Frustriert von kurvenreichen Pappfiguren

Eine Seite aus Claire Bretéchers "Agrippina: Fix und fertig" (Reprodukt)

„Also weißt du, für mich habe ich das Eigentum abgeschafft… Unglaublich, wie mein Leben sich vereinfacht hat, seit ich kein Auto mehr habe…“, erklärt ein rauchender Mann in Claire Bretéchers Comic-Strip „Boheme“. „Und wie bist du hierhergekommen?“, fragt sein Gegenüber. „Mit einem Dienstwagen. Von der Firma. Wenn es nach mir ginge, würde ich überhaupt nur Taxi fahren. Mir liegt gar nichts an Besitz.“ Der Strip aus der Anfangsphase von „Die Frustrierten“ Mitte der Siebziger, der erfolgreichsten Comic-Reihe der 1940 in Nantes geborenen Zeichnerin, fasst Bretéchers gnadenlosen Blick auf das eigene intellektuelle urbane Boheme-Milieu perfekt zusammen. Selbstgerechte Pariser Linke, die ihren materiellen Wohlstand, ihren Sexismus und die eigene Bürgerlichkeit nicht hinterfragen wollen und sich dennoch auf der richtigen Seite wähnen. Sie sei die „Soziologin des Jahres“ hat Roland Barthes 1976 über Bretécher gesagt, die mit genauem Blick gesellschaftliche Milieus beschreibt und linke Debatten abbildet.

Seite aus „Agrippina: Allergien“ (Reprodukt)

Der Weg zu dieser Aufmerksamkeit war für Bretécher, als eine der wenigen Frauen in der Comicwelt, sehr beschwerlich. Als sie 1963 mit einer Zusammenarbeit mit dem Asterix-Erfinder René Goscinny ihre Karriere begann, hatte sie noch allein mit Bretécher signiert, um nicht als Frau identifiziert zu werden, und so die Möglichkeit zu haben, in der Männerwelt des Comics überhaupt wahrgenommen zu werden. Wahrgenommen wurde sie und sie zeichnete 1965 und 1966 für das wichtige belgische Comic-Magazin „Tintin“, 1969 folgte im von Goscinny herausgegebenen französischen Jugend-Magazin „Pilote“ mit „Cellulite“ ihre erste eigene Geschichte um eine frustrierte Prinzessin, die sich auf der Suche nach ihrem Traumprinzen befindet, sich aber zunehmend fragt, warum dies eigentlich ihr Lebensziel sein sollte. Der Ansatz, das eigene Milieu und die damit verbundenen Erwartungen zu hinterfragen, steckt schon in diesem Frühwerk, später wird Bretécher lediglich ein zeitgenössischeres Setting für ihre Gesellschaftskritik wählen.

1972 erfolgt der Bruch mit „Pilote“ und Goscinny. Der Chefredakteur hatte einen Strip der Reihe „Le Concombre masqué“ des Zeichners Nikita Mandryka abgelehnt, woraufhin er gemeinsam mit Bretécher und Marcel Gotlib das Magazin verließ. Gemeinsam gründeten sie den Verlag „Éditions du Fromage“ und die Zeitschrift „L’Echo des Savanes“. Das Magazin richtete sich nicht an Kinder und Jugendliche wie noch „Pilote“, sondern hatte erwachsene Leser vor Augen. Stilistisch orientierten sie sich am amerikansichen Underground, der in dieser Zeit nach Europa schwappte und den klassischen europäischen Stil der Ligne Claire á la „Tim und Struppi“ durcheinanderbrachte. Die satirischen Comics, die sich über die Sehnsüchte und Ängste der bürgerlichen Gesellschaft lustig machten, fanden schnell zahlreiche Leser, die Auflage stieg auf über 100.000 Exemplare.

Seite aus „Agrippina: Fix und fertig“ (Reprodukt)

Bretécher hatte mittlerweile ihren eigenen Stil entwickelt, der an europäischen Karikaturen geschult und sehr textlastig war, und mit dieser eigenen Stimme in der Comiclandschaft erhielt sie 1973 die Möglichkeit, für die Wochenzeitung „Nouvel Observateur“ ihre Reihe „Die Frustrierten“ zu entwickeln, die bis weit in die Achtziger erschien, in zahlreiche Sprachen übersetzt und 1982 mit dem Grand Prix des wichtigen Comicfestivals in Angoulême geehrt wurde. Auch in Deutschland wurde Bretécher nun zu einer wichtigen Stimme des feministischen Comics, zu einem Role Model für junge Zeichnerinnen und Zeichner wie Franziska Becker, Marie Marcks oder Ralf König. Die zwischen Selbstzweifel und Selbstgerechtigkeit pendelnden Protagonisten in „Die Frustrierten“ waren auch anschlussfähig für das deutsche Post-68er-Milieu.

Auch für ihre letzte große Reihe „Agrippina“ um einen Teenager und deren Alltagsstress, die zwischen 1988 und 2009 erschien, erfand sie noch einmal eine neue Sprache. Während sich die Charaktere in „Die Frustrierten“ meist in Selbstgesprächen ergingen, ihnen weniger am Austausch mit dem Gegenüber gelegen war, als vielmehr daran, die eigene Weltsicht zu verbreiten, muss sich Agrippina gezwungenermaßen mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, mit jener Generation nämlich, zu der auch die Zeichnerin selbst gehörte. Die Reihe lebt von den Konflikten zwischen den Generationen und ihren Kommunikationsschwierigkeiten.

2016 wurde Bretécher beim Comic-Salon Erlangen als erste Frau mit dem Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk ausgezeichnet, in der Laudatio sagte Brigitte Helbling: „Sie war eine Frau, die sich in einer Männerwelt behauptete. Ab den ‚Frustrierten‘ bestimmt der weibliche Blick ihre gezeichneten Lebenswelten. Wie ungewöhnlich das war in einer Zeit, in der Frauen im Comic vor allem als kurvenreiche Pappfiguren auftraten! Wie normal das heute geworden ist!“ In der Tat hat Bretécher mit ihrem Witz und ihrem klaren Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse als wichtiges Role Model für Zeichnerinnen gedient, einer Normalität von Frauen in der Comicwelt, von der Helbling spricht, den Weg bereitet. Die ehemalige „Charlie Hebdo“-Zeichnerin Catherine Meurisse sagt über sie: „Sie ist mein Vorbild und wird es für immer sein.“ Am Dienstag ist das Vorbild Claire Bretécher im Alter von 79 Jahren gestorben.

Dieser Text erschien zuerst am 13.02.2020 in: Neues Deutschland

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

Seite aus „Agrippina: Allergien“ (Reprodukt)