Erich Schmitts Weltraumabenteuer

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„Himmel, Kometenschweif und Sternenhaufen! Tim, hole mir meinen Hut aus dem Koffer im Lagerraum!“ (1) – so flucht mit über den Kopf erhobenen Händen, nein, nicht Hergés Kapitän Haddock, sondern Erich Schmitts Alter Ego Karl Gabel. Schmitt gilt als einer der bekanntesten Karikaturisten der Deutschen Demokratischen Republik. Der hier wiedergegebene Wutanfall stammt aus der zweiten Weltraumexpedition der beiden. „Aloa, der 5. Planet“ erscheint in 32 Episoden vom 25. März 1973 bis zum 6. Januar 1974 in der Berliner Zeitung als Fortsetzung von „Karl Gabels Weltraumabenteuern“, die zuerst 1956 in der Wochenpost erscheinen und 1967/68 überarbeitet von der Berliner Zeitung nachgedruckt werden. (2) Schmitt schickt Karl Gabel hier zusammen mit seinem siebzehnjährigen Neffen Tim und den Goldhamstern Herbert und Gertrud auf eine Hanswurstiade im Weltraum, während derer die beiden zusammen mit dem Roboter Robert und anderen Mitstreitern die fortschrittliche Zivilisation der Aloaner vor dem Untergang bewahrt.

Abb. 1

Elisabeth Schaber hat dargestellt, wie sich Johannes Hegenbarth und sein MOSAIK-Team für die Bilderwelt der von 1958 bis 1962 veröffentlichte Weltraum-Serie von populärwissenschaftlichen Werken der Zeit haben anregen lassen. (3) Auf dieselben Quellen scheint bereits zwei Jahre zuvor Erich Schmitt zurückzugreifen. So verweist schon die Raumstation, von der Karl Gabel auf sein erstes Abenteuer aufbricht (S. 399; Abb. 1), unverhohlen auf Wernher von Brauns einflussreichen Entwurf einer ringförmigen Orbitalstation mit zentraler Kugel und dazwischenliegenden Verbindungsschächten, den Chesley Bonestell 1952 für Collier’s Weekly zeichnet (Abb. 2).

Auch die Rakete, mit der Gabel sie erreicht (S. 400), ähnelt auffällig von Brauns Vorstellung. Das später bestiegene Raumschiff ist von Brauns zumindest nicht unähnlich – das gilt insbesondere für die Querschnittszeichnung, die Schmitt später für „Aloa, der 5. Planet“ zeichnet (S. 440; Abb. 3) (4). In der Gestaltung der Raumstation Jupiter, die in dieser Fortsetzung vorkommt, mag man eine schelmische Anspielung auf das Raumschiff Enterprise der seit 1972 vom – auch in der DDR zu empfangenden – ZDF ausgestrahlten einschlägige Serie erkennen (S. 457; Abb. 4). Blicke auf den Planeten Erde via Computerbildschirm gehören zu den gängigen Topoi von Science-Fiction-Comics, sie finden sich bei Schmitt (S. 457) ebenso wie im MOSAIK (Nr. 25).

Abb. 2

Ohnehin ist Schmitts Comic Anspielungsreich, besonders in den späteren Fortsetzungen kommen immer wieder Anspielungen auf Schmitts eigene Werke hinzu, auf Schwester Monika, den Berliner Tierpark, die Arche Noah usw. Formal orientiert sich Schmitt bei den Comics an Manfred Schmidts parodistische Detektivserie „Nick Knatterton“, die seit 1950 (und bis 1959) in der Quick läuft. Vor allem die zahlreichen Erzählerkommentare, für die Knatterton berühmt ist, nimmt Schmitt auf.

Der eingangs zitierte Wutausbruch lässt vermuten, dass Schmitt auch Hergés Comics geläufig waren. Immerhin lässt Schmitt nicht nur Gabel in der von Haddock bekannten Manier schimpfen; der Auslöser für die Tirade sind zwei identisch aussehende Figuren – Akola und Bekola –, die Gabel mit dem von Tim zu besorgenden Hut – einer Melone – im Folgenden erfolglos auseinanderzuhalten versucht. Kein Schelm, wer hier an die Herren Schulze und Schultze denkt. Hergé schickt die Schul(t)zes zusammen mit Tim, Struppi, Kapitän Haddock und Professor Bienlein schon zwischen Oktober 1952 und Dezember 1953 auf eine Reise in den Weltraum, wenn ihr Ziel auch etwas bescheidener ist als die von Schmitts Held. Auf dem Weg zum Mond und ebenda erleben die Freunde Abenteuer, die mit gängigen Topoi angereichert sind, die zum Teil bereits bei Jules Verne angelegt sind: Besichtigung der Rakete im Weltraumhafen, Erd- und Mond-Ansichten aus dem Raketen-Bullauge, Blicke auf kompliziert anmutende Instrumente, Spezialbetten für die Beschleunigungsphase, ein Weltraumspaziergang, Flugmanöver, Fahrten durch die fremde Landschaft, Höhlenexpeditionen, blinde Passagiere, sichere Heimkehr der gefeierten Helden…

Abb. 3

Beim Karikaturisten Schmitt trägt all das komödiantischere Züge als bei dem ligne-claire-Realisten Hergé, gleichwohl ist Schmitts Geschichte physikalisch und technologisch auf der Höhe der Zeit. Schmitts ambitionierteres Reiseziel Proxima Centauri – der unserer Sonne am nächsten liegende Stern, ein roter Zwerg, von dem uns lediglich rund vier Lichtjahre trennen – bietet Anlass für allerhand phantastischen Schabernack. So führt er nicht nur menschenähnliche Sonnenkultisten ein, die an Hergés Geschichte um Rascar Capac erinnern (Die sieben Kristallkugeln/Der Sonnentempel, zuerst 1943–1948), auch Dinosaurier, Bibermenschen, Amazonen und Zentauren (wo sonst sollten sie leben, wenn nicht hier) bevölkern den Planeten X.

