Die Zeit steht still – „Geisel“

Nicht wahr? Wer Ungewöhnliches erlebt, hat mehr vom Leben. Häufig ist das so. Es gibt allerdings Erfahrungen, von denen man besser nur hört oder liest. Guy Delisles Graphic Novel heißt auf deutsch denn auch schlicht wie etwas, das man unter keinen Umständen jemals sein möchte: „Geisel“.

In diesem über 400 Seiten dicken Ziegelstein von einem Buch erzählt und zeichnet der mit melancholisch-skurrilen autobiografischen Reiseberichten über Jerusalem, Birma oder Pjöngjang berühmt gewordene 51jährige Kanadier ausnahmsweise nicht seine Geschichte, sondern die eines Bekannten. Christophe André heißt dieser 1997 im Kaukasus von tschetschenischen Separatisten verschleppte Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“. Von 2000 an führte der in Frankreich lebende Comickünstler Gespräche mit ihm. Er sei überrascht gewesen von der Offenheit, mit der Christophe über seine Erfahrungen sprach, erzählt Delisle in einem Interview. Diese Offenheit habe mit seiner geglückten Flucht zu tun, mit der wiedererlangten Handlungsmacht, laut Christophe die beste Therapie.

Guy Delisle (Autor und Zeichner): „Geisel“.
Aus dem Französischen von Heike Drescher. Reprodukt, Berlin 2017. 432 Seiten. 29 Euro

Der für Delisle typisch leichte Zugriff auf gar nicht leichte (politische) Themen fehlt in dieser Arbeit. Was vermutlich daran liegt, dass man von eigenen leidvollen Erfahrungen, und seien sie noch so schlimm, durchaus komisch erzählen darf, über die anderer aber nicht. Zum Schmunzeln ist also nichts an dieser mit minimalistisch-skizzenhaftem Strich und sehr viel Leere im trist-grauen Panel-Hintergrund minutiös auf- und ausgearbeiteten Geschichte einer Entführung und der darauf folgenden 111 endlos anmutende Tage und Nächte in Gefangenschaft.

Dass „Geisel“ trotzdem nicht allzu sehr bedrückt, liegt nicht allein an ihrem glücklichen Ausgang – der Originaltitel lautet „S’enfuir“ (Entkommen) –, sondern auch an der geistigen Überlebenskunst des Protagonisten: Christophe antizipiert die Flucht vor der echten Flucht oder stellt in Gedanken napoleonische Schlachten nach. Er tut, was er kann, um sich die Zeit zu vertreiben, träumt sich mal hierhin, mal dorthin. Die Entführer selbst tragen Spuren eines an Entbehrungen und sonstigen Härten nicht gerade armen Lebens. Besonders beängstigend wirken sie nicht, auch nicht auf Christophe, den sie nüchtern als potentielle Geldquelle betrachten, derweil er ihre Anwesenheit regelrecht herbeisehnt. Und wie auch nicht? Schließlich liegt er die meiste Zeit, das heißt sehr, sehr viele Bilder lang, bärtig-verzottelt auf einer alten Matratze, die linke Hand mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt, in denkbar unbequemer Haltung einsam da.

Mit ihrer nervenzerrenden Ereignislosigkeit und einander stark ähnelnden, statisch stillstehenden Panels, in denen die Zeit wie festgefroren wirkt, spiegelt „Geisel“ Christophes Erfahrungen: Warten, ausharren, hoffen, träumen, stumpf daliegen, nicht mehr hoffen, Angst haben, Pläne schmieden und verwerfen, daliegen, in die Leere starren, nachdenken, warten. Stunden, Tage, Nächte verschmelzen miteinander. Die Zeit dehnt und dehnt sich und wird darüber zu einem seltsam diffusen schweren Klumpen. So fühlt es sich an für Christophe, und beim Leser kommt verblüffend viel von diesem Gefühl an.

Nicht die in „Geisel“ erzählte Geschichte ist außerordentlich spannend. Das kann und soll sie gar nicht sein. Ausgesprochen spannend ist, was sie mit einem macht: Sie erweitert den Erfahrungshorizont. Für einen Comic ist das eine Menge.

Diese Kritik erschien zuerst am 28.09.2017 in: Junge Welt

Michael Saager ist Publizist und Redakteur. Zahlreiche kulturjournalistische Texte u. a. in KONKRET, Jungle World, Taz, ND, Fluter, WOZ und Intro.

Seite aus „Geisel“ (Reprodukt)