Organisation. Indem man vorgefundene Körper zerlegt, versucht man ihren Aufbau sukzessive zu beschreiben und zu verstehen. Dabei geht es nicht um einzelne Körper, sondern um Körper-übergreifende Erkenntnisse. Carl Gegenbaur (1826–1903) definiert sie seinem „Grundriss der vergleichenden Anatomie“ von 1874 als Teilbereich der Morphologie und unterscheidet sie von der Entwicklungsgeschichte. Die Aufgabe der Anatomie liegt Gegenbaur zufolge „in der Erforschung und Erklärung des in der Entwicklung abgeschlossenen Baues des Thierleibs“. Zu diesem „verhält sich die Anatomie nur beschreibend, indem sie die Befunde der Untersuchung schildert, ohne aus denselben weitere Schlüsse zu ziehen. Die anatomische Thatsache ist Zweck der Untersuchung, die Anatomie verhält sich rein empirisch.“ Dem stellt Gegenbaur die vergleichende Anatomie gegenüber: „Anders gestaltet sich die Anatomie, sobald ihr die Kenntniss von Thatsachen nur Mittel ist, die aus einer Summe solcher Kenntnisse erschlossene Erkenntniss dagegen der Zweck. Indem sie die Thatsachen der Einzelerscheinungen untereinander vergleicht, leitet sie daraus wissenschaftliche Erfahrung ab und gestaltet das auf dem Wege der Induction Gefolgerte zu deductiven Schlüssen.“ Die vergleichende Anatomie löst sich damit von der positivistischen Empirie, dem reinen Sammeln von Fakten, um stattdessen aus diesen Fakten Schlüsse zu ziehen. Diesem Paradigma folgen (mit anderen Methoden) auch die modernen Geisteswissenschaften, wenn sie Texte aller Art analysieren, vergleichen und ordnen. Nicht zufällig erscheint der Begriff öfters in Buchtiteln.Während sich die (vergleichende) Anatomie nach Gegenbaur mit den Grundformen der Organismen befasse, also ihrem Wesen, sei der Gegenstand der Entwicklungsgeschichte deren historisches Werden. Fuchs und Reitberger betonen in ihrer Anatomie diesen entwicklungsgeschichtlichen Aspekt. Dieser Zuschnitt resultiert aus dem historischen Kontext der Bunderepublik der 1970er Jahre: Comics waren, wenige Lieblinge wie Asterix und Nick Knatterton ausgenommen, in weiten Teilen der Gesellschaft pauschal verschrien, Kenntnis der historischen Entwicklung oder gar der Medienästhetik des Comics gab es nur vereinzelt (es gibt sie bis heute nicht in der Breite). Zunächst musste daher der Gegenstand vorgestellt werden, bevor Detailanalysen einzelner Werke fruchtbar werden können. Fuchs und Reitberger breiten entsprechend ein Mosaik von „Rumpf“-Comics aus und diskutieren Entwicklungen und Phänomene aus mittlerer Distanz. Für die close readings einer vergleichenden Anatomie bleibt kein Platz und sie liegen auch nicht im Interesse der Autoren, die ein Medium als Ganzes in den Blick nehmen wollen, nicht einzelne Publikationen, Themen oder Ästhetiken. Umso mehr stellt sich bei ihrer Gesamtdarstellung die Frage danach, wie und was sie zur Aufnahme ausgewählt haben und warum? Welche Wirkung entfaltet ihre Auswahl in der späteren Forschung? Und unter Fans?
Mit Wolfgang J. Fuchs verliert die Comicforschung nicht ihren ersten frühen Protagonisten. Man denke an den Literaturwissenschaftler Alfred Clemens Baumgärtner (1928–2009) und den Kunsthistoriker Günter Metken (1928–2000). Erinnert sei auch noch einmal an Heinz Moos. Weitere werden unweigerlich folgen. Die erste Generation deutschsprachiger Comicforscherinnen und -forscher tritt sukzessive ab. Sie wird schmerzlich vermisst, denn mit ihr verschwindet ein Teil ihrer Expertise und, uneinholbar, ihre Aufbruchsstimmung (im doppelten Sinne des Wortes). Umso wichtiger ist es nun, ihre Analysen, Methoden, Erkenntnisse und Nachwirkungen selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen: um sie zu sichern, zu befragen und um eine Geschichte deutschsprachigen Comicforschung zukünftig zumindest skizzieren zu können. Nötig wird nun eine Anatomie der Anatomie(n), in der die Comicforschung nachzeichnet, woher sie kommt, um besser zu verstehen, wo sie steht.
Christian A. Bachmann, geboren 1982, hat vergleichende Literaturwissenschaft und Linguistik in Bochum studiert und wurde 2015 promoviert. Seit 2010 ist er als Wissenschaftsverleger mit dem Schwerpunkt Comicforschung tätig (www.christian-bachmann.de). Zurzeit arbeitet er außerdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Forschergruppe an den Universitäten Bochum, Köln und Marburg. Über Comics, Bildergeschichten und Karikaturen hat er mehrere Bücher geschrieben und herausgegeben. Unterrichtet hat er in Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.