Es sind solche Ähnlichkeiten und Differenzen, die eine vergleichende Lektüre von Schmitts Gabel-Geschichten mit den Tim-und-Struppi-Comics nahelegen. Nicht nur der Klamauk in Schmitts Comic hebt ihn von Hergés ab, bemerkenswert ist auch die politische Dimension der Gabel-Comics. Schmitt war ein beliebter und präsenter Karikaturist in der DDR, es verwundert daher nicht, dass seine Veröffentlichungen linientreu waren, wo sie sich nicht, wie in den meisten Fällen, von politischen Themen fernhielten und auf Süffisanz und (einseitig auf die Darstellung weiblicher Körper ausgerichtete) harmlos lüsterne Erotik setzten.

Abb. 4

Karl Gabel lässt er bei seiner Rückkehr zum von ihm Aloa getauften Planeten X nicht nur die heimischen Sonnenanbeter, Amazonen und Bibermenschen befreien, er bringt ihnen auch gleich in bester kolonialistischer Manier das Feuer (bzw. kernkrafterzeugter Elektrizität). Dies jedoch nicht zur kapitalistischen Neuordnung des „rückständigen“ Planeten, sondern zur Utopie einer sozialistischen Gesellschaft: „Neben den Robotern für schwere Arbeiten müssen wir Spezialisten ausbilden, die man aber versorgen muß. Da sie keine Lebensmittel mehr erzeugen, muß die Landwirtschaft genossenschaftlich organisiert werden!“ (S. 474) – „Auf dem Lande begannen sich Produktionsgenossenschaften zu bilden. Dort wurden auch die Zentauren aufgenommen. Die Tatsache, daß sie Vegetarier waren, begünstigte ihren Einsatz in der Landwirtschaft.“ (S. 476; Abb. oben) Da die Bibermenschen „Angst vor erneuter Versklavung“ (S. 475) haben, nähert sich Gabel ihnen als „alte[r] Freund“ und baut auch zu ihnen eine kooperative Beziehung auf. Man vergleiche das mit der durchweg entwürdigenden Darstellung der Bevölkerung Belgisch-Kongos in der zu Recht vielfach kritisierten Geschichte „Tim in Afrika“ (zuerst 1930–1931). „Oh du schöner Tschibowald, König ist der Weiße bald, vor dem machen alle Pfeile halt“ (S. 32), singen Stammeskrieger dort über Tim, nachdem dieser mittels eines Elektromagneten dutzende auf ihn abgefeuerte Geschosse in einen Baumstamm umlenkt, um die Kongolesen durch „Zauberei“ dazu zu bewegen, sich ihm freiwillig zu unterwerfen. Tim selbst erschießt demgegenüber aus bloßer Idiotie ohne Not und ohne Reue eine ganze Antilopenherde (S. 17f.) – eine unfreiwillig symbolisch zu verstehende Darstellung der skrupellosen Ausplünderung Afrikas durch Europäer.

Erich Schmitts Karikaturen und Bildhumoresken kommen im Jahr 2020 zahnlos und altbacken daher. Sowohl künstlerisch als auch hinsichtlich der Themen hat die DDR bessere Karikaturist_innen hervorgebracht, u. a. Karl Schrader. Dennoch ist die Lektüre von Schmitts Weltraumabenteuern auch heute noch zuweilen unterhaltsam, sicher aber erhellend – insbesondere im Vergleich mit der marktwirtschaftlichen Konkurrenz.

Anmerkungen:
1) Erich Schmitt: Das dicke Schmitt-Buch. Berlin: Eulenspiegel Verlag. 10. Auflage. 1998. S. 465
2) Vgl. Guido Weißhahns Veröffentlichungshinweise unter: http://www.ddr-comics.de/gabel.htm
3) Elisabeth Schaber: Reise in eine Zukunft voller Vergangenheiten. Weltraumeroberung und Raumfahrtgeschichte im DDR-Comic Mosaik von Hannes Hegen. In: Tanja Zimmermann (Hg.): Mythos und Geschichte in Comics und Graphic Novels. Berlin 2019, S. 123–141. Siehe hierzu auch die umfangreiche Sammlung von Uwe Zierott, auf die Schaber zurückgreift: https://www.mosafilm.de/reni/quellen/index.html
4) S. z. B. bei Zierott: https://www.mosafilm.de/CF/heftbesprechung/colliers/colliers.html

Christian A. Bachmann, geboren 1982, hat vergleichende Literaturwissenschaft und Linguistik in Bochum studiert und wurde 2015 promoviert. Seit 2010 ist er als Wissenschaftsverleger mit dem Schwerpunkt Comicforschung tätig (www.christian-bachmann.de). Zurzeit arbeitet er außerdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Forschergruppe an den Universitäten Bochum, Köln und Marburg. Über Comics, Bildergeschichten und Karikaturen hat er mehrere Bücher geschrieben und herausgegeben. Unterrichtet hat er in Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.